Arzneimittel und Therapie

Zentrales Nervensystem: Hirnforschung - was ist neu?

Vom 25. bis 30. Oktober 1997 fand in New Orleans der 27. Kongreß der amerikanischen Society for Neuroscience statt. Nachfolgend berichten wir über einige wissenschaftliche Höhepunkte dieser Veranstaltung.

Dauerstreß schädigt Nervenzellen Streßreaktionen des Körpers werden für die akute Anpassung an streßhafte Situationen benötigt und sind dort auch sinnvoll. Wird der Streß allerdings chronisch, so kann er zu Schäden im Nervensystem führen. Unter Streß werden Glucocorticoide als Streßhormone vermehrt ausgeschüttet, und erhöhte Glucocorticoid-Blutspiegel können nachgewiesen werden. Bei akut erhöhten Glucocorticoid-Spiegeln wird Energie mobilisiert, das kardiovaskuläre System angeregt und das Denkvermögen erleichtert. Chronische Erhöhungen führen neben Blutdruckanstieg und erhöhtem Risiko für Diabetes, Magengeschwüre und Infektionen zu einem Absterben von Nervenzellen im Hippocampus, einem entscheidenden Gehirnareal für Lernen und Gedächtnis. Durch erhöhte Glucocorticoid-Spiegel verliert das Neuron seine Fähigkeit, Energie zu speichern, da der Glucosetransport in die Nervenzelle gehemmt wird. Glucocorticoide verschlimmern so Nervenschädigungen, die durch zerebrale Krämpfe, Hypoglykämie, Hypoxie/Ischämie, Radikalbildner, Beta-Amyloid (ein Peptid, das bei der Pathogenese von Morbus Alzheimer eine entscheidende Rolle spielt) und gp120 (das Hüllprotein des HIV-1-Virus) ausgelöst werden. Glucocorticoide wurden und werden zur Therapie eines Ödems nach einem Schlaganfall verabreicht, was diesen Erkenntnissen zufolge allerdings zu einer Verschlimmerung der Situation der Nervenzellen führen dürfte. Bei Patienten, die nach Dauereinnahme von Glucocorticoiden an einem Cushing-Syndrom leiden, treten Gedächtnisprobleme auf, die auf einer selektiven Zerstörung von hippocampalen Neuronen beruhen. Bei genaueren histologischen Untersuchungen stellt man eine reversible Atrophie der Dendriten fest. Ähnliche Nervenschädigungen findet man bei Vietnam-Veteranen und bei Personen, die als Kind mißbraucht wurden, weil diese Nervenschädigungen auch noch Jahre nach den Ereignissen durch den Dauerstreß ausgelöst werden können. Auch bei etwa der Hälfte von Patienten mit Depressionen sind die Glucocorticoid-Spiegel infolge von Streßreaktionen erhöht. Arzneistoffe wie Aminoglutethimid blockieren die Glucocorticoid-Sekretion. Ist das Hormon aber bereits ausgeschüttet, kann eine Blockade der Glucocorticoid-Rezeptoren und die Energiesupplementierung in Form von Mannit und Ketonen vorteilhaft sein. Die Gentechnologie eröffnet heute die Möglichkeit, eine "bessere", widerstandsfähigere Nervenzelle zu kreieren, indem spezielle Gene durch Viren als Vektoren in das Genom der Zelle eingeführt werden. Erste Versuche wurden mit dem Gen für den Glucosetransporter durchgeführt: Die genetisch veränderten Nervenzellen mit einem erhöhten Gehalt an Glucosetransportern waren unter experimentellen Bedingungen widerstandsfähiger gegenüber anoxischen, aglykämischen und exzitotoxischen Bedingungen. Für den Einsatz von Vektoren in der Klinik stellt sich das Problem, daß der Vektor nach dem Insult (der Schädigung) gegeben noch wirksam sein muß. Diese Forschungsrichtung steckt noch in den Kinderschuhen, da die vorgestellten Vektoren bisher noch Entzündungsprozesse auslösen. Forschungsziel ist es, die Genexpression durch diese Vektoren zu erhöhen und größere Gehirnbereiche durch den Gentransfer zu erreichen. Fantastisch wäre es natürlich, wenn die Genexpression durch die Schädigung selbst induziert werden könnte. Bei einem Experiment an Ratten zeigt ein Vektor, der so konzipiert ist, daß der durch erhöhte Glucocorticoidspiegel "angeschaltet" wird, erste Erfolge durch protektive Eigenschaften bei epileptischen Krämpfen.

Streß und psychosoziales Umfeld Neben der geplanten Therapie auf molekularer Ebene spielt auch besonders das psychosoziale Umfeld bei streßinduzierten Schädigungen eine entscheidende Rolle. Ratten wurden unter verschiedenen psychosozialen Umständen "gestreßt". Untersucht wurde, wie viele Ratten Magengeschwüre entwickelten. War die Ratte allein im Käfig, rief der Streßfaktor eine viel höhere Anzahl von Magengeschwüren hervor, als wenn eine zweite Ratte im Käfig saß, an der die gestreßte Ratte ihre Frustration auslassen konnte. Auch durch einen Holzstab zum Nagen (analog Hobby), ein Warnsignal vor der Streßinduktion (Vorhersagbarkeit der Gefahr), Reduktion der Streßfrequenz (Gefühl, die Situation verbessert sich) oder Kontakt zu anderen Ratten im Kollektiv (soziale Unterstützung) wurde die Inzidenz für Magengeschwüre erheblich vermindert. Ergebnisse, die auf den Menschen übertragbar sind? Wildlebende Paviane der Serengeti stehen als Primaten dem Menschen näher als die meist verwendeten Nager-Tiermodelle. Psychologischer Streß bei den Pavianen tritt nur dann auf, wenn andere essentielle Probleme wie Nahrungssuche nicht vorhanden sind (Wohlstandgesellschaft). Das adrenocorticale Profil von Tieren niederer Rangordung zeigt neben erhöhten basalen Glucocorticoid-Spiegeln eine verzögerte Antwort auf aktuellen Streß, aber auch einen verzögerten Abfall der Glucocorticoid-Spiegel nach dem stressigen Ereignis. Dieses Profil zeigt sich auch bei Patienten mit Depressionen. Tiere niederer Rangordnung weisen außerdem erhöhte Blutdruckwerte auf, und ihre HDL-Spiegel sowie die Konzentrationen des Insulin-like growth factors I sind erniedrigt. Diese Tiere haben folglich ein erhöhtes Risiko für Hypertonie, Hypercholesterinämie und Diabetes. Aber nicht nur die Rangordnung selbst ist wichtig, sondern auch das Umfeld, in dem der Rang behauptet werden muß. In einer stabilen Rangordnung zeigen die Leittiere ein optimales adrenocorticales Profil. In einer Gruppe, wo der Rangplatz immer verteidigt werden muß, weisen auch Tiere in hoher Rangordnung erhöhte Glucocorticoid-Spiegel als Zeichen des basalen Stresses auf. Es zeigte sich auch, daß es entscheidend ist, wie "stressig" das jeweilige Tier die Situation empfindet, wie also die "Persönlichkeitsstruktur" ist. Auch der Höchste im Rang kann, je nach Persönlichkeitsprofil, genauso hohe Glucocorticoid-Spiegel aufweisen wie der Rangniedrigste. Außerdem sinkt die Lebenserwartung der Tiere, wenn sie nicht zwischen Sieg und Niederlage, Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden können. Der stärkste Indikator für erhöhte Glucocorticoid-Spiegel ist jedoch eindeutig die soziale Isolation (Außenseitertiere).

Biologie von Gehirntumoren Gliome sind ZNS-Tumore, die durch ein unkontrolliertes Wachstum von Gliazellen gekennzeichnet sind. Gliazellen können sich im Gegensatz zu Neuronen teilen und besitzen die Fähigkeit der Migration im Gehirngewebe. Glioblastome machen etwa 40 % der ZNS-Tumore aus. Durch den raumgreifenden Wachstumsprozeß entstehen Ödeme, die Gehirnfunktion wird beeinträchtigt, die Blut-Hirn-Schranke bricht zusammen, und es kommt zu einer Hämorrhagie (inneren Blutung). Die Überlebenszeit nach Diagnosestellung beträgt meist weniger als 2 Jahre, und bisher gibt es keine Heilung und auch keine ausreichende Therapie. Ein Problem bei der Behandlung liegt darin, daß die Gliome ein stark invasives Wachstum aufweisen. Eine operative Entfernung ist daher erfolglos. Im Gegensatz dazu sind Gehirnmetastasen von anderen Primärtumoren, wie etwa dem Brustkrebs, durch eine kompakte Zellmasse gekennzeichnet. Warum sind Gliomazellen so invasiv? Einen Hinweis darauf geben Veränderungen in der Zusammensetzung der extrazellulären Gehirnmatrix während der Gehirnentwicklung. Im unreifen Gehirn ist die Matrix so aufgebaut, daß eine gute Mobilität der Gehirnzellen gewährleistet ist. Im adulten Gehirn verändert sich die Gehirnmatrix so, daß die Mobilität der Gehirnzellen abnimmt und der Zellverband erhalten bleibt. Ein extrazelluläres Matrixprotein, das BEHAB/brevican-Protein, kommt nur im ZNS vor. Während das Protein während der Entwicklung des Gehirns in großen Mengen vorzufinden ist, ist die Expression im nicht pathologisch veränderten adulten Gehirn sehr gering. Das Protein findet man im Gehirngewebe von Patienten mit Glioblastomen, aber nie im Gehirngewebe von Patienten, die Gehirnmetastasen anderer Krebsarten gebildet haben. In vitro kann man verschiedene Glioma-Zellinien züchten, die später in Rattengehirnen transplantiert werden und dort invasive und nicht invasive Tumoren bilden. Das BEHAB/brevican-Protein ist nur in dem so entstandenen invasiven Tumorgewebe nachzuweisen. Wird das Protein gentechnisch in nicht invasives Tumorgewebe der Ratte transferiert, wird der Tumor invasiv. Außerdem muß das Protein gespalten werden, und die Spaltprodukte sind bereits charakterisiert. Mit der Entdeckung des für die Invasivität so wichtigen Proteins werden neue Forschungswege eröffnet, um die Invasivität zu vermindern oder gar auszuschalten. Ein weiteres "Highlight" aus der Glioma-Forschung ist die Entdeckung eines neuen Chloridkanals. Diesen Kanal findet man nur in Glioma-Zellen, dort aber bei allen Malignitätsgraden. Es wird vermutet, daß das Vorhandensein der Chloridkanäle die Migration der Gliomazellen erleichtert und so auch zu deren Invasivität beiträgt. Dieser Chloridkanal kann mit Chlorotoxin, einem Protein, das im Gift einer bestimmten Skorpionart vorkommt, blockiert werden. In vitro konnte Chlorotoxin die Migration von Gliomazellen bereits effektiv verhindern. Für die Therapie bietet es sich also an, die Gliomazellen mit einem dem Chlorotoxin ähnlichen Antigen zu behandeln, so daß die Gliomazellen spezifisch markiert werden. Ein gegen dieses Antigen gerichteter Antikörper würde eine Immunreaktion auslösen, die eine spezifische Phagozytose der Gliomazellen bewirkt. Ein anderer Ansatzpunkt für die Gliomatherapie ist die Gefäßneubildung im Tumorgewebe. Während seines Wachstums muß der Tumor seine Versorgung über das Blutgefäßsystem gewährleisten. Dazu ist eine Gefäßneubildung (Angiogenese) notwendig. Der Wachstumsfaktor Vascular endothelial growth factor (VEGF) induziert die Gefäßneubildung im Gliomagewebe. Ein möglicher neuer Therapieansatz ist die Blockade der Funktion von VEGF selbst oder seines Rezeptors. In vitro kann so bereits die Angiogenese gehemmt werden.

Parkinson-Erkrankung Der Morbus Parkinson ist die häufigste neurologische Erkrankung der Basalganglien, bei der selektiv dopaminerge Neurone der Substantia nigra zerstört werden. In der Folge kommt es so zu einer Verarmung des Neurotransmitters Dopamin im Striatum. Durch die starke Einschränkung der Motorik wird die Lebensqualität von Parkinson-Patienten entscheidend beeinträchtigt. Die derzeitige Standardtherapie mit Levodopa bessert zwar zeitlich begrenzt die Symptomatik, zielt aber nicht auf die wichtigere Neuroprotektion oder Neuroregeneration des geschädigten nigrostriatalen Systems. Genau aber hier sollen die neuen Forschungsansätze eingreifen. Seit der Entdeckung des Wachstumsfaktors GDNF (glial cell line derived neurotrophic factor) ist es möglich, in Zellkulturmodellen dopaminerge Neurone gegen einen künstlich hervorgerufenen Zelltod zu schützen. An Affen, bei denen Parkinson imitiert wurde, konnte die neuroprotektive Wirkung von GDNF vor kurzem bewiesen werden. Viele Gruppen beschäftigen sich derzeit damit, die Wirkungen von GDNF zu charakterisieren, und möglicherweise kann dieser Wachstumsfaktor in Zukunft die Therapie des Morbus Parkinson revolutionieren. Es stellt sich die Frage, wie GDNF, welches als Peptid nicht Blut-Hirn-Schranken-gängig ist, ins Gehirn von Versuchstieren oder auch von Patienten gebracht werden kann. Im Gegensatz zum Tiermodell ist die mehrmalige intrazerebrale Gabe von GDNF mit Hilfe von stereotaktischen Operationen beim Menschen nicht akzeptabel. In einem tierexperimentellen Ansatz wurden genetisch veränderte Zellen transplantiert, die kontinuierlich GDNF freisetzen. Die kontinuierliche Freisetzung von GDNF wirkt dem schnellen Abbau dieses entscheidenden Wachstumsfaktors entgegen. Auch mit viralen Vektoren, die das Gen für GDNF tragen, wurden erste erfolgversprechende Ergebnisse vorgestellt. Neben dem Einsatz von Wachstumsfaktoren wurden zahlreiche weitere Therapiemöglichkeiten bei Morbus Parkinson präsentiert und diskutiert. Besonders eindrucksvolle Ergebnisse konnten in klinischen Studien an Patienten gezeigt werden, bei denen herkömmliche Behandlungsmethoden versagt hatten. Der Hintergrund dieser Studien ist die Erkenntnis, daß bei Parkinson-Patienten eine abnorme Hyperaktivität von Nervenzellen in einem Gehirnbereich, der als Pallidum bezeichnet wird, vorliegt. Diese Hyperaktivität scheint die motorischen Störungen bei Parkinson-Patienten entscheidend zu verursachen. Nach Pallidotomie, einer nicht ungefährlichen Operation, bei der das Pallidum entfernt wird, können die Symptome stark gemildert werden. Eine Alternative zur Pallidotomie scheint auch eine elektrische Stimulation der Nervenzellen des Pallidums mit Hilfe von präzise implantierten Elektroden zu sein. Mit dieser Methode kann die Aktivität der Neurone des Pallidums sogar kontrolliert werden.

Quelle 27. Kongreß der amerikanischen Society for Neuroscience in New Orleans/USA, 25. bis 30. Oktober 1997.

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