Arzneimittel und Therapie

Misteltherapie bei Krebserkrankungen

Mistelpräparate sind als Anthroposophika, Homöopathika oder Phytotherapeutika im Rahmen der "besonderen Therapierichtungen" zugelassen. Sie genießen also einen Sonderstatus; anstelle eines Wirksamkeitsnachweises genügen bei diesen Arzneimitteln begründete Wirksamkeitsvermutungen für die Zulassung. Kann man Krebspatienten die Misteltherapie jedoch guten Gewissens empfehlen?

Anthroposophische Arzneimittel


Für alle Mistelpräparate, die als anthroposophische Arzneimittel zugelassen sind (z. B. Iscador(r), Helixor(r)), sollten die Hersteller nur im Rahmen der anthroposophischen Dogmenlehre argumentieren. Alle Schlußfolgerungen aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sind hier fehl am Platz. Die Arzneimittellehre der von Rudolf Steiner gegründeten Anthroposophie ist eine esoterische: Es geht um die Spiritualität des Arzneistoffs, nicht um seine Substantialität. Die Mistel als anthroposophisches Arzneimittel soll das übernehmen, was wuchernde Äthersubstanz beim Karzinom ist. Sie verstärkt die Wirkung des astralischen Leibes, indem sie die physische Substanz zurückdrängt.
Wer einem Patienten eine solche Misteltherapie empfiehlt, müßte nach anthroposophischem Gedankengut das Gesamtkonzept der Behandlung benutzen. Hierzu gehören unter anderem auch:

  • Gold als Vitalisator,
  • Schlehdorn,
  • Zitrone belebend als Bad,
  • Phosphor D5 morgens und D30 abends,
  • Spiritualität der Glieder durch Heil-Eurhythmie stärken, z. B. Hallelluja-Übung,
  • Fähigkeit des klaren Denkens,
  • religiöses Empfinden.

Phytotherapeutika


Bei Mistelpräparaten, die als Phytotherapeutika zugelassen sind, sollte man dagegen durchaus nach den naturwissenschaftlichen Grundlagen einer möglichen Wirkung fragen. Mistelextrakte enthalten eine Reihe von Substanzen. Seit Mitte der 50er Jahre weiß man, daß dazu auch Lektine gehören.
Lektine sind zuckerbindende Proteine. Es sind Zuckerrezeptoren, die den in der Sprache von Oligosacchariden geschriebenen "Zukkercode" lesen können. Dabei haben sie keine Verwandtschaft zu zuckerumwandelnden Enzymen und sind auch keine Immunglobuline.
Das vermutlich wichtigste Lektin, das sogenannte Mistellektin 1 (ML-1), kann man in hochreiner Form aus Mistelextrakt gewinnen. Es wird auch als Viscum-album-Agglutinin VAA oder galactosidspezifisches Lektin bezeichnet. ML-1 besteht aus einer zuckerbindenden Untereinheit und einem Toxin. 10 g Mistelextrakt enthalten etwa 1 mg Lektin.
Theoretisch kann man die Vehikelfunktion des Lektins für das Toxin nutzen. Als Chemotherapeutikum bei Krebserkrankungen ist ML-1 jedoch zu ungerichtet. Es kann galactosehaltige Zuckerstrukturen auf Zelloberflächen nicht hochspezifisch auseinanderhalten. Es würde daher in hoher Dosis neben Tumorzellen auch normale Körperzellen (z. B. Immunzellen, Epithelzellen, Fibroblasten) abtöten.
Im niedrigen Konzentrationsbereich (ng pro ml und 106 Zellen) sind dagegen besondere Bindungsverhältnisse gegeben, die Voraussetzung für ein "Biosignalling" sein können. Zellkultur- und Tierversuche mit reinem ML-1 in der Dosis 1 ng/kg subkutan zeigten tatsächlich immunmodulatorische Effekte auf verschiedene Parameter:

  • die Ausschüttung von Zytokinen, insbesondere Interleukin 6 und Tumornekrosefaktor alpha,
  • die Phagozytoseaktivität von Granulozyten,
  • die Neutrophilenzahl und
  • die NK-Zell-Aktivität (nur in vitro).


In Versuchen mit lektinverarmtem Mistelextrakt blieben die immunologischen Wirkungen aus. Demnach ist das Lektin die immunologisch wirksame Substanz im Extrakt.
Ob die immunmodulatorische Wirkung auf die erwähnten Parameter auch die Prognose bei Krebserkrankungen bessern kann, muß erst am Tiermodell und letztendlich in prospektiven randomisierten Doppelblindstudien am Menschen bewiesen werden.
Tierexperimente erbrachten ganz unterschiedliche Ergebnisse:

  • Injizierte man schnell wachsende Tumorzellen in die Schwanzvene von Mäusen, so wirkte ML-1 in immunmodulatorischer Dosis bei der Hälfte der Tiere lebensverlängernd. Allerdings enthielt die Leber jeder Maus Tumorzellnester.
  • Löste man bei Ratten Blasenkrebs aus, so war unter systemischer Lektintherapie die Tumorinzidenz nach 15 Monaten unverändert. Es bestand außerdem die Tendenz zu größeren Tumoren mit aggressivem Wachstumsverhalten. Noch dazu starben mehr Tiere mit dem Lektin an Infektionen als ohne.


Versuche an Stücken aus menschlichem Kolonkarzinom, die mit Lektinlösung in immunmodulatorischer Dosis inkubiert wurden, bestätigten die mangelnde Vorhersagbarkeit des Effektes auf den Tumor: Bei einzelnen Patienten erniedrigte das Lektin die Tumorzellproliferation, bei anderen erhöhte es sie.
Klinische Studien mit positiven Ergebnissen zur Misteltherapie sind bislang von enttäuschender Qualität. Die Datenlage für die immunmodulatorische Misteltherapie bei Krebserkrankungen erscheint also zur Zeit sehr unsicher. Eine tumorstimulierende Wirkung läßt sich nicht ausschließen. Wenn eine Misteltherapie trotzdem durchgeführt wird, muß man unbedingt zur engmaschigen Kontrolle der Tumormarker raten, damit die Therapie bei einer Verschlechterung sofort abgesetzt werden kann.
Vom Zytokin Interleukin 6, dessen Ausschüttung durch ML-1 erhöht werden kann, dachte man noch vor wenigen Jahren, daß es ausschließlich antitumoral wirkt. Heute weiß man, daß es ein auto- und parakriner Wachstumsfaktor nicht nur für Immunzellen, sondern auch für bestimmte Tumorzellen ist, beispielsweise beim Plasmozytom, beim fortgeschrittenen Melanom sowie bei akuter oder chronischer myeloischer Leukämie. Daher wäre eine immunmodulatorische Misteltherapie beim Plasmozytom heute fast schon ein ärztlicher Kunstfehler. Quelle
Prof. Dr. rer. nat. Hans-Joachim Gabius, München, Vortrag "Alternativmedizin auf dem Prüfstand: Modellstudie Misteltherapie" bei der wissenschaftlichen Vortrags- und Fortbildungsveranstaltung "Kolorektales Karzinom und Mammakarzinom", Münster, 15. November 1998, veranstaltet von der Apothekerkammer Westfalen-Lippe.
Susanne Wasielewski, Münster

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