Arzneimittel und Therapie

Chirurgie: Menschliche Ersatzteile aus dem Reagenzglas

Für abgenutzte oder kranke Organe des Menschen gibt es heutzutage bereits ein umfangreiches Spektrum an ≥Ersatzteilen„. Diese künstlich gebildeten Teile können jedoch die natürliche Funktion von Geweben und Organen nur unzureichend ersetzen. Große Hoffnung setzen Mediziner, Zellbiologen und Biotechnologen aber in das sogenannte tissue engineering mit dem Ziel, körpereigenes Gewebe und in fernerer Zukunft auch funktionsfähige Organe im Labor zu züchten.

Von der Zahnprothese bis zum Hüftgelenk aus Stahl oder Keramik, von der künstlichen Augenlinse bis zu Herzklappen aus Kunststoff erstreckt sich das inzwischen recht umfangreiche Ersatzteillager für verbrauchte menschliche Organteile. Wenn ganze Organe versagen, hilft meist nur noch die Transplantation. Immunologische Schwierigkeiten sind heutzutage einerseits weitgehend beherrschbar, doch stellen sie immer wieder eine besondere Herausforderung für Chirurgen und Internisten dar. Inzwischen arbeiten Mediziner, Zellbiologen und Biotechnologen jedoch mit Hochdruck daran, gezielt künstliche Gewebe aus lebender Materie im Labor zu erzeugen. Ähnlich wie bei der Gentechnologie (engl. genetic engineering) tut sich hier ein weites interdisziplinäres Feld auf, das sich mit der deutschen Bezeichnung ≥Gewebezüchtung„ wohl nur unzureichend beschreiben läßt. Passender erscheint hierfür die englische Bezeichnung ≥tissue engineering„. Heute schon prophezeien Wissenschaftsökonomen diesem Zweig der Biotechnologie eine mindestens ebenso rasante Entwicklung wie der Gentechnologie. Die für diese Zukunftsvision benötigten Verfahren und Technologien sind großenteils bereits verfügbar, und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die verschiedenen Versuchsansätze auch beim Menschen anwendungsreif werden.

Künstliche Haut
Die meiste Erfahrung besitzen die Forscher bislang in der Züchtung einer künstlichen Haut. So können beispielsweise Gewebestücke aus menschlicher Haut von ca. 1 cm2, die durch eine Biopsie gewonnen wurden, in einer speziellen Zellkultur auf die 10000fache Fläche vergrößert werden. Hautzellen wachsen hierbei auf einer Nährschicht aus Fibroblasten, welche sich in einer Zellkulturflüssigkeit leicht züchten lassen. Wenn die im Kulturmedium gewachsenen Hautstücke eine bestimmte Größe erreicht haben, lassen sie sich beispielsweise auf großflächige Brandwunden übertragen. Der Vorteil solcher Transplantationen liegt darin, daß keine Abstoßungsreaktionen zu erwarten sind; das gewachsene Transplantat stammt nämlich vom Patienten selbst. An der Freiburger Universitätsklinik für Chirurgie, Abteilung für Plastische und Handchirurgie, hat man bereits weitreichende Erfahrung auf dem Gebiet der Verbrennungsbehandlung. Zunächst übertragen die Ärzte Fremdhauttransplantate, die vorübergehend in die großflächige Wunde einheilen. Nach etwa drei Wochen ist genügend eigenes Hautgewebe in einem Zellkulturmedium gewachsen. Dieses gezüchtete Eigengewebe steht dann für eine Transplantation zur Verfügung.

Auf welchem Materialwachsen Gewebe?
Eine technische Herausforderung ist die Suche nach geeigneten Materialien, auf denen Gewebe wachsen können. Es gibt Ansätze, Fibroblasten auf einer Matrix aus beispielsweisen Polyglykol zu züchten. Überträgt man schließlich solche mit Zellen bewachsenen Kunststoffolien auf einen Patienten, der tiefe Verletzungswunden hat oder an chronischen Beingeschwüren, den ≥offenen Beinen„ leidet, hat man gute Chancen, daß dieses Transplantat als Ersatzhaut vom Körper angenommen wird und anwächst. Der Kunststoff wird nach und nach biologisch abgebaut, das lebende Gewebe bleibt zurück.

Nasen und Ohren nach Maß?
Schon sind die Forscher dabei, komplizierter geformte Gebilde wie Nasen und Ohren computergestützt nach Maß zu ermitteln und ein entsprechendes Kunststoffpolymergerüst zu gestalten. Auf dieses Gerüst, das als Schablone dient, werden Knorpelzellen ≥aufgesät„, die sich unter geeigneten Kulturbedingungen vermehren und zusammenwachsen, bis sie das Formteil fast gänzlich ausfüllen. Zellkulturen aus Knorpel- und Knochengewebe können weiterhin dazu dienen, abgenutzte Gelenke zu ersetzen.

Ersatz-Hüftgelenkeaus Kunststoff und Knorpelzellen
Ersatz-Hüftgelenke werden zukünftig nicht mehr aus Keramik oder Metall bestehen, sondern aus einer Kunststoffmatrix, die mit einer Zellkultur aus Knorpel- und Knochenzellen durchsetzt ist. Der Kunstgriff besteht nun darin, ein Material zu finden, das sich in dem Maße biologisch abbaut, wie sich der neue Knochen in seiner Festigkeit restrukturiert. In Zukunft wird sich die plastische Chirurgie solcher Implantate bedienen, um fehlende Körperteile zu ersetzen. Der Wiederaufbau ganzer komplizierter Körperteile wie Hände und Arme mit der Gewebetechnik dürfte sich jedoch erst in ferner Zukunft realisieren lassen.

Weitreichende Visionen
Die Visionen der Forscher sind weitreichend: Eine neue, eigene Augenhornhaut könnte wieder ein ungetrübtes Sehvermögen gestatten, Leber- und Nierenzellen können vielleicht sogenannte Organoide hervorbringen, organähnliche Gebilde, welche die entsprechenden Organfunktionen zumindest teilweise ersetzen. So können Wartezeiten bis zu einer möglichen Transplantation überbrückt werden, oder das erkrankte Organ wird so weit entlastet, bis es sich von selbst wieder erholt hat. Diabetiker leiden häufig an einem totalen oder teilweisen Verlust der Funktion hormonbildender Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Wenn nun intakte Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen in winzige Kunststoffkügelchen aus Polysaccharidalginat oder Polyacrylat eingekapselt und einem Diabetiker transplantiert werden, könnte auf diese Weise eine natürliche Kontrolle des Zuckerhaushaltes wiederhergestellt werden. Der Kunststoff sollte in diesem Fall jedoch nicht biologisch abbaubar sein, sondern vielmehr die Funktion haben, die fremden Inselzellen vor Immunattacken zu schützen.

Wirtschaft und Industrie sind auf diesen explodierenden Zweig der Biotechnologie bereits aufmerksam geworden. In Freiburg wurde von einer Gruppe aus Wirtschaft und Medizin die Idee einer trinationalen Bio Valley-Initiative am Oberrhein geboren, die sich inzwischen unter der Bezeichnung Valley TEC (Valley Tissue Engineering Center) etabliert hat. Eine ähnliche Initiative gibt es in den USA in Pittsburgh, wo ein Modell besteht mit dem Ziel, die Entwicklung künstlichen Gewebes in Kooperation zwischen Wissenschaft und Industrie durchzuführen.

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