Klinische Pharmazie

Klinische Pharmazie 6. Folge: Pharmazeutische Betreuung

Mit der Apothekenbetriebsordnung von 1987 wurde die Informations- und Beratungspflicht in das Berufsbild des Apothekers aufgenommen. Im Apothekenalltag zeigt sich, daß viele Patienten einen hohen Informations- und Beratungsbedarf haben und auch bereit sind, eine Beratung anzunehmen. Bei der Erstanwendung eines Arzneimittels, im weiteren Verlauf und schließlich zum Abschluß der Therapie ergeben sich für sie jeweils neue Probleme. Ein Beratungsbedarf besteht also nicht nur am Anfang, sondern auch im Verlauf einer Therapie. Eine bedürfnisgerechte Beratung ist demnach kein einmaliger Vorgang bei der Aushändigung des Arzneimittels, sondern ein Prozeß, der die gesamte Arzneimitteltherapie begleiten sollte. Für diesen Prozeß steht der Begriff der "Pharmazeutischen Betreuung" (Pharmaceutical Care).

Pharmazeutische Betreuung ist ein internationaler Prozeß einer Weiterentwicklung des Berufsbilds des öffentlichen Apothekers. Das Hauptziel der Pharmazeutischen Betreuung besteht darin, die Arzneimitteltherapie durch stärkere Einbeziehung des Apothekers zu optimieren. Dabei ist die Arbeit des Apothekers darauf gerichtet, die Therapiemitarbeit des Patienten zu verbessern und ihn gemeinsam mit dem Arzt im Rahmen des Möglichen zum Selbstmanagement seiner Krankheit zu führen.

Nutzen einer Pharmazeutischen Betreuung Mit der Pharmazeutischen Betreuung verschiebt sich der Schwerpunkt des apothekerlichen Handelns vom Arzneimittel zum Patienten. Nicht nur die Qualität des Arzneimittels muß sichergestellt sein, sondern auch die der Arzneimitteltherapie. In der Praxis läuft eine Arzneimitteltherapie jedoch häufig ohne Erfolgskontrolle ab: Der Patient sucht mit Beschwerden seinen Arzt auf, um seinen Gesundheitszustand zu verbessern. Der Arzt untersucht den Patienten, stellt die Diagnose und verordnet ihm z. B. ein Arzneimittel. Sobald der Patient die ärztliche Verordnung in seinen Händen hält, liegt die Durchführung der Therapie in seiner Verantwortung. Dabei ist es nicht selbstverständlich, daß er die vorgeschlagene Therapie tatsächlich so ausführt, wie der Arzt es geplant hat. Denn schon vor Beginn und im weiteren Verlauf können eine Reihe von Störgrößen ("therapiebezogene Probleme") auftreten, die dazu führen, daß die Therapie nicht zum erwünschten Erfolg führt. Häufig bricht der Patient dabei die Therapie ab. Im ärztlichen Therapieprozeß sind Rückmeldungen über die Effektivität der Medikation nur bei akuten schweren Erkrankungen vorgesehen. Gerade bei einer Dauertherapie oder leichteren Beschwerden fehlt aber die notwendige Kontrolle. An dieser Stelle kann nun die Pharmazeutische Betreuung eingreifen, sozusagen als "In-Prozeß-Kontrolle" im Verlauf der Arzneimitteltherapie. Sie nimmt dem Patienten anfangs einen Teil seiner Verantwortung ab und hilft ihm im Verlauf, schließlich eigenverantwortlich mit seiner Arzneimitteltherapie umzugehen. So greifen Medizinische und Pharmazeutische Betreuung ineinander: § Zum Nutzen des Patienten: Sein Wissen um seine Krankheit und deren Behandlung wird vermehrt; seine Compliance und die Arzneimittelsicherheit werden erhöht, und das Therapieergebnis, also sein Gesundheitszustand und seine Lebensqualität, werden verbessert. § Zum Nutzen des Arztes: Er kann arzneimittelbezogene Fragen an den Apotheker delegieren (Arbeitsökonomisierung); sein Therapieergebnis verbessert sich, und die Zufriedenheit seines Patienten steigt. § Zum Nutzen des Apothekers: Die Qualität seiner Dienstleistung steigt, seine Position als Heilberufler wird gestärkt, und seine Arbeitszufriedenheit und Motivation steigen.

Beratungsgespräch Der Patient kommt in die Apotheke, um die ärztliche Verordnung einzulösen oder ein Arzneimittel für die Selbstmedikation zu erwerben. Eine Beratung zum abzugebenden Arzneimittel ist der erste Schritt zu einer Fürsorge für den Patienten. Die Hauptbereiche des Beratungsinhalts umfassen Informationen über Arzneimittel und zur Arzneimitteleinnahme oder -anwendung, im besonderen Fall auch über die Arzneiform oder spezielle Anwendungshilfen. Im Verlauf des Gesprächs kann der Patient konkrete Fragen oder Probleme zur Sprache bringen. Hier hat der Apotheker die Möglichkeit, den Patienten über seine Arzneimitteltherapie zu informieren und ihn zu einer Compliance zu motivieren. Im Beratungsgespräch kann die Aufmerksamkeit frühzeitig auf therapiebezogene Probleme fokussiert werden, die gleich zu Beginn oder im Verlauf der Therapie auftreten können und zügig gelöst werden sollten: § Der Patient geht mit seinen Beschwerden nicht zum Arzt. § Der Arzt stellt eine falsche Diagnose. § Der Arzt wählt nicht die optimale Arzneimitteltherapie. § Der Arzt wählt eine ungünstige Arzneiform. § Der Arzt wählt nicht die richtige Dosierung. § Der Patient erhält das Arzneimittel trotz ärztlicher Verordnung nicht. § Der Patient nimmt sein Arzneimittel nicht nach Anweisung ein. § Der Patient nimmt Arzneimittel ohne Indikation. Patienten, die mit ihrer Therapie für eine Betreuung in Frage kommen, können an dieser Stelle zielgerichtet und problemorientiert angesprochen werden. Für eine Pharmazeutische Betreuung kommen besonders beratungsintensive Indikationen, Arzneimittel, Arzneiformen und Patientengruppen in Frage.

Ablauf einer Pharmazeutischen Betreuung Wenn sich in einem Beratungsgespräch der Bedarf und die Bereitschaft des Patienten zu einer Pharmazeutischen Betreuung gezeigt haben, folgt zunächst eine Phase der Informationssammlung. Der Patient wird bald (innerhalb einer Woche) zu einem strukturierten Gespräch in die Apotheke eingeladen, bei dem der Apotheker einen umfassenden Eindruck seiner Situation erhält. Möglicherweise sind durch eine Kundenkarte oder eine A-Card seine Verordnungsdaten der letzten sechs Monate verfügbar. Auf jeden Fall erfolgt an dieser Stelle auch ein Gespräch mit dem Arzt, um die Therapie- und Betreuungsziele gemeinsam festzulegen und eventuell zusätzliche Informationen über den Patienten zu erhalten. Die nächsten Betreuungstermine folgen möglichst in wöchentlichen Abständen. Bei den ersten Treffen erhält der Patient Informationen über seine Erkrankung, deren Therapie und zur Arzneimitteleinnahme oder -anwendung. Er soll vom Nutzen und von der Notwendigkeit seiner Therapie überzeugt werden und lernen, sein Arzneimittel sicher und effektiv anzuwenden. Beide Schwerpunkte zielen auf eine Stärkung seiner Compliance. Auch Patienten, die sich compliant verhalten, müssen immer wieder die Bestätigung erhalten, daß ihre Arzneimitteleinnahme von Nutzen ist, daß sie es richtig machen und daß sie so weitermachen sollen. Die Beratungsinhalte sollen stufenweise aufgebaut werden. Einfache Erklärungen im ersten Gespräch werden in den folgenden Gesprächen wiederholt und erweitert. Bei jedem Treffen werden gemeinsam die vereinbarten Erfolgsparameter gemessen oder ermittelt, d. h., der Apotheker fragt konkret nach einer Veränderung (Besserung) der Beschwerden, und es erfolgt z. B. eine Blutzuckermessung. Nach einem ersten Erfolg der Therapie können im weiteren Verlauf die Abstände zwischen den Betreuungsterminen größer werden. Es beginnt eine zweite Phase. Die Information über die Erkrankung wird vertieft in Richtung der Krankheitsursachen. Nach und nach lernt der Patient den Zusammenhang zwischen allgemeiner Lebensführung und Krankheit kennen. Schließlich werden zusammen mit dem Patienten Möglichkeiten zur Vorbeugung gegen das Auftreten neuer Beschwerden oder zur Beseitigung der Krankheitsursachen gesucht. Gleichzeitig erfolgt die Übergabe der Erfolgskontrolle in die Hände (und Verantwortung) des Patienten im Sinne eines Selbstmanagements. Der Umgang mit technischen Meßgeräten wird gemeinsam eingeübt. Der Patient bekommt die Möglichkeit, sich selbst zu kontrollieren, und erfährt so den direkten Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und den gemessenen Erfolgsparametern. Bei den Betreuungsterminen in der Apotheke führt er die Messung vor den Augen des Apothekers durch. Unsicherheiten im Umgang mit dem Meßgerät und Bedienungsfehler können dabei erkannt und durch wiederholte Schulung beseitigt werden. Der Patient erhält so im Verlauf des Betreuungsprozesses immer mehr Hilfsmittel an die Hand, selbstverantwortlich mit seiner Krankheit und deren Therapie umzugehen. Ein vorgegebener Zeitplan der Betreuung ist nur bedingt einzuhalten. Die Anzahl und Häufigkeit der Beratungstermine hängt stark vom individuellen Bedarf des Patienten ab. Während die Termine anfangs in kürzeren Abständen festgesetzt werden sollten, könnten sie später im Monatsabstand liegen und möglicherweise mit der Einlösung von ärztlichen Verordnungen gekoppelt werden. Die Dauer der Einzeltermine variiert ebenfalls abhängig vom Bedarf des Patienten. Die ersten Beratungsgespräche können ca. 20 bis 30 Minuten dauern; hierfür ist es sinnvoll, sich mit dem Patienten auf einen Termin zu verabreden. Spätere Gespräche dauern durchschnittlich nur noch 10 Minuten; sie sind somit problemlos in den Apothekenbetrieb zu integrieren. Eine konsequente Therapiebegleitung wird über mehrere Monate empfohlen. Auch zu späteren Zeiten der Therapie können immer wieder neue Probleme auftreten, die durch zusätzliche Beratungstermine aufgefangen werden. Beratung, Informationsvermittlung und Anwendungsschulung sind die häufigsten Eingriffe im Betreuungsprozeß. Mögliche Interventionen sind aber nicht nur auf die Eingriffsmöglichkeiten des Apothekers beschränkt. Bei Therapiefehlern oder Verordnungsfehlern des behandelnden Arztes ist selbstverständlich der Kontakt mit dem Arzt herzustellen und das Problem weiterzugeben. Genauso denkbar ist eine Einbeziehung von Familienmitgliedern oder - in Rücksprache mit dem Arzt - eine Weiterleitung an andere Fachärzten, ins Krankenhaus, in eine psychologische Beratungsstelle oder andere Einrichtungen, die zum Erreichen der Therapieziele förderlich sind.

Zielsetzungen Das erklärte Ziel der Pharmazeutischen Betreuung heißt "Optimierung der Arzneimitteltherapie". Dieser Ausdruck ist allerdings in einer konkreten Betreuungssituation wenig brauchbar. Das gleiche gilt für den Begriff "Verbesserung der Lebensqualität des Patienten". Die abstrakten Formulierungen müssen bei jedem Patienten in die Praxis umgesetzt werden. Um realistische Erwartungen an den Therapieerfolg zu stellen, wird zunächst ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt erforderlich sein. Im nächsten Schritt wird das übergeordnete Ziel in kleinere Etappen aufgeteilt. Diese einzelnen Etappen sollten jeweils im Sinne einer Erfolgskontrolle konkret gemessen oder bewertet werden können. Niedriger gesteckte Ziele sind leichter zu erreichen. Die Patienten bemerken dabei einen Fortschritt, und dieser Fortschritt motiviert sie zur weiteren Mitarbeit in Betreuung und Therapie. Wie sehen diese kurzfristigen Ziele aus? Ein Patient bekommt wegen seiner Beschwerden ein Arzneimittel verordnet. Das erste Ziel für ihn ist zunächst die Verringerung oder Beseitigung seiner Beschwerden. Ein Diabetiker möchte nicht mehr von Durst und Harndrang gequält werden; ein Asthmatiker möchte nachts endlich wieder durchschlafen, anstatt von Atemnot geweckt zu werden; ein Patient mit koronarer Herzkrankheit möchte wieder längere Spaziergänge unternehmen. Bei Patienten mit einer Dauertherapie ohne erkennbare Probleme scheint eine Pharmazeutische Betreuung nicht notwendig zu sein. Doch auch hier ist eine kontinuierliche Begleitung sinnvoll. Häufig werden Patienten im Verlauf einer langandauernden Arzneimitteltherapie "therapiemüde", d. h., sie verhalten sich zunehmend noncompliant und brechen eventuell die Therapie ganz ab. Da diese Patienten im optimalen Zustand beschwerdefrei sind, fehlt ihnen der Leidensdruck, der sie dazu motiviert, die Arzneimitteltherapie fortzuführen. Das erste Betreuungsziel heißt in diesem Fall: Erhaltung der Compliance und des Therapieerfolgs. Langfristige Ziele sind für den Patienten erst bei Erreichen eines ersten Therapieerfolgs von Bedeutung. Hier zählen vor allem Vorbeugung vor Komplikationen oder Spätschäden, Selbstmanagement der Arzneimitteltherapie und Vermeidung der Krankheitsursachen.

Dokumentation Die Dokumentation ist die unbedingte Voraussetzung für eine Pharmazeutische Betreuung. Genau wie der Arzt seine Patientenkarteikarte braucht, um sich in dessen Anamnese, Diagnose und bisherige Behandlung einzufinden, brauchen Apotheker zuverlässige Dokumentationsmethoden, um die Kontinuität der Betreuung gewährleisten zu können. Dabei bleibt es jedem zunächst freigestellt, wie er die Gespräche mit seinen Patienten dokumentieren will, ob als Datei im Rechner, als Karteikarte oder als Zettelsammlung in einem Ordner. Für jeden Schritt der Dokumentation wurden in den zahlreichen Studien bereits unterschiedliche Formblätter verwendet. Auf die Art des Formblatts kommt es aber schließlich nicht an; entscheidend ist der Inhalt, der jeden Schritt des Betreuungsprozesses möglichst genau festhalten soll.

§ Eine ausführliche Dokumentation ist notwendig, um die Kontinuität des Betreuungsprozesses zu sichern. Sie dient als Erinnerungshilfe und Entscheidungsgrundlage. Der Patient sollte von einem einzigen Apotheker betreut werden; aber bei Abwesenheit dieses Apothekers (Krankheit, Urlaub) muß die Übernahme der Betreuung durch einen Kollegen möglich sein. § Die Dokumentation ist die Voraussetzung für eine Verlaufskontrolle des Betreuungsprozesses (Monitoring). Bei einem regelmäßigen Festhalten von objektiven Daten (z. B. im Asthmatagebuch) ist der Erfolg der Therapie abzulesen. Während ohne Vergleich sonst vereinzelt auftretende Beschwerden als sehr stark bewertet werden, hilft ein "Beschwerdetagebuch", die jeweiligen Symptome zu relativieren. § Eine ausführliche Dokumentation ermöglicht die selbstkritische Erfolgskontrolle der angebotenen Betreuung. § Eine Dokumentation der Leistungen der Pharmazeutischen Betreuung und des notwendigen Zeitaufwands sind die Grundlage für eine Honorierung der Betreuungsleistung.

Umsetzung in Apotheken Seitdem die ABDA 1993 die These zur Optimierung der Arzneimitteltherapie durch eine Pharmazeutische Betreuung formuliert hat, wurde eine Reihe von Studien gestartet, die bislang alle gezeigt haben, daß der Bedarf an Pharmazeutischer Betreuung vorhanden ist und daß das Modell in Apotheken erfolgreich durchgeführt werden kann. Nach Abschluß der Studien wird es mit den in diesem Zusammenhang erarbeiteten Strategien und Materialien möglich sein, sich in einer Apotheke für eine konkrete Indikation zu entscheiden und eigene Wege zur Umsetzung der Pharmazeutischen Betreuung zu finden. Eine Reihe von Erfahrungen zur praktischen Umsetzung in öffentlichen Apotheken wurden bereits veröffentlicht. Bei stationär behandelten Patienten sollte die Pharmazeutische Betreuung schon im Krankenhaus beginnen. Der Krankenhausapotheker kann im Bereich der Arzneimittelanamnese und der Patientenschulung tätig sein und Entlassungsgespräche führen. Auf diese Weise können Fehler von Beginn an vermieden werden. Erleichtert wird dies im Krankenhaus durch den direkten Kontakt zum Arzt sowie durch den Zugang zu den benötigten Patientendaten in der Krankenakte. Die genannten Studienindikationen sind nicht die einzigen Einsatzbereiche der Pharmazeutischen Betreuung. Jeder kann für sich selbst den Bereich finden, in dem er optimal vorbereitet ist und an dem er interessiert ist. Interessant für die Einführung sind auch Indikationen, die nicht in die alleinige ärztliche Therapie fallen, z. B. die Betreuung von entwöhnungswilligen Rauchern, von übergewichtigen Patienten im Rahmen der Gesundheitsvorsorge oder die Allergieberatung. Eine Pharmazeutische Betreuung ist also auch im Rahmen der Selbstbehandlung möglich und notwendig. Literatur bei der Verfasserin

Anschrift der Verfasserin: Dr. Kirsten Lennecke, Bochumer Straße 61A, 45549 Sprockhövel

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