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Wenn die Umwelt krank macht

MÜNCHEN (ms). Die Umweltmedizin hat infolge der steigenden Umweltbelastung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Schon 1991 antworteten in einer wissenschaftlichen Studie 71 Prozent der Befragten, sie hätten Angst vor Schadstoffen in Luft, Wasser, Boden oder Nahrung, und 49 Prozent befürchteten, dadurch krank zu werden. Auf den "14. Münchner Gefahrstofftagen" (11. bis 14. November) bildete die Umweltmedizin einen Schwerpunkt.


"Die Bedeutung von Umweltstandards" lautete das Thema eines ganztägigen Symposiums, auf dem namhafte Vertreter aus Wissenschaft und Verwaltung unter Leitung von Prof. Dr. Dr. H.-Erich Wichmann, GSF-Institut für Epidemiologie in Neuherberg, über die Ableitung von Grenzwerten informierten und diskutierten. Dabei ging es um die Bedeutung von Umweltstandards bezüglich Luft, Boden, Wasser, Strahlung und Lebensmittel. Besonders interessant für Pharmazeuten war das Thema Umweltstandards für Lebensmittel.

Umweltmedizin - was ist das?


Die Umweltmedizin ist eine medizinische Spezialdisziplin. Sie untersucht die Zusammenhänge zwischen der Umwelt und dem Auftreten von Krankheiten beim Menschen. Der Arbeitskreis "Umweltmedizin" der Ärztekammer Berlin hat die Umweltmedizin folgendermaßen definiert: Sie befaßt sich im wesentlichen mit Gesundheitsgefährdungen, die durch von Menschen verursachte Umweltbelastungen entstehen. Die Umweltmedizin untersucht die jeweilige Belastung und ermittelt deren Wirkungen mit epidemiologischen, toxikologischen und klinisch-medizinischen Methoden. Sie gibt Empfehlungen zum vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutz und erteilt Ratschläge zur Beseitigung bestehender Gefahren.

Grenzwerte und Rechtsfolgen


Grenzwerte spielen in der Umweltmedizin eine wichtige Rolle. Die Juristen verstehen unter dem Grenzwert eine Grenze, bei deren Unter- oder Überschreiten eine bestimmte Rechtsfolge eintritt, zum Beispiel die Schließung einer Verbrennungsanlage. Da Grenzwerte in die Nutzung des Eigentums und in die Berufsfreiheit beispielsweise des Betreibers einer Verbrennungsanlage eingreifen können, fordern die Juristen von den Wissenschaftlern, daß Grenzwerte möglichst präzise untermauert sein sollten.

Sprachliches Tohuwabohu


Im Gegensatz zu den Juristen benutzen Wissenschaftler nicht nur den Begriff Grenzwert im Zusammenhang mit Umweltstandards. Zwar hat der "Rat der Sachverständigen für Umweltfragen" im Jahr 1996 klar definiert, Umweltstandards seien quantitative Festlegungen zur "Begrenzung" verschiedener Arten von anthropogenen Einwirkungen auf den Menschen und/oder die Umwelt. Trotzdem gibt es nicht einfach nur Grenzwerte, sondern laut Wichmann eine "wahre Inflation von Begriffen". So spricht man auch von Alarmwerten, Belastungswerten, Einschreitwerten, Einbringwerten, Eingreifwerten, Gefahrverdachtswerten, Hintergrundwerten, Höchstwerten, Immissionswerten, Interventionswerten, Maßnahmenwerten, Orientierungswerten, Prüfwerten, Richtwerten, Sanierungswerten, Schadeneintrittswerten, Schwellenwerten, Toleranzwerten, Toxizitätswerten, Unbedenklichkeitswerten, Vorsorgewerten, Zielwerten und Zuordnungswerten. Diese Begriffe, so Wichmann, würden sich hinsichtlich ihrer rechtlichen Verbindlichkeit unterscheiden. So gebe es mit den Grenz- und Richtwerten hoheitliche Umweltstandards, die durch Rechtsvorschriften festgelegt würden. Daneben existiere aber auch eine große Zahl von nicht-hoheitlichen Umweltstandards, die durch Sachverständigengremien
erarbeitet würden.

Umweltstandards - nicht nur wissenschaftlich abgeleitet


Umweltstandards, so Prof. Dr. Georges Fülgraff aus Berlin, seien nicht immer wissenschaftlich bestimmte oder abgeleitete Größen, sondern hätten oftmals den Charakter von Konventionen. Diese beruhten zum einen auf einer wissenschaftlichen Abschätzung von Nutzen und Risiko, andererseits aber auch auf gesellschaftlichen Kompromissen über die Vertretbarkeit von Risiken. Aus diesem Grund sollten laut Fülgraff die Bewertungskriterien und Gründe zur Erstellung von Umweltstandards für alle Betroffenen und Interessierten nachvollziehbar sein. (siehe Abbildung).

Umweltstandards für Lebensmittel


Prof. Dr. Hans-Jürgen Hapke, der ehemalige Direktor des Instituts für Pharmakologie an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover, sprach über Umweltstandards für Lebensmittel. Viele Verbraucher interessieren sich heute für Ernährung und Lebensmittel. Von den Lebensmitteln fordern sie Reinheit und Freiheit von unerwünschten Inhaltsstoffen. Die unerwünschten Inhaltsstoffe lassen sich nach ihrer Art und Herkunft in verschiedene Gruppen einteilen:
1. Unerwünschte Inhaltsstoffe, die aus Rückständen kommen, wie zum Beispiel Pflanzenschutzmittel, Tierarzneimittel und Futterzusatzstoffe. Diese Inhaltsstoffe sind manipulierbar, weil man sie entweder einsetzen oder auf sie verzichten kann. In der Europäischen Gemeinschaft ist geregelt, daß die Rückstände eine bestimmte Dosis nicht überschreiten dürfen. Häufig sind Wartezeiten vorgeschrieben, die einen Zeitraum vor der Lebensmittelgewinnung (Ernte, Schlachtung, Milchgewinnung) festlegen, während dessen der Einsatz von Pflanzenschutzmittel, Tierarzneimittel oder Futterzusatzstoffen verboten ist. So will man erreichen, daß die Rückstände beim Verzehr des jeweiligen Lebensmittels nicht mehr vorhanden sind.
2. Unerwünschte Inhaltsstoffe können Verunreinigungen sein, die sich nicht ohne weiteres regeln lassen. Darunter fallen Umweltkontaminanten, besonders persistierende Stoffe wie zum Beispiel Schwermetalle und Organochlorverbindungen.
3. Unerwünscht können nicht nur Fremdstoffe sein (wie in den ersten beiden Gruppen), sondern auch Stoffe, die in einem Lebensmittel natürlich vorkommen, wie zum Beispiel Alkaloide oder biogene Amine in Pflanzen.

Gefahrenquelle Mensch


Berücksichtigen muß man auch Manipulationen an Nahrungsmitteln im Rahmen der Lebensmittelverarbeitung. Strenggenommen sind diese Veränderungen nicht umweltbedingt, müssen aber wie Umweltstoffe betrachtet werden. Hierzu zählt man zum einen die erwünschten Fremdstoffe (Aromen, Farbstoffe, Stabilisatoren), deren Unbedenklichkeit erwiesen sein muß. Zum anderen sind es die Sekundärprodukte, die durch die Einwirkung von Energie (Rösten, Braten, Grillen), Bestrahlung, falsche Lagerung oder Verderb entstehen. Beispiele dafür sind polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe, Nitrosamine, heterocyclische aromatische Amine oder Mykotoxine.

Schwellenwerte kontra Grenzwerte


Unter Schwellenwerten versteht man solche Dosierungen oder Konzentrationen von unerwünschten Stoffen in der Nahrung, die zwischen einer als unwirksam vermuteten Menge und einer als wirksam erkannten Menge liegen. Grenzwerte basieren zwar auf diesen Schwellenwerten, berücksichtigen aber auch nicht-wissenschaftliche Kriterien wie zum Beispiel die Fragen, ob etwas technisch machbar ist oder welche öffentliche Meinung über einen Umweltstoff vorherrscht.

Wirkung und "NOEL"


Die Wirkung eines Stoffes, der einer Dosis-Wirkungsbeziehung unterliegt, wird nach folgender Formel berechnet:
W = D x t - (E + R)
Die Wirkung W ist also abhängig vom Produkt aus Dosis D und Zeit t, vermindert um die Summe aus Elimination E und Reparatur R. Aus der Formel läßt sich schließen, daß die Wirkung eines Stoffes auf den Körper dann "gleich 0" ist, wenn die Elimination des Stoffes aus dem Körper und die Reparaturmechanismen, die im Körper als Reaktion auf den Fremdstoff ablaufen, "nur groß genug sind". Die Summe aus Elimination und Reparatur kennzeichnet das Maß der Adaptation des Menschen auf einen Fremdstoff. In der Praxis geht man so vor: Handelt es sich um einen Stoff mit einer erkennbaren Dosis-Wirkungs-Beziehung, bestimmt man die Wirkung nach obiger Formel im Tierversuch und schätzt einen Schwellenwert ab. Dieser Schwellenwert wird "NOEL" (No Observed Effect Level) genannt und bezeichnet die oberste Dosis eines Stoffes ohne erkennbare Wirkung auf alle Versuchstiere.

Geschätzter DTA-Wert


Der im Tierversuch ermittelte NOEL-Wert geht in die Abschätzung der Tagesdosis ein, die wahrscheinlich keine erkennbare Wirkung auf den Menschen hat. Diese "Duldbare tägliche Aufnahmemenge" (= DTA oder ADI, acceptable daily intake) soll angeben, welche Höchstmenge eines Stoffes auch nach lebenslanger täglicher Aufnahme mit der Nahrung keine gesundheitlichen Auswirkungen für einen erwachsenen, gesunden Menschen erwarten läßt. Die "Duldbare tägliche Aufnahmemenge" errechnet sich nach folgender Formel:
DTA = NOEL x FV ÷ SF
Die "Duldbare tägliche Aufnahmemenge" ergibt sich also aus der obersten Dosis ohne erkennbare Wirkung (NOEL) mal dem Futterverzehr (FV) der für die Versuche verwendeten Tierart geteilt durch einen Sicherheitsfaktor (SF). Der DTA-Wert ist eine Abschätzung. Die Ungenauigkeit dieser Abschätzung beruht auf der unsicheren Ermittlung des NOEL im Tierversuch, auf der Übertragung der Daten auf den Menschen und auf dem Sicherheitsfaktor. Problematisch ist, daß man das DTA-Verfahren nicht für Kanzerogene und Allergene verwenden kann, da diese keiner Dosis-Wirkungskurve folgen und sich damit auch keine Schwellenwerte festsetzen lassen.

Vielfache Belastung


Grenzwerte, die von Behörden festgelegt werden, beruhen auf Schwellenwerten, die isoliert in Einzeluntersuchungen ermittelt wurden. Die Realität sieht aber so aus, daß der Mensch mit der Nahrung nicht nur einen einzigen, sondern eine Kombination von unerwünschten Stoffen zu sich nimmt. Um das zu berücksichtigen, senkt man bei der Festsetzung von Grenzwerten den für die Einzelstoffbelastung ermittelten Wert noch weiter ab. Inwieweit sich aber dadurch das Risiko, an Schadstoffen zu erkranken, etwa für empfindliche Menschen ausschalten läßt, ist ungewiß.l

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