DAZ aktuell

Streit um "Igel": Ärzte und Krankenkassen im Clinch

Die niedergelassenen Ärzte und die gesetzlichen Krankenkassen sind heftig aneinandergeraten. Grund ist der Katalog "individueller Gesundheitsleistungen", Igel genannt, in dem die Ärzte auflisten, welche Leistungen nicht zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehören.

Eine Liste zur reinen Einnahmevermehrung sei das, warfen die Krankenkassen den Ärzten vor, die sich damit in eine "schreckliche Sackgasse" begäben. Die Liste sei lediglich eine Klarstellung dessen, was außerhalb der GKV von Patienten nachgefragt werde, konterten die Mediziner, die Kritik der Kassen daher "gezielte Fehldarstellung" und "Polemik".
Im Igel sind rund 70 ärztliche Leistungen zusammengefaßt, die nicht von den Krankenkassen bezahlt werden, aber dennoch von Patienten in der Arztpraxis nachgefragt werden. Wie Dr. Winfried Schorre am 18. März vor Journalisten in Bonn sagte, gehören dazu Leistungen, die ärztlich empfehlenswert oder zumindest ärztlich vertretbar sind. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, welche die rund 110000 Vertragsärzte repräsentiert, bezeichnete die Liste als Klarstellung dessen, was außerhalb der GKV geschehe und verwahrte sich gegen den Vorwurf der Leistungsausgrenzung und Bereicherung. Angesichts der schwierigen finanziellen Lage der GKV dürften "Wunschleistungen" der Patienten außerhalb der GKV-Zuständigkeit nicht über die Chipkarte in Anspruch genommen werden. Schorre verdeutlichte dies an mehreren Beispielen. Wenn sich ein Versicherter vor einem Asienurlaub reisemedizinisch beraten lasse, sei dies ärztlich sehr wohl empfehlenswert, müsse dann aber ebenso aus der eigenen Tasche bezahlt werden wie etwa der Wunsch nach Entfernen von Tätowierungen. Wie Schorre sagte, geht es nicht um die Ausgrenzung von Leistungen, sondern um die Abgrenzung, was die Kassen heute schon nicht bezahlen dürfen, weil es dem Grundsatz widerspreche, wonach nur die ausreichende und zweckmäßige Leistung bezahlt werden soll. Gerade angesichts der angespannten finanziellen Lage der GKV bedeute es eine Entlastung der Solidargemeinschaft, wenn Versicherte ihre Wunschnachfragen selbst tragen. Wünschen Patientinnen beispielsweise mehr als die von der GKV bezahlten Ultraschalluntersuchungen während einer Schwangerschaft, sei es ärztlich vertretbar, weitere Sonographien vorzunehmen, um die Patientin von Ängsten zu befreien, dies solle jedoch nicht zu Lasten der solidarisch finanzierten GKV gehen. Insgesamt dürften die mündigen Bürger, die individuelle Entscheidungen zur Gesundheitsvorsorge träfen, nicht bevormundet werden. Schorre hob mit Nachdruck auf die Freiwilligkeit ab, niemand werde gezwungen, Igel-Leistungen anzunehmen. Es sei vielmehr ein Schritt in Richtung Dienstleistung, die bei Inanspruchnahme privat liquidiert werde.
Wie Dr. Lothar Krimmel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der KBV, sagte, benötigten die niedergelassenen Ärzte eine Klarstellung, um den Patienten in den Praxen zu verdeutlichen, was die Kassen nicht zahlen dürfen. Demnach will die KBV keine Werbekampagne mit dem Igel-Katalog starten, aber womöglich zur Information in den Praxen aushängen. Die Vertreter der KBV sowie mehrerer Ärzteverbände warfen den Krankenkassen vor, den Versicherten mit unseriösen Leistungsangeboten zu suggerieren, sie könnten reine Wunsch-Leistungen als "Service-Leistungen" bezahlen. Wichtig sei die Definition des medizinisch notwendigen. Im ersten Schritt könne der Igel-Katalog helfen, in einem zweiten solle der gemeinsame Bewertungsausschuß der Ärzte und Kassen klären, welche Leistungen in den GKV-Katalog gehören und welche nicht. Die KBV forderte die Krankenkassen auf, wieder an den Verhandlungstisch zu kommen.

Die gesetzlichen Krankenkassen haben heftige Kritik am Igel-Katalog geübt. Die Mediziner hätten aus überflüssigen, gefährlichen oder neuen medizinischen Leistungen eine Liste geschmiedet, um sich selbst neue Einkommensquellen zu schaffen, sagte Dr. Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbands, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der gesetzlichen Krankenkassen am 17. März in Bonn. Die Kassen warnten daher ihre Versicherten, sich keinesfalls derartige Leistungen aufdrängen zu lassen und privat zu bezahlen. Die Ärzte stellten hier eindeutig finanzielle Interessen in den Vordergrund, dies gefährde massiv das Arzt-Patienten-Verhältnis. Die KBV solle die Liste zurückziehen, ansonsten seien die Kassen die Rechtsaufsichten gefordert, so Ahrens. Angesprochen darauf sagte Ärztevertreter Schorre, es gebe keine Grundlage dafür.

"Ärzte geben Grundkonsens auf"
Ersatzkassenchef Herbert Rebscher warf den Ärzten vor, den Grundkonsens aufgegeben zu haben, daß Ärzte und Kassen gemeinsam definieren, was sinnvoll sei und von der GKV bezahlt werde und was nicht. "Unethisch" sei der Igel-Katalog deshalb, weil er auch Leistungen enthalte, die der Bundesausschuß der Ärzte und Kassen noch nicht für würdig genug für den GKV-Leistungskatalog befunden habe, qualitativ ungesichertes werde aber durch eine Privatliquidation nicht sinnvoller. Der IKK-Bundesverbandsvorsitzende Rolf Stuppardt übersetzte Igel mit "ideale Geld-Erschließungs-Leistungen". Rund 80 Prozent der aufgelisteten Leistungen erfüllten keinen
sinnvollen medizinischen Zweck.

Streit um das Sinnvolle
Dr. Heinz-Harald Abholz, beratender Arzt des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen, warnte vor einem übermäßigen Ausweiten etwa von Screenings. So sei beispielsweise Sonographie der hirnzuleitenden Gefäße wegen der Schäden, die den Nutzen überwögen, nicht in den GKV-Katalog aufgenommen worden. Der Arzt verwies auf die falsch-positiven Befunde, die bei einer Ausweitung noch zunehmen würden. Bei der Sonographie der Halsschlagadern würden viele Patienten mit eingeengten Gefäßen gefunden, die jedoch voraussichtlich nicht operiert würden, da die Folgen der Operation größer als der Nutzen sein könnten.
Angesprochen darauf argumentierte KBV-Chef Schorre, viele Leistungen brächten beim kollektiven Einsatz nur unbefriedigende Ergebnisse, seien jedoch im Einzelfall sinnvoll. So sei es verständlich, wenn ein Versicherter, der bereits Verwandte durch Schlaganfälle verloren habe, sein eigenes Risiko überprüfen wolle.


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