Fachliteratur

Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen

Botanik, Ethnopharmakologie und Anwendung. Von Christian Rätsch. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart und AT Verlag Aarau 1998. 941 Seiten, 800 Farbfotos und zahlreiche sw-Abbildungen. Subskriptionspreis bis 31. 10. 98 198 DM, danach 228 DM.

Die "Pflanzenlaboratorien" produzieren die verschiedensten Wirkstoffe, die sich der Mensch zunutze macht. Zu den außergewöhnlichsten und mitunter unheimlichsten Wirkungen mancher Pflanzen gehört ihre Einwirkung auf die menschliche Psyche. Sie besteht in einer Stimulierung der Sinneswahrnehmungen bis zu einer tiefen Bewußtseinsveränderung. Eine systematische Erforschung psychoaktiver Pflanzen begann, als Ernst von Bibra 1855 erstmals solche Pflanzen ausführlich darstellte und in ihren Wirkungen beschrieb; damals eine literarische Sensation. Der kultische Gebrauch einer besonders tief in die Psyche greifenden Gruppe von Halluzinogenen - auch Psychedelika ("die Psyche manifestierend") oder Entheogene ("das Göttliche erweckende") genannt - wurde erst Anfang dieses Jahrhunderts bei Indianerstämmen Mexikos entdeckt, was weltweit eine ethnobotanische Durchforschung abgelegener Gebiete nach derartigen Pflanzen zur Folge hatte. Die Forschungen haben ergeben, daß weltweit ein traditioneller Gebrauch von psychoaktiven Substanzen existiert hat oder noch existiert. Insbesondere spielten sie in früheren Kulturen, bei gewissen Ethnien auch heute noch, eine bedeutende Rolle als magische und heilige Drogen im religiös-zeremoniellen Bereich. Fast jeder Mensch nimmt unbewußt täglich Produkte einer oder mehrerer psychoaktiver Pflanzen zu sich, wobei der Gebrauch in den südamerikanischen Ländern geradezu extrem ist. In der modernen Welt sind es vor allem die profanen Genußgifte Kaffee, Tee, alkoholische Getränke, Tabak. Dazu kommen zahlreiche speziellere psychoaktive Substanzen bzw. Psychopharmaka mit und ohne Wahrnehmungsveränderungen der drei Gruppen: Stimulantien, Sedativa/Hypnotika/Narkotika, Halluzinogene. Im Hinblick auf diese Verbreitung ist die Kenntnis über die Grundlagen und Wirkungen bzw. Auswirkungen dieser Drogen sehr wünschenswert. Der Autor, er nennt sich Altamerikanist und Ethnopharmakologe, hat in einer intensiven Literaturrecherche und eigenen Feldforschungen alle ihm bekannt gewordenen psychoaktiven Pflanzen oder solche, die dafür gehalten werden (z.B. Digitalis purpurea, Ginseng, Alraune, Kamille, Passiflora, Tagetes-Arten), interdisziplinär und umfassend in diesem durchweg auf Kunstdruckpapier gedruckten, reich bebilderten Band zusammengetragen. Besonders hervorzuheben ist die ausgezeichnete Ausstattung mit Farbfotos der vorgestellten Pflanzen im Format 4◊5 bis 5◊8 cm. Der Begriff "psychoaktiv" ist dabei weit ausgelegt, und man kann geteilter Meinung darüber sein, ob letztlich alle aufgeführten Pflanzen und Präparate zu dieser Gruppe gerechnet werden können. Die meisten der vorgestellten Pflanzen gehören zu den psychoaktiven Giften im engeren Sinne, den Halluzinogenen. Die je nach Wissensstand größeren oder kleineren Monographien sind alphabetisch nach dem botanischen Namen geordnet (Seiten 28-618), jeweils mit ausgewählter Literatur. Es folgen Kapitel über psychoaktive Pilze (Seiten 619-693), psychoaktive Produkte (Seiten 696-809), Pflanzenwirkstoffe (Seiten 812-870) sowie eine Tabelle psychoaktiver Pflanzen und Pilze nach botanischer Systematik. Eine 27 Seiten starke allgemeine Bibliographie und das 32 Seiten umfassende Stichwortverzeichnis, das sich jedoch fast nur auf Pflanzen bezieht, beschließen das Buch. Der Schwerpunkt des Werkes liegt eindeutig in Süd- und Mittelamerika, dem Haupteinsatzgebiet dieser Art Pflanzen, gefolgt von Asien und Europa. Afrika mit seiner reichhaltigen, artenreichen Flora ist wenig vertreten, wie überhaupt die psychoaktiven Pflanzen Afrikas (außer den eingeführten) kaum erforscht sind. Obwohl afrikanische Heilkundige zahlreiche Pflanzen psychoaktiv einsetzen, sind deren genaue Wirkungen und Wirkstoffe meist noch unbekannt. Es ist allerdings unverständlich, daß der Autor die wichtige, in West- und Zentralafrika verbreitet psychoaktiv genutzte, chemisch wie pharmakologisch intensiv bearbeitete Rauwolfia vomitoria nur beiläufig erwähnt. Der "berauschende" Effekt der als psychoaktiv angeführten, dem Autor nicht weiter bekannten südafrikanischen Arzneipflanze Sclerocaria caffra ("Marula-Baum"; neuerdings: S. birrea ssp. caffra) dürfte auf die alkoholisierenden Eigenschaften der vollreifen Früchte zurückzuführen sein. Bekannt ist das im Frühjahr im südlichen Afrika zu beobachtende, köstliche Schauspiel betrunken torkelnder und fallender Wildtiere (Affen, Antilopen, Elefanten), die sich große Mengen der abgefallenen, vollreifen Früchte einverleibt haben und deren "Magenbrauerei" daraus Alkohol produziert. Verbreitet wird im südlichen Afrika daraus Bier, Likör ("Amarula") und Wein hergestellt. Der Fruchtsaft spielt bei religiösen Zeremonien einiger Ethnien eine Rolle. Der Hauptteil des Buches, die Monographien, umfaßt die Botanik mit Formen, Unterarten und Synonymen, dem Autor bekannt gewordene volkstümliche Namen sowie eine knappe Beschreibung der Pflanze, gefolgt von ihrer Geschichte, der traditionellen und rituellen Verwendung. Botanische Praktiker werden sicherlich die wertvollen Hinweise über den Anbau der Pflanzen begrüßen. Es folgen Angaben zur Zubereitung und Dosierung, die auf Fremdangaben und auf Selbstversuchen beruhen. Insbesondere dem kultischen Gebrauch der psychaktiven Drogen und ihrer Wirkung auf den Menschen wird viel Raum gewidmet. Hier erfährt der Leser viel Interessantes zur Geschichte und zum Einsatz der Pflanze, zu ihrem Wirkprofil und nicht zuletzt zu den Sitten und Bräuchen mancher Völker. Ein Abschnitt ist den "Artefakten" der Pflanze gewidmet, z.B. ihrer Darstellung in der Kunst und durch ihren Genuß inspirierten Kunstwerken. Die meisten psychoaktiven Pflanzen haben auch medizinisch-therapeutische Bedeutung. Ein entsprechender Abschnitt informiert über traditionelle, schulmedizinische und homöopathische Anwendungen. Der Abschnitt Inhaltsstoffe ist für den Zweck des Buches ausreichend. Die Inhaltsstoffe sind unterschiedlich, mehr oder weniger vollständig, meist als Aufzählung aufgeführt, selten kritisch betrachtet und mitunter recht eigenwillig interpretiert (z.B. Passiflora). Für diesen Abschnitt wäre es sinnvoll gewesen, einen Phytochemiker oder Pharmazeuten mit heranzuziehen. Hier und da sind einige wohlbekannte oder speziellere Strukturformeln beigefügt. Wichtigen psychoaktiven Substanzen, wie Atropin, Bufotenin, Codein, Cytisin, Tryptamine, Ephedrin, Mescalin, Coffein, Cocain, Yohimbin, Ibogain, ist ein gesondertes Kapitel mit Schwerpunkt auf den pharmakologischen Wirkungen gewidmet. Im Kapitel "Psychoaktive Produkte" wird der Leser mit alten und neuen Kombinationspräparaten bekannt gemacht, von den alten Theriaks über Bier, Honig, Hexensalben, Betelbissen, Schlafschwamm, Schnupfpulver und Zombiegift bis zu orientalischen Fröhlichkeitspillen, Räucherwerk, Ayahuasca und der Modedroge Ecstasy. Das Buch ist ein sehr brauchbares Nachschlagewerk, aber auch bestens zum Schmökern geeignet. Es ist flüssig geschrieben und gibt auch dem interessierten Laien viel Interessantes zu lesen. Man erhält m.E. einen hervorragenden Überblick über diese spezielle Gruppe von Pflanzen mit einer Fülle von Informationen zu den verschiedensten Themen. Die eine oder andere weniger bekannte Pflanze mag Chemiker, Pharmazeuten und Medizinier anregen, sich näher damit zu befassen. Alles in allem ein Werk, das auf jeden Fall sein Geld wert ist.

H. D. Neuwinger, St. Leon-Rot

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