Bericht

Multiple Sklerose: Angriff auf das Selbst

Multiple Sklerose, MS - die Diagnose ist für die Betroffenen zunächst einmal ein Schock. Etwa 100 000 bis 150 000 Menschen in Deutschland müssen mit dieser entzündlichen Erkrankung des Nervensystems leben, die mit zunehmender Dauer zu immer stärkeren neurologischen Schäden führt.

Doch in den letzten Jahren hat sich einiges getan: Zwei Interferone, Interferon beta-1a und -1b sind bereits zur Behandlung der MS auf dem Markt. Ein weiteres Arzneimittel, Copolymer 1 oder Glatirameracetat, ist bereits in den USA erhältlich und wird voraussichtlich Ende 1997 in Deutschland eingeführt.

Immuntherapien zur kausalen Behandlung

Obwohl es mittlerweile zugelassene und wirksame Arzneistoffe zur Behandlung der MS gibt, sind von ihnen keine Wunder zu erwarten, heilen kann man die MS nicht. Deshalb muß das Therapieziel gemeinsam mit dem Patienten festgelegt werden, um übersteigerte Erwartungen zu reduzieren. Das optimale Ziel ist ein Stillstand der Erkrankung, mit einer dauerhaften Besserung können nur die wenigsten Patienten rechnen. In den letzten Jahren sind zwei Beta-Interferone zur Immuntherapie der MS in den Markt eingeführt worden: Interferon beta-1a und -1b. Beide Interferone wirken wahrscheinlich auf die trimolekulare Komplexe aus autoreaktiven T-Zellen, dem Myelin-Autoantigen und der antigenpräsentierenden Zelle mit dem MHC-Komplex. Die Beta-Interferone hemmen die autoimmunen Prozesse, die über diesen Komplex ausgelöst werden, beispielsweise die Bildung von Interferon gamma und Tumornekrosefaktor alpha. Interferon beta-1b (Betaferon®) wurde in einer Studie mit 372 Patienten über fünf Jahre geprüft. Dabei zeigte sich eine deutliche Verringerung der Schübe, die Krankheitsprogression wurde etwas verlangsamt, allerdings nicht statistisch signifikant. Die Patienten injizierten sich das Medikament alle zwei Tage selbst subkutan. Für Interferon beta-1a (Avonex®, Rebif ®) wurde eine vergleichbare Minderung der Schubrate in einer Studie mit 301 Patienten nachgewiesen, hier zeigte sich auch eine statistisch signifikante Verringerung der Progression innerhalb von zwei Jahren. Interferon beta-1a wurde einmal wöchentlich intramuskulär injiziert. Hauptnebenwirkungen beider Interferone sind grippeähnliche Symptome. Durch die Behandlung kann sich eine ohnehin häufig vorhandene Depression noch verschlimmern, suizidgefährdete Patienten sollten daher nicht auf Interferon beta eingestellt werden. Ein Problem der Interferontherapie ist die Bildung von neutralisierenden Antikörper, die bei Interferon beta-1a bei etwa 20%, bei -1b bei etwa 38% der Patienten innerhalb von einem Jahr auftritt und zum Versagen der Therapie führt.

Glatirameracetat (Copolymer 1)

Eine weitere Substanz zur Immuntherapie der MS ist Glatirameracetat oder Copolymer 1. Hierbei handelt es sich um ein Polypeptidgemisch, in dem die Aminosäuren Tyrosin, Lysin, Glutaminsäure und Alanin im Verhältnis 1:3,4:1,4:4,2 vorliegen und damit das myelinbasische Protein (MBP) imitieren, das Hauptantigen bei der MS. Das Substanzgemisch ist hochpolar, gut abbaubar und wirkt sehr spezifisch. Als Wirkmechanismus wird eine Bindung an ein spezifisches MHC-Molekül angenommen. Dadurch wird das Autoantigen MBP (myelinbasisches Protein) aus seiner Bindung an antigenpräsentierende Zellen verdrängt und werden antigenspezifische Supressor-T-Zellen aktiviert, als Folge werden antigenspezifische Effektorfunktionen gehemmt. Glatirameracetat wird einmal täglich subkutan appliziert. Es ist gut verträglich, Nebenwirkungen treten kaum auf. Sehr unangenehm ist eine systemische Postinjektionsreaktion mit Gesichtsrötung, Brustschmerz, Herzjagen und Luftnot, die jedoch nach 5 bis 30 Minuten folgenlos abklingt. Wahrscheinlich tritt diese Reaktion auf, wenn versehentlich kleine Hautvenen getroffen wurden. für die Behandlung mit Glatirameracetat wurde eine Reduktion der Schubrate um bis zu 32% nachgewiesen, auch die Krankheitsprogression wird verlangsamt, allerdings nicht statistisch signifikant. Dabei profitieren wenig behinderte Patienten in einem frühen Stadium der Erkrankung am meisten von der Therapie. Die Substanz ist bereits in den USA und in Israel zugelassen und kann importiert werden. Eine Weiterentwicklung des Copolymer 1 sind Altered Peptide Ligands (APL). Hier wird bei einem Peptid, das im Tierversuch eine der MS entsprechende Reaktion auslösen kann (EAE), eine Aminosäure ausgetauscht. Das Peptid schützt dann vor der MS. APL befinden sich derzeit in Phase I der klinischen Prüfung.

Intravenöse Immunglobuline

Ein weiterer Ansatz zur Behandlung der MS sind intravenöse Immunglobuline. Mit ihnen läßt sich die Schubrate senken und die Progression verlangsamen. Immunglobuline scheinen außerdem die Remyelinisierung zu fördern. Sie werden derzeit auch bei der primär und sekundär chronisch progredienten MS eingesetzt, für die es noch keine wirksame Therapie gibt.

Symptomatische Therapie

Bei einer fortgeschrittenen MS tritt fast immer eine Spastik der Muskeln auf, die unbedingt behandelt werden muß, um die Bewegungsfähigkeit des Patienten so lange wie möglich zu erhalten. Dazu werden sowohl orale antispastisch wirksame Arzneimittel, wie Baclofen und Tizanidin, als auch Physiotherapie eingesetzt. In schweren Fällen kann Botulinumtoxin eine Spastik lösen.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.