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Homo pharmacologicus: Sloterdijks philosophische Anmerkungen zum Arzneimittelgeb

BADEN-BADEN (bra). Der Karlsruher Philosoph Prof. Dr. Peter Sloterdijk beleuchtete in seinem Baden-Badener Vortrag unter dem Titel "Homo pharmacologicus" philosophische Aspekte der Medizin und Pharmazie - mit überraschenden Einblicken nicht nur in die Geschichte der Heilkunst, sondern auch auf aktuelle Aspekte der Medizin und des Arzneimittelgebrauchs. Die Philosophen auf der einen Seite und die Ärzte und Apotheker auf der anderen Seite hätten schon in alter Zeit einen gemeinsamen Blick auf dem Menschen gehabt. Sloterdijk arbeitete heraus, daß die Ärzte und Apotheker es heute zunehmend mit einem neuen Patiententypus, dem "Impatienten" zu tun haben - ein Gegenüber, das sich nicht mehr durch sprachlose Geduld auszeichne, also alles andere sei als ein "Homo patiens". Er beleuchtete darüber hinaus gemeinsame Aspekte von Pharmazie und Philosophie und beschäftigte sich am Schluß seiner brillant vorgetragenen Überlegungen mit einem von ihm konstatierten Paradigmenwechsel weg von einer Kultur der Krankheit hin zu einer Kultur der Leistungssteigerung.

Die Apotheke hat für Sloterdijk eine Aufgabe im "Feldzug zwischen dem besseren Wissen und dem gesunden Menschenverstand". Sie habe eine wichtige Funktion bei der Vermittlung von Wahrheit. Denn zu viel Wahrheit töte den Menschen, zu wenig lasse ihn verwildern, so Sloterdijk. Die Apotheke als "Allopathie der Vernunft" biete ein Gegengewicht zur Expertokratie, die die Gesellschaft mit Innovationen geradezu traktiere.

Der unduldsame Patient Nach Sloterdijk haben es die heutigen Ärzte und Apotheker mit einem neuen Typus von Patienten zu tun. Der Patient sei heute im Wortsinne kein Homo patiens mehr, nicht mehr ein Mensch, der sich in sprachloser Geduld übe. Er sei vielmehr auf dem Markt von Gesundheitsdienstleistungen ein unduldsamer Klient für die Ärzte und Apotheker. Er sehe sich im Recht, "von der Natur seine Guthaben zurückzufordern". Die Ärzte und Apotheker hätten sich darauf eingestellt. Die impatientische Nachfrage habe ein kongeniales ärztliches und apothekerliches Angebot hervorgerufen, Ärzte und Apotheker hätten sich mit den ungeduldigen Patienten verbündet. Für den modernen Menschen sei es ein Unding und schlechterdings unannehmbar, daß er weiterhin der Spielball einer "biologischen Tyrannei" sein solle. Der moderne Kranke habe mit der Rolle des alten Adam oder des Christus gebrochen, er sei ausgebrochen aus dem ancien régime der Verkleinerung, der Demütigung, der Entstellung, die Krankheit mit sich bringen könne. "Unheilbarkeit" sei angesichts des grassierenden Fortschrittsbewußtseins ein unannehmbarer Begriff für den Menschen geworden. Er wolle den Fortschritt am eigenen Leib: Heilbarkeit und Heilung, die wirklich machbar ist.

Rationalistische Euphorie Der allgemeine Willen zum Heilen-Können sei der eigentliche Triebgrund der Pharmazie gewesen. Die Mittel, die die Pharmazie biete, seien der Versuch, Ursache und Wirkung in einen neuen Kontext zu bringen. Schon bei den frühen Pharmakologen sei der Begriff des Mittels alles andere als trivial gewesen. Es gehe um den tiefen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, um die Ablösung des früher üblichen Blinde-Kuh-Spieles bei der Bekämpfung von Krankheiten. Selbst bei Hahnemann sei diese rationalistische Euphorie zu beobachten gewesen. Auch er habe versucht, der 2000jährigen Schande der Medizingeschichte, dem Halbwissen und dem Zufall ein Ende zu bereiten. Der Umschwung sei in der Aufklärung gekommen, im 18. Jahrhundert, mit dem Bekenntnis zum Können: "Ich kann, weil ich weiß; und ich weiß, weil ich selbst versucht habe". Vor diesem Hintergrund greifen die neuen Impatienten nach Sloterdijk nach der Macht, indem sie Erfolge verlangen. Mit Bloch zu reden: Das Verlieben ins Gelingen ist der neue Wärmestrom geworden, alles soll gewiß sein, sicher und leicht zu erreichen, und dauerhaft. Diesem Anspruch müßten sich auch die Mittel der Pharmazie stellen, wenngleich es sicher schwer sei, ein Mittel zu finden, das all diese Eigenschaften auf sich vereinen könne.

Individualisierung der Gesellschaft Auf welche Weise sich Menschen be"mitteln", sei allerdings unterschiedlich, sei Wandlungen unterworfen. Für die Zukunft prognostizierte Sloterdijk einen immer individualistischeren Charakter der Mittel. Die moderne Gesellschaft sei eine Gesellschaft freigesetzter Individuen, allenfalls noch zusammengefaßt durch die modernen Medien und die "Mittel", derer sie sich bedient. Medien und Mittel seien die Leitbegriffe einer Zeit, in der sich die Gesellschaft zunehmend über Computer, über Fernsehen und über Internetkontakte konstituiere. Der Eigenbrötler - derjenige, dem selbst der Weg zum Bäcker zu weit ist - werde immer häufiger. Wenn es die modernen Medien nicht gäbe, so Sloterdijk, dann würde sich die deutsche Gesellschaft in "80 Millionen vollverkabelte Höhlenbewohner auflösen".

Die Rolle des "X" Als Ersatz für das Heilige, dessen prägende Kraft in der Gesellschaft abgenommen hat, böten die Mittel der unterschiedlichsten Art die Klammern für die Gesellschaft: Die Verkehrsmittel ebenso wie die Zahlungsmittel, die Schönheitsmittel ebenso wie die Rechtsmittel, und nicht zuletzt auch die Heilmittel. "Unbemittelt" ist der Mensch, so Sloterdijks Auffassung, arm dran. Er sei abhängig von Ergänzungen, die von außen kommen müßten. Bei den Heilmitteln sei dieses X der Kern eines "plazebologischen Mysteriums", das seinen Topos in der Apotheke habe. Die Apotheke sei gewissermaßen der topologische Mehrwert. Immer werde dem Menschen dort ein X zusätzlich mitgegeben, wenn er etwas in der Apotheke kaufe. Ohne dieses X könne sonst "jeder jedem alles geben". Das aber hält Sloterdijk für eine individualistische Illusion, die nie illusionärer als heute gewesen sei. Der Mittelabhängigkeit, der Abhängigkeit von Mitteln können wir kein Schnippchen mehr schlagen, so Sloterdijk. Vor diesem Hintergrund sieht Sloterdijk den Apotheker und auch den Arzt in der Rolle von "Anwälten in Körpersachen": "Auch auf dem kürzesten Weg von mir zu mir komme ich immer beim Apotheker vorbei", meinte der Philosoph, der zugleich auch an Hegel erinnerte, der deutlich gemacht habe, daß man immer erst auf einem langen Weg zu sich selbst finde.

Philosophen und Sophisten Auch Platon spielt mit Blick auf die Pharmazie eine gewichtige Rolle, so Sloterdijk. Selbst dann, wenn der Mensch mit sich selber rede, sei er immer mindestens zu dritt. Einmal spreche in ihm der Anwalt der guten Sache, der Philosoph gewissermaßen. Zum zweiten sei da der Anwalt der schlechten Sache, der sich von jedermann anwerben lasse und Argumente für dieses und jenes liefere - der typische Sophist. Und schließlich sei da noch in jedem auch derjenige, der sich anhöre, was der Philosoph und der Sophist vorzubringen habe, der also gewissermaßen ein innerer Schiedsrichter sei. Der Apotheker müsse sich entscheiden, welche Rolle er gegenüber dem Patienten zu spielen beabsichtige - die des Philosophen oder die des Sophisten. Er müsse entscheiden, ob er eine raffinierte ("sophisticated") Argumentation vortragen wolle, oder ob er durch seine Beratung das Bessere zum Erfolgreichen machen wolle. Wenn sich der Apotheker zum Händler schlechter Mittel mache, so werde er zum Sophisten zweiten Grades. Auch die Rückzugspositionen auf den Standpunkt, "daß zumindest nicht falsch sein konnte, was nicht unmittelbar schade", sei ein erster Schritt in diese Richtung.

Drift zu "Lebenssteigerungsmitteln" Sloterdijk sieht den Arzt und den Apotheker in einen sozialpsychologischen Großtrend eingebettet, in Zukunft werde es nicht mehr nur um die Heilung von Krankheit gehen. Ärzte und Apotheker würden gewissermaßen immer mehr zu inneren Sportmedizinern, die es mehr mit legalen Leistungsdrogen als mit Arzneimitteln im alten Sinn zu tun hätten, mit denen Krankheiten therapiert würden. In Zukunft gehe es häufig weniger um Lebensmittel oder um Heilmittel, sondern vielmehr um Lebenssteigerungsmittel. Daran seien die Menschen zunehmend interessiert und in diese Richtung würden auch die Pharmazeutika driften, so meinte der Philosoph. Diese Entwicklung liege in einem Trend, die auch die Triebkraft des Kapitalismus gewesen sei: weil die Europäer Gewürze wollten, weil sie die Veredlung des Genusses gesucht hätten, mit Marx zu sprechen einen aromatischen Mehrwert gewissermaßen, hätten sich die heutigen Formen der Gesellschaft entwickelt: "Der Geist der Utopie beginnt am Gaumen", so Sloterdijk. Er konstatierte eine moderne Trias von Mitteln, die auf Lebenssteigerung aus seien, von Mitteln, denen es um die Lebensverklärung gehe und von Mitteln, die Sicherheit bieten sollen. Wenn die moderne Pharmazie sich diesen Ansprüchen stelle, dann werde sie mit Zuspruch rechnen können.

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