Arzneimittel und Therapie

"""Vogelgrippe": Tödliche Bedrohung durch Influenza-Viren

Ende Dezember 1997/Anfang Januar 1998 hat ein bislang unbekanntes Grippevirus weltweit für Alarmstimmung gesorgt. Innerhalb weniger Wochen erkrankten in Hongkong 18 Menschen an der sogannten Hühnergrippe, sechs von ihnen starben. Das Virus mit der wissenschaftlichen Bezeichnung H5N1 Typ A war bis dato zwar in Geflügel, aber noch nicht bei einem Menschen entdeckt worden (s. auch DAZ 1/2/98, S. 26).

Um eine Ausbreitung in der Bevölkerung der Millionenstadt zu verhindern, entschloß sich die Gesundheitsverwaltung zu einem bislang einmaligen Akt in der Geschichte der Seuchenmedizin: Alle in Hongkong und Umgebung lebenden Hühner, Enten und Gänse, insgesamt 1,3 Millionen Tiere, wurden getötet und Tierkörperbeseitigungsanstalten zugeführt. Seitdem sind keine neuen Fälle von H5N1-Influenza-Virus-Infektion aufgetreten. Doch ist damit die Gefahr einer neuen weltumspannenden Grippeepidemie endgültig gebannt?

Alle 20 bis 30 Jahre treten besonders gefährliche Influenza-Viren auf Besonders gefährliche Influenza-Viren, die sich in einer globalen Infektionswelle innerhalb weniger Monate über alle Kontinente ausbreiten, treten alle 20 bis 30 Jahre auf. Die letzte große Influenza-Epidemie, nach ihrem Ursprung als Hongkong-Grippe bezeichnet, wütete in den Wintern 1968/69 und 1969/70. Mehr als 700000 Menschen, vorwiegend ältere Leute, bezahlten die Infektion mit dem Leben. Nach beinahe 30 Jahren Pause, so fürchten die Experten, ist die nächste große Infektionswelle überfällig. Insofern paßt das plötzliche Auftauchen einer neuen Abart des Influenza-A-Virus in das bekannte epidemiologische Muster.

Antigendrift und Antigenshift Ähnlich anderen Viren kann das Influenza-Virus Eiweißstrukturen auf seiner Zelloberfläche so verändern, daß äußerst aggressive Mutanten entstehen, sogenannte Serotypen mit hoher Virulenz. Wenn sich ein Grippevirus ein neues "Makeup" zulegt, sind die Folgen häufig fatal, denn das Immunsystem des Menschen ist bei einer Invasion hochvirulenter Erreger schnell überfordert. Die Antikörper, die bei früheren Kontakten mit Influenza-Viren gebildet wurden, sind wirkungslos, und bis neue virusneutralisierende Antikörper gebildet werden, ist der Körper bereits mit Milliarden von Viruskopien überschwemmt. Bislang sind im wesentlichen zwei Prinzipien bekannt, durch die sich das "immunologische Gesicht" der Grippeviren wandeln kann: die Antigendrift und die Antigenshift. Bei der Antigendrift ändern sich Schlüsselmoleküle nach und nach in winzigen Schritten. So hat sich beispielsweise das gefährliche Hongkong-Grippevirus von 1968 im Laufe der Jahre so verändert, daß Menschen, die damals erkrankten und die Infektion überlebten, bei einem erneuten Kontakt mit dem Virus wieder erkranken würden. Bei der Antigenshift werden dagegen wichtige Oberflächenantigene en bloc ausgetauscht. Die Veränderung ist so gravierend, daß es sich aus dem Blickwinkel des Immunsystems um einen völlig neuen Krankheitserreger handelt. Ein derart neuer Virustyp entsteht durch die "Kreuzung" mehrerer Arten, die zufällig gleichzeitig einen Organismus befallen haben. Dabei stammt das eine Virus aus einer Familie, die sie sich üblicherweise in Geflügel vermehrt, und das andere aus einer Gruppe, die für eine Infektion des Menschen charakteristisch ist. Allerdings ist das Hausschwein für beide Virustypen gleichermaßen empfänglich und kann so einen idealen "Nährboden" für die Entstehung einer neuen "Virusrasse" bilden. Da in Ostasien häufig Menschen, Geflügel und Schweine, wenn auch nicht unter einem Dach, so doch auf engsten Raum miteinander leben, wird verständlich, warum neue Influenza-Virustypen häufig ihren Ursprung im Fernen Osten haben.

Das Virus-Hämagglutinin muß zum Wirt passen Warum ein Geflügel-Influenza-Virus normalerweise nicht den Menschen und ein Grippevirus des Menschen nicht Geflügel befallen kann, ist weitgehend aufgeklärt. Influenza-Viren tragen auf ihrer Oberfläche ein Hämagglutinin genanntes Molekül, dem beim Eindringen in die Zelle eine entscheidende Rolle zukommt. Allerdings muß das Hämagglutinin erst einmal an einer bestimmten Stelle gespalten werden, damit der Erreger von der Zelle aufgenommen werden kann. Der "Schlüssel" des Virus für das "Schloß" Körperzelle muß also zurechtgefeilt werden, bevor er paßt. Da jede Tierart unterschiedliche "Feilen" besitzt, die nur zu bestimmten "Schlüsseln" passen, ist jeder Influenzatyp auf die Spezies beschränkt, die die richtige "Feile" besitzt.

Trypsin als "biologische Feile" Trypsin, ein Enzym, das von der Bauchspeicheldrüse produziert und in den Dünndarm abgegeben wird, ist eine solche biologische Feile. Dies erklärt vermutlich, warum sich bei Enten das Influenza-Virus ausschließlich im Dünndarm findet. Kommt es jedoch zu einer Mutation in jenem Gen, das das Hämagglutinin-Molekül kodiert, so kann eine Variante entstehen, die auch durch andere Enzyme gespalten werden kann, beispielsweise durch Furin. Dieser Biokatalysator findet sich in nahezu jeder Körperzelle. Derart mutierte Viren werden aus der Zelle bereits in aktivierter Form entlassen, sie können sofort umliegende Zellen befallen und sich so in Windeseile über den gesamten Körper ausbreiten. Gerät ein solches Virus in eine Hühnerfarm, so überlebt kein Tier. Das jetzt isolierte Virus vom Subtyp H5N1 besitzt eine derart veränderte Spaltstelle im Hämagglutinin, kann also theoretisch jede Art von Zellen befallen. Sollte sich bewahrheiten, daß H5N1 tatsächlich direkt von Geflügel auf den Menschen übertragen werden kann, so wäre dies das erste Mal, daß eine Mutation im Hämagglutininmolekül ein Überspringen der Artengrenze ermöglicht. Die Bedrohung durch ein solches Virus wäre erheblich, und die schlichte Möglichkeit rechtfertigt die Massentötung möglicherweise infizierten Geflügels, wie sie von den Hongkonger Gesundheitsbehörden Anfang Januar 1998 veranlaßt wurde.

Mit der Molekularbiologie den Viren auf der Spur Vermutlich lassen sich die derzeit noch üblichen Spekulationen über die Wandlungsfähigkeit der Influenza-Viren in naher Zukunft auf solide molekularbiologische Füße stellen. Wissenschaftler des Armed Forces Institute of Pathology in Washington gelang es kürzlich, den genetischen Code jenes Influenza-Virus zu entschlüsseln, das 1918 die verheerendste Epidemie der Neuzeit auslöste. Aus in Paraffin konserviertem Lungengewebe eines damals verstorbenen Soldaten rekonstruierten sie mit Hilfe einer eigens modifizierten Polymerasekettenreaktion die Ribonukleinsäurekette (RNA) des Virus. Auch wenn der RNA-Strang nicht komplett wiederhergestellt werden konnte, so gelang es doch, jene Teile zu identifizieren, die die Oberflächeneiweiße kodieren, mit denen sich das Virus an Wirtszellen heftet. Und die waren jenen sehr ähnlich, die auch heute noch in Schweine-Influenza-Viren zu finden sind. Dies bedeutet, daß das tödliche Virus von 1918 seinen Ursprung im Schwein hatte. Ob Geflügel oder Schweine, die Adaptationsfähigkeit der Influenza-Viren scheint unerschöpflich. Mit der Entstehung neuer virulenter Arten ist deshalb stets zu rechnen, und die Gefahr einer aus dem Osten anrollenden Influenzawelle ist durch die Massentötung des Hongkonger Geflügels nur vorläufig gebannt. Im chinesischen Hinterland ist H5N1 weiterhin in Tausenden von Tieren vorhanden. Literatur Taubenberger, J. K., et al.: Initial genetic characterization of the 1918 "spanish" influenza virus. Science 275, 1793-1796 (1997). World Health Organization: Weekly Epidemiological Report 4, 24 (1998).

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