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Erfolge und Rückschläge im Kampf gegen AIDS

GENF (em). Die vorletzte große AIDS-Konferenz 1996 in Vancouver verließen manche Teilnehmer euphorisch. Wissenschaftler hatten neue Medikamente vorgestellt. Die Medien überschlugen sich. Selbst von möglicher Heilung war die Rede. Die Vermehrung des HI-Virus wollte man so verlangsamen, daß die Krankheit AIDS auf unbestimmte Zeit nicht ausbrechen sollte. Nach der diesjährigen Welt-AIDS-Konferenz in Genf (28. Juni bis 5. Juli) gibt es keinen Grund zur Euphorie mehr.


Es wurde von Patienten berichtet, bei denen HIV gegen mehrere AIDS-Medikamente resistent geworden war, d.h. die neue antivirale Therapie war unwirksam geworden. Bei anderen verursachte die Wunderwaffe, der Dreifach-Cocktail der antiviralen Medikamente, zum Teil besorgniserregende Nebenwirkungen. Zum Beispiel berichteten amerikanische Autoren von Entgleisungen des Fettstoffwechsels. Als Folge bildeten sich Fettansammlungen am oberen Rücken, sog. Stiernacken, die zum Teil operativ abgetragen werden mußten. Oder es kam im Gesicht zu entstellenden Wülsten. Andere Referenten stellten Patienten vor, die die Einnahme der bis zu 20 Tabletten täglich nicht mehr bewältigten. Die einen Pillen müssen auf leeren Magen, die anderen mit sehr viel Wasser und wieder andere nach den Mahlzeiten genommen werden. Und das ein Leben lang. Die Hälfte aller Patienten scheitere an diesen Bedingungen, und die Viruslast im Blut steige wieder an, war von den Praktikern zu hören.
-Dennoch, so der Vorsitzende der Konferenz und Genfer Klinikleiter Prof. Hirschel, -können wir das als einen Erfolg der Medizin werten. Schließlich ist die jährliche Zahl der AIDS-Toten in den Industrieländern stark zurückgegangen. Doch die neue, schlimme Botschaft von Genf wird sein, daß die Menschen in den Entwicklungsländern immer weiter abgehängt werden. Seit Vancouver haben wir 10 Millionen Neuinfektionen weltweit, das darf einfach nicht sein. Die ,Erste Weltő besitzt Informationen, medizinische Fachkenntnisse, Technologien und finanzielle Ressourcen: Würden wir von allem ein wenig an die ,Dritte Weltő abgeben, wäre die globale Katastrophe von HIV/AIDS aufzuhalten.

Der gute Wille ist da, aber...


Geredet wurde viel von dieser globalen Katastrophe. Die Veranstalter wollten auch manches tun und ihren guten Willen zeigen. Immerhin hatten sie der Konferenz das Motto -Bridging the Gap - Die Kluft überbrücken gegeben. Von den 5000 Präsentationen aus 138 Ländern kamen 41% von Autoren des Südens. Rund eintausend hatten ein sog. Sponsorship bekommen, d.h. Flug, Teilnahmegebühren (allein rund 1200,- DM), Sammelunterkünfte und Verpflegung wurden für sie bezahlt. Sie stellten ihre Arbeiten zu den Themen Frauen, Kinder, Randgruppen und Prävention vor. Es fiel auf, daß sie meist unter sich diskutierten. Manchmal fanden nur ein Dutzend Zuhörer ihren Weg in die Seitenräume. Die -wichtigen Vorträge fanden in den Hallen statt. Von viel Medienpräsenz begleitet, gaben die Mediziner aus den USA und Europa den Ton an. Ihre Themen waren jene neuen Therapien, die für weniger als zehn Prozent der Patienten in den Industrienationen verfügbar sind. Die Aussteller warben für ihre Medikamente zudem an den Pharmaständen.
Die Hallenbereiche mit sog. -Postern, schriftliche und bebilderte wissenschaftliche Darstellungen, die der Besucher beim Durchgehen je nach Interesse studieren konnte, waren so angeordnet, daß die medizinischen Themen nahe bei den Ausstellern zu sehen waren, deren Stände vom Besucher durchquert werden mußten, die sozialen Themen aber in den abseits liegenden Hallen untergebracht waren.

Ein junges Mädchen mit AIDS...


Zum Beispiel findet sich unter dem Bereich -Soziales und Verhalten ein Poster mit der Überschrift: -Junge, und durch HIV/AIDS verwitwete Frauen haben in Afrika geringe Überlebenschancen. Täglich infizieren sich 16000 Menschen neu mit HIV. Bedauerlicherweise kommen 90% davon aus Afrika südlich der Sahara. Man weiß, daß die meisten 20 bis 35 Jahre alt sind. Davon sind wiederum die Mehrzahl junge Mädchen. Ein Junge kommt auf sechs Mädchen. Eines dieser Mädchen bin ich.
Jessica Census aus Uganda sitzt selber neben ihrem Poster. Sie ist das erste Mal auf einer Konferenz. Sie wurde von ihrer Regierung ausgewählt, weil sie seit Jahren Aufklärungskampagnen für Jugendliche organisiert. Sie stellt ihre eigene Lebensgeschichte vor:
-Als ich neunzehn Jahre alt war - 1989, ich hatte gerade meine Grundschule beendet - kam ein Mann zu meinen Eltern und bot ihnen an, meine weitere Schulausbildung zu zahlen. Er hatte sich wegen AIDS von seiner Frau getrennt und brauchte nun dringend jemanden, der ihn pflegen sollte. Er nutzte die Armut meiner Familie aus und versprach, mich dafür in die Schule zu schicken. Er verfolgte mich mit Hilfe meiner Verwandten. Die wußten entweder nichts von HIV oder sie wollten nichts wissen. Sie trauten sich nicht, sich einem reichen und wichtigen Mann zu widersetzen. Ich wurde nicht gefragt und nicht informiert; dafür in meinem jungen Alter geopfert und dem Tod ausgeliefert. In den meisten afrikanischen Kulturen sagt eine Frau nie nein zum Sex mit dem Mann, der sie heiraten will. Und wenn er stirbt, kommen seine Verwandten und teilen sich seinen Besitz. So war es auch in meinem Fall. Sie kamen sofort, als er nach einem Jahr starb. Mir blieb nichts. So geht es unzähligen Mädchen, die AIDS haben. Die totale Trostlosigkeit bricht über sie herein. Sie wissen nicht mehr, wohin sie gehören und an wen sie sich wenden können.

...ein Schicksal


Jessica folgert, daß Afrika einem Desaster entgegentreibt, wenn weiterhin die Menschenrechte der jungen Frauen mißachtet werden. Sie fordert, daß die Länder Rahmengesetze zum praktischen und ethischen Schutz von Mädchen aufstellen. Sie schließt ihr Poster mit den Worten: -Ich habe zum Glück schneidern gelernt und kann mich selber ernähren. Aber das fehlt den meisten Unglücklichen. Ich bin froh, daß ich nie eine anderen Person angesteckt habe. Ich danke für Ihr Interesse.
Wenn der betroffene Leser Jessica anspricht, erfährt er noch mehr über sie. Sie ist in den neun Jahren mit HIV/AIDS zweimal todkrank gewesen. Aber damit habe sie sich abgefunden. Sie bekomme Kraft durch ihren Einsatz bei der Aufklärung anderer Jugendlicher. Aber was aus ihrem kleinen Bruder werden wird, wenn sie nicht mehr lebt, das treibe sie fast in den Wahnsinn. Er ist acht Jahre alt, und sie versorgt ihn seit dem Tod ihrer Eltern wie ein eigenes Kind. Sie sucht nach Paten, die wenigstens sein Schulgeld zahlen würden. Und, Jessica muß ihre HIV-bedingte Kryptokokken-Meningitis mit täglich ein bis zwei Tabletten Diflucan behandeln. Seit sechs Monaten ist sie krank. In den ersten drei Monaten brauchte sie zwei Kapseln täglich, jetzt soll sie bis an ihr Lebensende eine nehmen, um ein erneutes Aufflackern der Hirnhautentzündung zu verhindern. Eine Tablette kostet in Uganda 21 Dollar. Wenn sie nicht mehr zahlen kann, sei ihr Tod voraussehbar, sagt sie eher nüchtern. Das Motto -Bridging the Gap - die Kluft überbrücken betrifft wohl nur die entwickelte Welt. Sie wisse seit der Konferenz, daß viele Kranke in Europa und Nordamerika ihre Therapie bezahlt bekämen, aber eben nicht in Afrika. An einem Stand bat sie dennoch um ihre Kapseln, vier Stück bis Freitag habe sie zwar bekommen, aber was dann? Sie fliege doch erst am Sonntag zurück nach Uganda...
Während der Abschlußveranstaltung der 12. Internationalen AIDS-Konferenz stürmten plötzlich einige Franzosen und Amerikaner das Podium und skandierten: -Mehr Gerechtigkeit! Medikamente für alle! Habgier tötet. Laßt die Betroffenen reden! Die Redner schauten hilfesuchend zu den Ordnern. Nach zehn langen Minuten waren die Aktivisten zurückgedrängt. Ein Afrikaner war nicht dabeigewesen.l

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