Wo Standardisierung fehlt, erhöht Künstliche Intelligenz die Fehlerquote

In vielen Offizinen ist die Hoffnung groß, Künstliche Intelligenz könne schnell die drängendsten Engpässe entschärfen: Personalnot, steigender Beratungsbedarf, organisatorische Brüche. Die Erwartung: ein digitaler Helfer, der rund um die Uhr unterstützt, sortiert, beantwortet und steuert. Die Wirklichkeit sieht nüchterner aus. Künstliche Intelligenz verstärkt vor allem das, was bereits vorhanden ist: klare Standards oder Unsicherheit, gute Abläufe oder Lücken, verlässliche Daten oder Zahlenchaos. Wer unausgereifte Prozesse digital beschleunigt, erhält „Schein‑Effizienz“: schneller mehr vom Falschen.

Im Mittelpunkt steht nicht die nächste große Anwendung, sondern die konkreten Schritte, mit denen eine Apotheke belastbar auf den Einsatz von KI vorbereitet wird. Künstliche Intelligenz entfaltet ihre Wirkung dort, wo Abläufe bereits geordnet sind und Informationen verlässlich vorliegen. Drei typische Einsatzfelder zeigen, warum Grundlagenarbeit den Unterschied macht und was vor dem Start stehen muss.

KI-Assistenz für die Kundenkommunikation

So stellt man sich das vor:

Ein Assistent nimmt Anfragen über Telefon, E-Mail, Messenger oder Website entgegen, beantwortet einfache Anliegen, stellt Rückfragen und leitet bei Beratungsbedarf geordnet an das Team weiter.

Warum es ohne Grundlage scheitert:

Eine Assistenz kann nur so handeln, wie Regeln und Abläufe es vorgeben. Fehlen ein einheitlicher Beratungsstandard, klare Übergabepunkte und dokumentiertes Wissen, hat die KI keine verlässliche Grundlage: Ton und Umfang der Antworten sind unklar, Pflichtfragen sind nicht festgelegt, Eskalationswege fehlen. Zudem existieren oft keine digital hinterlegten Schritte, die nach einer Anfrage automatisch ausgelöst werden könnten (z. B. Rückruf anlegen, Rezeptanforderung starten, Hinweis an den Botendienst). Die Folge ist nicht Entlastung, sondern zusätzlicher Klärungsaufwand.

Was vorher sitzen muss:

Ein knappes Beratungsleitbild für alle Kanäle (Zweck, Grenzen, Eskalation), eine gepflegte Wissensbasis mit Kurzantworten und Zuständigkeiten, verbindliche Pflichtfragen pro Thema sowie definierte Auslöser nach der Antwort (z. B. Ticket, Termin, Rückruf). Erst mit diesen Vorgaben kann eine Assistenz nachvollziehbar handeln und Qualität gleichmäßig sichern.

KI-basierte Bestellungen und Lagerhaltung

So stellt man sich das vor:

Ein System wertet Abverkauf, Saisoneffekte und Lieferfähigkeit aus, erstellt Bestellvorschläge, verhindert Überhänge und reduziert Fehlmengen – die Verfügbarkeit bleibt hoch, das gebundene Kapital niedrig.

Warum es ohne Grundlage scheitert:

Eine Bestellung lässt sich nur steuern, wenn die Daten sauber und die Ziele eindeutig sind. Unbereinigte Stammdaten (Packungsgrößen, Haltbarkeiten, Substitutionen), widersprüchliche Zielvorgaben (Servicegrad vs. Lagerkosten) und fehlende Leitplanken nehmen der KI jede Orientierung. Ohne durchgängige digitale Schnittstellen zwischen Warenwirtschaft, Kasse und Lieferanten fehlen die Signale, die eine Automatik benötigt. Dadurch wirken Vorschläge intransparent und werden umgangen.

Was vorher sitzen muss:

Bereinigte Stammdaten und eine einfache Zielordnung (welcher Servicegrad wird angestrebt, welche Lagerbindung ist vertretbar). Schriftlich fixierte Grenzen wie Mindest-/Höchstbestände, Verfallschutz und Wochenendreichweite. Eine benannte Verantwortung mit festem monatlichen Soll-/Ist-Abgleich zwischen Vorschlag und Realität. Zudem ein klares Bild der Systeme mit Reihenfolge der Konsolidierung. Erst dann kann eine Prognose verlässlich steuern.

KI zur Vorbereitung unternehmerischer Entscheidungen

So stellt man sich das vor:

Übersichten zeigen die wichtigen Kennzahlen; Investitionen, Personaleinsatz und Sortiment werden mit Szenarien vorbereitet. Entscheidungen folgen einer nachvollziehbaren Begründung.

Warum es ohne Grundlage scheitert:

Eine Entscheidungsunterstützung braucht Ziele, Fragen und belastbare Quellen. Fehlen eindeutige Steuerungsziele, bewertet die KI nach beliebigen Maßstäben. Liegen Daten verstreut oder lückenhaft vor (Warenwirtschaft, Kasse, Rechenzentrum, Nebenlisten), entstehen ansprechende, aber irreführende Grafiken. Ohne festen Ablauf, der jede Sichtung in Maßnahmen überführt, bleibt es bei Betrachtung statt Entscheidung.

Was vorher sitzen muss:

Ein kurzes Zielbild mit drei bis fünf Zielen und den dazugehörigen Leitfragen („Welche Entscheidung soll diese Zahl ermöglichen?“). Eine Dateninventur mit Auflistung der Quellen, der Lücken und erster, einfacher Verbesserungen. Ein verbindlicher Auswertungsrhythmus, bei dem jede Sichtung mit ein bis zwei Maßnahmen, Verantwortlichkeit und Termin endet. Erst damit liefert eine Auswertung tragfähige Vorschläge.

In allen drei Fällen gilt derselbe Grundsatz: Eine KI handelt nicht nach Vermutung, sondern nach Vorgabe. Ohne Standards, digitale Abläufe und verlässliche Daten fehlt die Grundlage und die erhoffte Entlastung bleibt aus. Mit klaren Regeln, dokumentiertem Wissen und sauberer Datenlage skaliert die Unterstützung nicht Tempo allein, sondern Qualität.

Zwischenfazit: Die eigentliche Hürde

Das größte Problem der Branche ist nicht die fehlende KI. Die eigentliche Hürde ist die unvollständige Digitalisierung alltäglicher Abläufe. Noch zu vieles wird analog abgelegt, in Köpfen verwahrt oder in Zetteln festgehalten. Wiederkehrende Tätigkeiten binden Zeit, obwohl sie sich mit digital abgebildeten Prozessen dauerhaft vereinfachen ließen. Erst wenn Standards greifen und Informationen zuverlässig im System liegen, lohnt der Blick auf KI‑Anwendungen – dann skaliert ein Assistent nicht nur Informationen, sondern Qualität.

Der realistische Weg zur Einführung

Der gangbare Einstieg beginnt mit einer nüchternen Bestandsaufnahme: Abläufe werden durchleuchtet, in einfachen Prozessskizzen festgehalten und dort vereinheitlicht, wo heute Varianten bestehen. Dieses Gerüst wird anschließend digital abgebildet – mit klaren Zuständigkeiten, festen Übergabepunkten und wenigen, geprüften Schritten pro Vorgang. Erst wenn Standards stehen, lohnt der Aufbau sauberer Schnittstellen zwischen den Systemen (Warenwirtschaft, Kasse, Rezeptwege, Kommunikation), damit Informationen ohne Medienbrüche fließen und automatisierte Schritte überhaupt ausgelöst werden können. In Deutschland bildet die Infrastruktur rund um E-Rezept, Telematikinfrastruktur und KIM dabei den tragenden Unterbau, weil sie die digitale Übermittlung und Verarbeitung von Verordnungen technisch und organisatorisch vorgibt.

Auf diese Basis folgt die Einführung von KI im Assistenzmodus: klein starten, einen klar umrissenen Teilprozess unterstützen (z. B. Vorsortieren von Anfragen, Entwurf von Antworten, Bestellvorschlag), Wirkung an wenigen, gut messbaren Kennzahlen prüfen und nachschärfen. So entsteht Schritt für Schritt eine belastbare Umgebung, in der KI nicht Tempo allein, sondern Qualität skaliert.

Aus der Praxis gedacht: Nutzen vor Technik

In der Praxis zeigt sich häufig derselbe Ablauf: Eine „schillernde“ KI-Lösung verspricht große Vorteile. Aus Sorge, einen Trend zu verpassen, wird das Programm beschafft, ohne ein klares Anwendungsszenario. Danach wird der Ablauf um das Werkzeug herumgebaut. Es entstehen Zusatzschritte, Ausnahmen und Erklärungsbedarf; der Betrieb richtet sich nach der Technik, nicht umgekehrt.

Die wirksame Reihenfolge sieht anders aus: Zuerst steht ein konkreter Engpass im Mittelpunkt. Dann wird das Ziel präzise benannt – etwa kürzere Wartezeit, höhere Erstlösungsquote, stabile Verfügbarkeit, weniger Fehler, geringerer Aufwand pro Vorgang. Es folgt die nüchterne Beschreibung des Ist-Ablaufs: wer tut was in welcher Reihenfolge mit welchen Informationen? An den Bruchstellen wird festgelegt, welche Voraussetzungen fehlen: einheitliche Schritte, eindeutige Übergabepunkte, gepflegte Stammdaten, klare Regeln für Ausnahmen. Erst danach kommt KI in einer Assistenzrolle hinzu – mit wenigen, messbaren Kennzahlen zur Wirkungskontrolle. Gelingt der Versuch, wird erweitert; passt das Ergebnis nicht, wird angepasst oder beendet.

So verstärkt KI einen geordneten Prozess, statt einen neuen Prozess um ein Werkzeug zu erzwingen. Das Ergebnis sind weniger Reibung, planbare Qualität und Entscheidungen, die sich nachvollziehen lassen.

Konsequenz statt Abkürzung

Die Abkürzung führt in die Irre. Wo Standardisierung und Digitalisierung fehlen, erhöht Künstliche Intelligenz die Fehlerquote, verlängert Wege und vergrößert Risiken. Wo das Fundament steht, entsteht das Gegenteil: Ruhe im Ablauf, Zeit für persönliche Beratung, Sicherheit in Entscheidungen.

KI stärkt, was verlässlich geordnet ist. Entscheidend ist die Reihenfolge und die Konsequenz, sie einzuhalten. Nicht das nächste Werkzeug bringt den Fortschritt, sondern die klare Linie: Heute Ordnung schaffen, morgen Qualität skalieren.