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DPhG Münster: Das Lectin der Mistel - ein Arzneistoff?

Am 16. Juni 1998 hielt Prof. Hans-Joachim Gabius, Institut für Physiologische Chemie der Universität München, im Rahmen einer Veranstaltung der DPhG in Münster einen Vortrag über die Wirkungen von Mistellectinen als Immunmodulatoren.

Anthroposophie contra Naturwissenschaft Der Einsatz von Mistelpräparaten bei malignen Tumoren ist in der Lehre der Anthroposophie nach Rudolf Steiner begründet. Da die Denkweise der anthroposophischen Medizin sich prinzipiell von der naturwissenschaftlich fundierten Medizin unterscheidet, gab Professor Gabius zunächst eine kurze Einführung in die Anthroposophie. Diese stützt sich auf unverrückbare Dogmen und zieht ihren Erkenntnisgewinn aus Intuition, nicht aber aus Versuchen, deren Ergebnisse diskutiert oder auch widerlegt werden können. Nach Steiner beruht eine Krebserkrankung auf einer Dysregulation geistiger Sphären, und die Mistel wirkt antitumoral aufgrund ihrer "lichthaft-geistigen Qualität". Anthroposophische Begriffe wie Äther- oder Astralleib haben keine physischen Äquivalente. Problematisch sind Versuche, die prinzipiell nicht vorhandene Verbindung zwischen anthroposophischer und naturwissenschaftlicher Denkweise herzustellen. Laienpresse und Firmenbroschüren schreiben dem Lectin der Mistel eine "belegte Wirksamkeit" in der Tumorbehandlung zu. Sogar anthroposophische Produktanbieter weichen von der Lehre Steiners ab und werben mit pharmakologischen Wirkungen des Lectins. Professor Gabius erläuterte die naturwissenschaftlichen Hintergründe einer immunmodulatorischen Wirkung des Lectins der Mistel. Lectine sind definitionsgemäß zuckerbindende Glykoproteine, die keine Antikörper oder Enzyme sind. Die Mistel besitzt zwei Lectine, die beide als hochpotente AB-Toxine aufgebaut sind und an bakterielle Giftstoffe wie Choleratoxin erinnern. Sie sind in der Lage, einen Adeninrest aus der 28S-rRNA herauszulösen, was zur Folge hat, daß diese RNA und damit das ganze Ribosom seine Funktion nicht mehr erfüllen kann. Diese Toxizität ist jedoch ungerichtet; es ist eine unspezifische Wirkung auf alle Zelltypen anzunehmen.

Natur der Kohlenhydrat-Lectin-Wechselwirkung Stellt man molekularmechanische Berechnungen für ein einfaches Disaccharid an, so kann man Energiekorrelationen zwischen den Torsionswinkeln phi (f) und psi (y) bestimmen, die zeigen, wo Energieminima der möglichen Konformationen liegen. Experimentell können die Ergebnisse mittels NOE(Nuclear Overhauser Enhancement)-Messungen, ein Verfahren der 1H-NMR-Spektroskopie, bestätigt werden. Bei diesem Verfahren wird die Anregungsfrequenz eines Protons eingestrahlt, und die Signale der mit diesem Proton in Dipol-Dipol-Wechselwirkung stehenden anderen Protonen werden aufgezeichnet. Die Signale sind abhängig vom Abstand der Protonen, sie sind sozusagen ein molekulares Lineal. Auf diese Weise lassen sich die Konformationen der Kohlenhydrate festlegen (Abb.1). Thermodynamische Betrachtungen ergaben, daß die Bindung eines Disaccharids an ein Lectin ein komplexer Prozeß ist, wobei zu beachten ist, daß die Interaktion in einem wäßrigen Medium stattfindet. In dieser Umgebung können sich auch an Zuckerpartialstrukturen hydrophobe Wechselwirkungen ausbilden. Eine quantitative Beschreibung der Bindung von Glykanen (vielgestaltige Glykoproteine mit dem Baustein N-Acetylgalaktosamin) an das Lectin mit Hilfe eines Scatchard-Plot zeigte, daß eine positive Kooperativität der Bindung besteht. Lectine binden Disaccharide selektiv aufgrund deren Konformation. Sie können auf der Zelloberfläche Komplexe mit quasikristallinen Strukturen erzeugen.

Immunmodulatorische Wirkung von Mistelextrakten Lectine können an Zellen immunmodulatorische Wirkungen entfalten. Sie stimulieren unter Zellkulturbedingungen die Sekretion proinflammatorischer Zytokine wie z.B. Tumornekrosefaktor a (TNFa). Eine solche Modulation einzelner Faktoren muß nicht zwangsläufig eine klinische Implikation haben. In Tierversuchen bestätigte sich, daß nach Injektion des Mistelextraktes (1ng/kg Körpergewicht) oder reinen Lectins in dieser Dosierung eine erhöhte Sekretion von Interleukin 6 (IL-6) und TNFa resultierte. Extrakte ohne Lectin zeigten eine toxische Wirkung, die wahrscheinlich auf die Viscotoxine zurückzuführen war.

Mistelextrakte und Krebs Die nächste Frage war, ob die Stimulation der Sekretion proinflammatorischer Zytokine tatsächlich das Tumorwachstum beeinfußt. Nun sind menschliche Tumoren sehr verschieden von z.B. in Mäusen induzierten Tumoren. Modelltumoren in Tierversuchen sind in der Regel weniger heterogen aufgebaut. Histologisch vergleichbar sind die in Nagern durch das Karzinogen N-Methylnitrosoharnstoff hervorgerufenen Harnblasentumoren, mit denen folgender Versuch durchgeführt wurde. Im Anschluß an die chemische Karzinogenese wurde den Nagern die Dosis des Mistelextraktes verabreicht, die in den ersten Versuchen eine deutliche Stimulation des Immunsystems bewirkt hatte. Obwohl auch diesmal das Immunsystem durch den Mistelextrakt stimuliert wurde, konnte kein Schutz vor einer Tumorentwicklung beobachtet werden. Im Gegenteil, es wurde eine Tendenz zur Entwicklung aggressiverer Tumoren festgestellt. Erfolgte die Verabreichung des Mistelextraktes noch vor der Tumorinduktion, war die Ausbildung größerer, aggressiverer Tumoren statistisch signifikant gegenüber der Kontrollgruppe. Statt einer Tumorprotektion oder -prophylaxe fand eine Schädigung der Tiere statt. Der allgemeine Wissensstand zur Wirkung proinflammatorischer Zytokine belegt, daß z.B. IL-6 ein autokriner und parakriner Wachstumsfaktor für Melanome und häufige Karzinome wie Ovarial-, Mamma- oder Nierenzelltumoren ist, der zudem Kachexie verursacht und dessen Konzentration negativ mit der Überlebenszeit korreliert. Bei fortgeschrittenen Melanomen führt IL-6 zu einem schnelleren Wachstum in vivo, daher werden bei Plasmozytomen auch IL-6-Antikörper therapeutisch eingesetzt. Da onkologische Humanversuche mit standardisierten Mistelextrakten sich nach den Ergebnissen der Tierversuche nicht empfehlen, wurde eine Versuchsreihe mit Gewebekulturen von humanen kolorektalen Tumorzellen duchgeführt. Mit Mistellectinen behandelt, zeigten sie in einem Fall eine Wachstumshemmung, in einem anderen Fall jedoch eine Wachstumsstimulation.

Fazit Da in der Heilkunde der Grundsatz "primum non nocere" gilt, ist im Sinne eines Patientenschutzes bei der Therapie mit Mistelextrakten Vorsicht geboten, denn zumindest im Tierversuch wurde eine Schädigung durch diese Behandlung nachgewiesen. Professor Gabius erinnerte an ein Zitat von Demosthenes: Jeder glaubt gern, was er wünscht, die Dinge sind aber oft anders beschaffen. Dr. P. Högger

Literatur Rüdiger, R., H.-J. Gabius: Lectinologie - Geschichte, Konzepte und pharmazeutische Bedeutung. Dtsch. Apoth. Ztg. 133, 2371-2381 (1993). Reuter, G., H.-J. Gabius: Proteinglykosylierung - Struktur, Funktion und pharmazeutische Bedeutung. Dtsch. Apoth. Ztg. 137, 1319-1335 (1997).

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