Klinische Pharmazie

Dosisindividualisierung

Das Ziel jeder Arzneimitteltherapie ist eine effektive und sichere Behandlung. Verabreicht man allerdings eine Standarddosis eines Medikaments, so sprechen häufig nicht alle Patienten optimal an. Der Grund sind zahlreiche individuelle Einflußfaktoren, die diese Variabilität bedingen. Dosisindividualisierung bedeutet die Gabe einer maßgeschneiderte Dosierung an jeden einzelnen Patienten aufgrund einer meßbaren Größe. Diese muß mit den Wirkungen in einem bekannten Zusammenhang stehen.

Variabilität der Arzneimittelwirkungen

  • die interindividuelle Variabilität, d.h. Unterschiede zwischen verschiedenen Patienten (z.B. Lebensalter), und
  • die intraindividuelle Variabilität, d.h. Unterschiede bei einem einzelnen Patienten (z.B. sein sich ändernder Krankheitszustand).


Die Bedeutung der Variabilität läßt sich veranschaulichen, wenn man die Häufigkeit, mit der erwünschte und unerwünschte Wirkungen auftreten, in Abhängigkeit von der applizierten Dosis betrachtet. Allgemein treten erwünschte und unerwünschte Wirkungen mit steigender Dosis häufiger in Erscheinung (Abb. 1). Von großer Bedeutung ist allerdings das Verhältnis zwischen erwünschten und unerwünschten Wirkungen, das im folgenden anhand von drei Beispielen erläutert wird:

  • Fall A: Eine ausreichend hohe Dosis führt bei allen Patienten zu erwünschten und nur in Ausnahmefällen zu unerwünschten Wirkungen.
  • Fall B: Es werden zunehmend unerwünschte Wirkungen relevant; bei mittlerer Dosierung zeigen z.B. nur ca. 70% die erwünschte Wirkung, gleichzeitig aber auch ca. 20% unerwünschte Wirkungen.
  • Fall C: Im Extremfall, wie z.B. für Zytostatika, -überholen ab einer bestimmten Arzneistoffmenge die unerwünschten Wirkungen die erwünschten in ihrer Häufigkeit. Gleichzeitig bleibt ein hoher Anteil an Patienten ohne Therapieerfolg.


Eine Dosisindividualisierung zur Verringerung der Variabilität kann demnach für die dargestellten Fälle B und C die Häufigkeit der erwünschten Wirkungen erhöhen und/oder die der unerwünschten Wirkungen senken. Auf diese Weise kann bei möglichst vielen Patienten ein Therapieerfolg mit akzeptablen unerwünschten Wirkungen erreicht werden.

Dosierungsstrategien

Empirische Dosierung

Adaptive Dosierung aufgrund patientenspezifischer Faktoren

Adaptive Dosierung mittels Feedback-Kontrolle


Das Potential dieser ausgereiften Strategie für eine maßgeschneiderte Patientendosierung wird in der Praxis häufig unterschätzt. Zielgrößen kön-
nen pharmakodynamischer (z.B. Blutdruck) oder pharmakokinetischer (z.B. Plasmakonzentration) Natur sein, was in den folgenden Abschnitten näher erläutert werden soll. Großen Einfluß kann auch die genetische Disposition haben.

Pharmakodynamische Dosisindividualisierung

  • Die Dosis steht mit dem auftretenden Effekt in einer bekannten Beziehung.
  • Es darf keine Latenzphase zwischen dem Eintritt des Effektes und der Meßgröße existieren.
  • Die Zielgröße muß quantifizierbar und für den Einsatz in der Praxis routinemäßig meßbar sein.


Da bei der Dosierung nach pharmakodynamischer Zielgröße eine direkte Korrelation zwischen Dosis und Wirkung ausgenutzt wird, ist sie zur Dosisindividualisierung am besten geeignet. Es gibt momentan jedoch nur wenige Möglichkeiten, eine adäquate pharmakodynamische Zielgröße zu definieren und klinisch zu nutzen. Beispiele finden sich in folgenden Arzneistoffklassen (Zielgröße in Klammern):

  • Antidiabetika (Blutglucosekonzentration),
  • Antihypertonika (Blutdruck),
  • Antikoagulantien (Quickwert).

Pharmakokinetische Dosisindividualisierung


Wird eine einheitliche Dosis an alle Patienten verabreicht, beobachtet man aufgrund der intra- und interindividuellen Variabilität von Resorptions-, Verteilungs- und Eliminationsprozessen sehr unterschiedliche Plasmakonzentrations-Zeit-Profile. Für die pharmakodynamische Variabilität sind jedoch neben den pharmakokinetischen Prozessen weitere Faktoren (z.B. Penetration zum Wirkort, Rezeptorendichte und -empfindlichkeit) von Bedeutung, so daß diese höher ist als die pharmakokinetische Variabilität (Abb. 3, A).
Kennt man aber

  • die individuellen Einflüsse des Patienten auf die pharmakokinetische Größe und
  • die Beziehung zwischen pharmakokinetischem Parameter und Effekt quantitativ,


kann der pharmakokinetische Parameter als meßbare Zielgröße festgelegt und seine Variabilität minimiert werden. Nach diesem Prinzip erhält jeder Patient eine auf ihn zugeschnittene Dosis, mit der sich auch die pharmakodynamische Variabilität deutlich vermindert. Die auftretenden erwünschten und/oder unerwünschten Effekte werden somit besser kontrolliert (Abb. 3, B).
Oftmals genügt eine Dosisanpassung unter Einbeziehung eines einzelnen Einflußfaktors (z.B. Körpergewicht) nicht. Vielmehr müssen möglichst viele individuelle Faktoren und deren quantitativer Einfluß auf die pharmakokinetische Zielgröße ermittelt werden. Es gibt zahlreiche Konzepte zur pharmakokinetischen Dosisindividualisierung. Im folgenden werden ausgewählte Strategien näher erläutert.

Dosierung nach Körpergewicht und Körperoberfläche


Individuelle Dosierungen auf der Grundlage des Körpergewichtes werden entweder mit Hilfe des tatsächlichen Körpergewichtes (KG) oder des Idealkörpergewichtes (IKG) vorgenommen, wenn das Gewicht einen großen Einfluß auf Verteilung bzw. Elimination von Arzneistoffen hat. Das IKG bezeichnet dasjenige Körpergewicht, das bei Fettleibigen den überschüssigen Fettanteil außer acht läßt. Zur Abschätzung des IKG aus der Körpergröße (KL) existieren mehrere empirische Gleichungen, da das Ausmaß des individuellen Übergewichts in bezug auf einen -Normalgewichtigen seines Alters, Geschlechts, seiner Körpergröße und Statur schwierig zu ermitteln ist. Am häufigsten werden die Formeln nach Devine benutzt (1974, umgerechnet auf metrisches Maß):
Frauen:
IKG [kg] =
Männer:
IKG [kg] =
Bei Patienten mit normaler Konstitution erhöht sich mit zunehmendem Körpergewicht (KG) das Verteilungsvolumen (V) eines Arzneistoffs mit geringer Bindung an endogene Strukturen. Da sich jedoch gleichzeitig die Wasser-, Muskel- und Fettgewichtsanteile verschieben, besteht nicht immer ein linearer Zusammenhang zwischen KG und V. Bei fettleibigen Patienten muß mit Änderungen des auf das KG standardisierten V gerechnet werden.
Für Dosierungen anhand der individuellen Körperoberfläche werden fast ausschließlich die nach der Du Bois-Formel konstruierten Nomogramme zur KOF-Abschätzung benutzt. Diese Formel basiert allerdings auf Untersuchungen an lediglich neun Erwachsenen zu Beginn dieses Jahrhunderts (Abb. 4):
KOF [m2] =
KG [kg]0,425 • KL [cm]0,725 • 0,007184
Diese Beziehung, die sowohl Körpergewicht als auch -größe berücksichtigt, errechnet eine durchschnittliche KOF für Erwachsene von 1,73 m2. Da Kinder andere Proportionen und deshalb eine im Verhältnis größere KOF aufweisen, existieren für sie andere Gleichungen.
Hintergrund für die Dosierung mit Hilfe der KOF sind empirische Beobachtungen, daß die KOF mit vielen physiologischen Parametern, wie Grundumsatz, Organgröße und -leistung, korreliert (z.B. Herzleistung und damit Organdurchblutung). Daraus wird gefolgert, daß die Gesamtclearance (CL) mit der KOF in Beziehung steht, was bis heute für viele Arzneistoffe nicht belegt werden konnte. Obwohl dieses Vorgehen von vielen kritisiert wird bzw. gegenteilige Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen KOF und CL vorliegen, ist die KOF-bezogene Dosierung von Zytostatika derzeit Standard.
Insgesamt bieten diese Methoden, die wegen der einfachen Bestimmungsmöglichkeiten im klinischen Alltag sehr populär sind, nur einen groben Anhaltspunkt für individuelle Dosierungen. Andere patientenspezifische Faktoren müssen zusätzlich in Betracht gezogen werden, um die Variabilität der pharmakokinetischen Parameter zu senken.

Dosierung nach Organfunktion


Für Arzneistoffe, die vorwiegend unverändert renal eliminiert werden, bestimmt der Grad der Nierenfunktionseinschränkung (patientenspezifischer Einflußfaktor) die individuelle Dosierung. Bei wiederholter Gabe des Arzneistoffes besteht wegen der verlangsamten Elimination die Gefahr einer Überdosierung durch Kumulation. Die Dosierung kann durch Berechnung eines individuellen Korrekturfaktors (Q‚) angepaßt werden.
Q‚ beschreibt das Verhältnis der Gesamteliminationsgeschwindigkeitskonstanten des Nierenkranken (k‚e) zu der des Nierengesunden (ke):
Q‚ =
k‚e setzt sich aus der nichtrenalen (knr) und der renalen Eliminationsgeschwindigkeitskonstanten (kr) zusammen:
k‚e = knr + kr
Die nichtrenale Elimination (knr) bleibt bei Niereninsuffizienz unverändert.
Die renale Elimination (kr) steht über eine Proportionalitätskonstante a in linearem Zusammenhang mit der glomerulären Filtrationsrate (GFR). In der Praxis wird die GFR des Patienten häufig über seine Kreatininclearence (CLCR) bestimmt.
Daraus folgt für die Gesamtelimination k‚e:
k‚e = knr + a • CLCR
und für den individuellen Korrekturfaktor:
Q‚ =
Darüber hinaus wird das Verhältnis von knr zu ke als Q0 definiert. Q0 entspricht dem Anteil, den Anuriker noch ausscheiden können. Somit ergibt sich für Q‚:
Q‚ = Q0 +
In der Praxis werden häufig Nomogramme nach Dettli verwendet (Abb. 5). Nach Bestimmung der Kreatininclearance des Patienten wird eine vertikale Linie bis zur für jeden Arzneistoff charakteristischen Geraden gezogen (y-Abschnitt = Q0; Steigung = a / ke). Von diesem Schnittpunkt aus bildet man eine Waagerechte zur Ordinaten und kann dort den individuellen Korrekturfaktor Q‚ ablesen.
Die Dosierung und/oder das Dosierungsintervall können mit dem Korrekturfaktor Q‚ individuell berechnet werden:

  • Dosisreduktion bei gleichbleibendem Dosierungsintervall durch Multiplikation der Dosis eines Nierengesunden mit Q‚.
  • Verlängerung des Dosierungsintervalls bei gleichbleibender Dosis durch Division des Dosierungsintervalls eines Nierengesunden durch Q‚.
  • Im weiteren Verlauf sollte u.U. die Plasmakonzentration überwacht und die Dosis ggf. angepaßt werden (adaptive Dosierung mittels Feedback-Kontrolle, s.o.).

Dosierung nach Ziel-AUC

Therapeutisches Drug Monitoring (TDM)


Da der zeitliche und finanzielle Aufwand für ein TDM beträchtlich ist, wird es nur unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführt. Ein TDM ist immer dann sinnvoll, wenn eine Verbesserung der Therapieeffektivität und/oder -sicherheit zu erwarten ist. Dies ist in der Regel der Fall, wenn der eingesetzte Arzneistoff folgende Eigenschaften aufweist:

  • eine enge therapeutische Breite,
  • eine hohe interindividuelle Variabilität der Pharmakokinetik,
  • eine Korrelation zwischen Pharmakokinetik und Pharmakodynamik,
  • keine Möglichkeit von Routinebestimmungen geeigneter pharmakodynamischer Zielgrößen.


Tabelle 1 listet Arzneistoffe auf, die diese Kriterien erfüllen und für die häufig ein TDM praktiziert wird. Besonders hervorzuheben sind Aminoglykoside, Vancomycin, Immunsuppressiva, Antiepileptika und Theophyllin. Darüber hinaus wird man bei -problematischen Patientengruppen wie Früh- und Neugeborenen, Patienten mit eingeschränkter Organfunktion oder Verbrennungspatienten eher ein TDM in Erwägung ziehen als bei -unproblematischen Patienten.

Pharmakogenetische Dosisindividualisierung


Häufig sind allerdings genetisch bedingte Unterschiede und ihre Auswirkungen nicht bekannt, weil die Fallzahl in Studien zu gering ist, um diese Unterschiede statistisch abgesichert aufzudecken. Es bleibt abzuwarten, ob sich in Zukunft Prinzipien der genetischen Dosisindividualisierung in der Praxis durchsetzen. Literatur bei den Verfassern Anschrift der Verfasser: Dr. Charlotte Kloft und Dr. Ulrich Jaehde Institut für Pharmazie I, Abteilung Klinische Pharmazie, Kelchstraße 31, 12169 Berlin

Herausgeber der DAZ-Serie Klinische Pharmazie sind Ulrich Jaehde, Berlin Roland Radziwill, Fulda Stefan Mühlebach, Aarau Walter Schunack, Berlin

Beispiel: Dosierung eines Antiepileptikums bei Leberinsuffizienz


störungen (patientenspezifischer Faktor) beeinflußt wird. Die adaptive Dosierung berücksichtigt die verminderte Elimination, so daß die erwünschte Plasmakonzentration erreicht wird, die epileptische Anfälle unterdrückt.

Tab. 1: Arzneistoffe, für die häufig ein TDM praktiziert wird.

  • Aminoglykoside
  • Vancomycin
  • Immunsuppressiva
  • Ciclosporin
  • Tacrolimus
  • Antiepileptika
  • Carbamazepin
  • Ethosuximid
  • Phenobarbital
  • Phenytoin
  • Primidon
  • Valproinsäure
  • Antiasthmatika
  • Theophyllin
  • Antiarrhythmika
  • Chinidin
  • Procainamid
  • Amiodaron
  • Psychopharmaka
  • Lithium
  • Amitriptylin
  • Nortriptylin
  • Imipramin
  • Desipramin
  • Zytostatika
  • Methotrexat
  • Herzwirksame Glykoside
  • Digitoxin
  • Digoxin

Beispiel: Dosierung von Antidepressiva

Beispiel: Dosierung von Antikoagulantien

Beispiel: Dosierung von Carboplatin

  • Glomeruläre Filtrationsrate (GFR). Da die Substanz vorwiegend renal ausgeschieden wird, ist die Gesamtclearance (und damit die AUC) eng mit der GFR (gemessen als Kreatininclearance) des Patienten verknüpft.
  • Zytostatikavorbehandlung. Da die Beziehung AUC und Thrombozytopenie von der Vorbehandlung des Patienten mit myelosuppressiven Zytostatika abhängt, werden bei vorbehandelten Patienten geringere Ziel-AUC-Werte angestrebt.
  • Mono- oder Kombinationstherapie. Die Thrombozytopenie hängt weiterhin davon ab, ob Carboplatin allein oder in Kombination mit weiteren Zytostatika (z.B. Paclitaxel) verabreicht wird. Bei einer Monotherapie kann ein höherer Ziel-AUC-Wert akzeptiert und gewählt werden.


Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist eine Gleichung zur Berechnung der individuellen Dosis von Carboplatin entwikkelt worden. Diese Dosis (D) führt zu einer bestimmten Ziel-AUC, mit der eine inakzeptable Toxizität gerade noch vermieden werden kann:
D [mg] =
Ziel-AUC [mg/ml • min] •
(GFR [ml/min] + 25)
Voraussetzung für die Anwendung dieser Strategie in der klinischen Praxis ist die genaue Bestimmung der Patienten-GFR und die Festlegung der Ziel-AUC. Die zu applizierende Dosis kann dann leicht mit Hilfe von Taschenrechnern, Tabellen oder speziellen Schieblehren ermittelt werden.

Beispiel: Therapeutisches Drug Monitoring von Aminoglykosiden


Die Plasmakonzentrationen von Aminoglykosiden korrelieren im wesentlichen sowohl mit der erwünschten als auch den unerwünschten Wirkungen. Für Patienten mit gramnegativer Sepsis und Harnwegsinfektionen sollten beispielsweise Gentamicin-Maximalkonzentrationen von mindestens 5 mg/ml, bei Patienten mit gramnegativer Pneumonie sogar mindestens 8 mg/ml erreicht werden. Das Risiko einer Nephro- bzw. Ototoxizität ist erhöht, wenn die Plasmaminimalkonzentrationen (Cmin) von Gentamicin, Tobramycin und Netilmicin 2 mg/ml und von Amikacin 10 mg/ml übersteigen. In der Praxis werden deshalb Minimal- und Maximalkonzentrationen als Zielgrößen verwendet.

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