Bedrohung durch Artensterben und Klimawandel

Forscher fordern bessere Erforschung von Heilpflanzen – bevor es zu spät ist

Düsseldorf - 21.03.2023, 15:15 Uhr

Durch Übersammlung sind einige Arten des griechischen Bergtees (Sideritis) in Bulgarien, Albanien und Nordmazedonien vollständig ausgestorben. (Foto: romy mitterlechner / AdobeStock)

Durch Übersammlung sind einige Arten des griechischen Bergtees (Sideritis) in Bulgarien, Albanien und Nordmazedonien vollständig ausgestorben. (Foto: romy mitterlechner / AdobeStock)


Im Fachmagazin „The Lancet Planetary Health“ hat eine Gruppe von Forschern dazu aufgerufen, mehr in die Erforschung und den Schutz von bekannten und noch unbekannten Heilpflanzen zu investieren. Die Wissenschaftler sehen durch Artensterben und Klimawandel die „Naturapotheke der Zukunft“ in Gefahr.

„Heilpflanzen und ihre bioaktiven Stoffe bieten enorme Möglichkeiten für die zukünftige medizinische Versorgung der Menschheit – als eine naturbasierte, kostengünstige und effiziente Gesundheitsressource. Aber unser Wissen über sie ist immer noch ausschnitthaft“, sagt Dr. Spyros Theodoridis vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt. „Von etwa 374.000 bekannten Pflanzenarten sind bislang nur 15 Prozent chemisch analysiert – und gerade einmal sechs Prozent wurden unter pharmakologischen Gesichtspunkten untersucht.“

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In einem Aufruf im Fachmagazin „The Lancet Planetary Health“ haben der Biodiversitätsforscher Theodoridis und mehrere Kollegen nun dafür plädiert, die Erforschung von Heilpflanzen „systematisch voranzutreiben, um ihr Potenzial für die globale Gesundheitsversorgung nachhaltig zu nutzen“, so die Forscher. Sie skizzieren in dem Artikel, welches globale medizinische, aber auch soziale und ökonomische Potenzial in den medizinischen Pflanzenressourcen stecken kann und wie gefährdet durch Klimawandel und Artensterben auf der anderen Seite bekannte, aber auch noch unbekannte Heilpflanzen sind.

Schließlich basierten rund die Hälfte der in den letzten vier Jahrzehnten weltweit zugelassenen Medikamente auf Inhaltsstoffen medizinischer Pflanzen oder seien nach ihrem Vorbild entwickelt worden, sagen die Forscher. Vom Aspirin beziehungsweise der Acetylsalicylsäure – dem modifizierten Bestandteil von Weidenrinde – über Morphium aus dem Schlafmohn bis zu neueren Entdeckungen pharmakologisch aktiver Stoffe aus Pflanzen zur möglichen Therapie von COVID-19 reicht die Palette.

Die Forscher zeigen aber auch auf, dass ein Großteil der Weltbevölkerung keinen guten Zugang zu Arzneimitteln habe und traditionelle Heilpflanzen ihr zum Teil einziger Zugang zu pharmazeutisch aktiven Substanzen sei. Die wichtige Rolle von pflanzenbasierter Medizin habe sich auch etwa in der COVID-19-Pandemie gezeigt, als viele Menschen ohne Zugang zu Medizin und Impfstoffen sich herbalen Medikamenten zugewandt hätten, schreiben die Forscher. „Aufgrund des Mangels an Grundlagenforschung und evidenzbasierter Aufklärung über die sichere und wirksame Anwendung pflanzlicher Arzneimittel bleibt ihr potenzieller Nutzen für die menschliche Gesellschaft jedoch weitgehend unerforscht und könnte stattdessen dazu führen, dass sie zu ernsthaften Gesundheitsrisiken werden“, schreiben die Wissenschaftler in ihrem Artikel.

Um Pflanzen zu nutzen, müsse man deren Umwelt schützen

Mit modernen molekularbiologischen Methoden von der Gensequenzierung bis zur Erforschung der Stoffwechselwege sekundärer Pflanzenstoffe gebe es heute aber eine Reihe von Möglichkeiten, systematischer die Potenziale von Heilpflanzen zu erkunden, sagen die Forscher. Dabei spielt auch das Thema Natur-, Arten- und Klimaschutz eine wichtige Rolle.

„Wenn Geldgeber mehr Geld in die Ökologie von Heilpflanzen investieren, werden die Gesellschaften erkennen, dass der einzige Weg, von Pflanzen und ihren bioaktiven Verbindungen zu profitieren, darin besteht, ihre natürliche Umwelt zu schützen. Mit anderen Worten, wir müssen mehr in die Erkenntnis investieren, dass Heilpflanzen grundlegende Bestandteile von Ökosystemen sind und eine wichtige Rolle in verschiedenen ökologischen Prozessen spielen. Heilpflanzen produzieren Medikamente nur, wenn die ökologischen Bedingungen stimmen, daher müssen wir die ökologischen Bedingungen schützen, um natürliche Arzneimittel herzustellen“, sagt dazu Theodoridis.

Die Wissenschaftler sehen zum einen die Gefahr, dass Pflanzen aussterben könnten, bevor man noch ihr Potenzial als Heilmittelproduzent erkannt hat und zum anderen, dass bekannte Heilpflanzen durch exzessives Sammeln aus der Natur in ihrem Bestand gefährdet sind. „Es ist schwierig, spezifische Beispiele für medizinische Arten zu nennen, die vollständig ausgestorben sind, aber es gibt Beispiele für Populationen, die aufgrund von Übersammlung vollständig ausgestorben sind, zum Beispiel Sideritis-Arten (Griechischer Bergtee) in Bulgarien, Albanien und Nordmazedonien“, erklärt der Biodiversitätsforscher.

„Die bioaktiven Pflanzenstoffe, die wir als Heilmittel einsetzen, erfüllen in der Natur spezifische Aufgaben in der Interaktion von Pflanze und Ökosystem – von der Bestäubung bis zur Bodenqualität“, erklärt David Nogués Bravo vom Center for Macroecology, Evolution and Climate der Universität Kopenhagen, ebenfalls Autor des Appells. „Extreme Temperaturen, Dürreperioden und eine erhöhte CO₂-Konzentration in der Atmosphäre können dieses komplexe Zusammenspiel stören. Hier müssen die Klima- und Biodiversitätsforschung zusammenarbeiten – auf allen Ebenen, von der genetischen und molekularen bis zu Artengemeinschaften und Ökosystemen –, um Grundlagen für geeignete Schutzkonzepte zu schaffen“, sagt er.

Pharma-Unternehmen sollten nur herkunftszertifizierte Pflanzen akzeptieren

Einige Maßnahmen, die angewendet werden könnten, um Heilpflanzen wirksam zu schützen, seien etwa strengere Vorschriften seitens der Unternehmen, die Heilpflanzen importieren, sagt Theodoridis. „Die pharmazeutischen Unternehmen sollten nur Material akzeptieren, das ordnungsgemäß zertifiziert und bekannter Herkunft ist, und kein Material, das illegal in freier Wildbahn gesammelt wurde“, sagt er. Auch Permakultur-Systeme, die natürliche Ökosysteme nachahmen, sollten in den Herkunftsländern etabliert werden, schlägt er gemeinsam mit seinen Kollegen in dem Artikel vor. „Auf diese Weise können Herkunftsländer Heilpflanzen nachhaltig anbauen, ohne sie aus der Wildnis zu sammeln. Diese Anbausysteme werden auch die Wildsammler beschäftigen.“ Außerdem meint er, dass Länder mehr Naturschutzwissenschaftler und Ranger beschäftigen sollten, um den Zustand natürlicher Populationen zu überwachen.

Allein der Anreiz, Pflanzen kommerziell nutzen zu können, reiche aber wohl nicht für einen nachhaltigen Naturschutz, meint Theodoridis. „Ich glaube nicht, dass Kommerzialisierung zum Naturschutz beitragen kann. Grundlagenforschung und gemeinfreie Initiativen können viel beitragen. Der Zweck der Verwendung von Heilpflanzen ist die Herstellung zugänglicher und wirksamer Arzneimittel für alle Menschen. Unternehmen geht es oft nur um Profit, nicht um Erreichbarkeit“, sagt er.

Insgesamt sei es das Ziel der Forscher, mit dem Appell Anstöße für die transdisziplinäre globale Erforschung von medizinischen Pflanzen zu geben, sagt Theodoridis. „So können wir in der Zukunft nicht weniger als eine nachhaltige Transformation der weltweiten Gesundheitsversorgung erreichen und die ‚medizinische Biodiversität‘ für kommende Generationen sichern“, sagt er. „Die nachhaltige und gerechte Nutzung von Heilpflanzen würde unsere kulturelle Vielfalt und Gemeinsamkeiten und ihre Beiträge über die menschliche Gesundheit hinaus repräsentieren und dabei verschiedene Werte menschlicher Gesellschaften beinhalten“, schließen die Forscher ihren Artikel.


Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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