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Meinung

EbM in der Phytotherapie

Chancen und Grenzen der wissenschaftlichen Evidenz – ein Plädoyer für das richtige Augenmaß

Die rationale Phytotherapie ist eine auf wissenschaftlicher, allopathischer Grundlage basierende medizinische Behandlungsmethode, wobei definierte Inhaltsstoffe bzw. Inhaltsstoffgemische für die therapeutischen Wirkungen verantwortlich gemacht werden. Außerdem besteht eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung. Die für diese Therapierichtung zugelassenen Arzneimittel – Phytopharmaka – erfüllen verschiedene Qualitätskriterien, auch bezüglich ihrer Wirksamkeit. | Von Matthias F. Melzig 

Ein durchaus erheblicher Marktanteil von pflanzlichen Zubereitungen, die in Deutschland etwa 22 Prozent vom Umsatz in der Selbstmedikation ausmachen, begründet einen Beratungsbedarf, der auch wegen der zunehmenden Informiertheit der Patienten notwendig ist. Widerstreitende Meinungen in den verschiedenen Medien zum Nutzen, Sinn oder Unsinn von pflanzlichen Arzneimitteln tragen zur Verunsicherung der Kunden, aber teilweise auch der Apotheker bei. Woran sollte sich also eine auf wissenschaft­licher Grundlage beruhende Beratung orientieren?

Bei der Suche nach anerkannten Bewertungskriterien für alle Therapieverfahren trifft man unweigerlich auf das Konzept der evidenzbasierten Medizin als Entscheidungsgrundlage für Diagnose und Therapie. Diesem Konzept sind auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei Bewertungen und Entscheidungen zur medizinischen Versorgung und der von der GKV zu erstattenden Leistungen verpflichtet.

Evidenzbasierte Medizin (EbM), ursprünglich verstanden als der „gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten“, beruht auf dem aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischer Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen. Entsprechend dem Nachweis der klinischen Wirksamkeit gibt es unterschiedliche Evidenzgrade (Abb. 1). Die stärkste Evidenz beruht auf systematischen Auswertungen (Metaanalysen) von randomisierten, kontrollierten klinischen Studien.

Abb. 1: Evidenzgrade einer Therapie aufgrund des Nachweises ihrer klinischen Wirksamkeit durch klinische Studien oder praktische Erfahrung.

Aber ist das für den individuellen Patienten in der Beratung wirklich entscheidend?

Klinische Studien und Metaanalysen begründen ihre Aussagen mithilfe statistischer Verfahren, die für bestimmte Kohorten, also Gruppen von Probanden, getroffen werden; der einzelne Patient steht nicht im Mittelpunkt. Der Wert einer medizinischen Behandlung muss aber auch individuell für den jeweiligen Patienten beurteilt werden, und dafür wurden zusätzliche Modelle entwickelt, wie

  • „value-based medicine“ (biopsychosoziales Modell) oder
  • „human-based medicine“ (HbM).

Bei diesen Vorstellungen geht es darum, dass eine Therapie individuell auf den konkreten Patienten zugeschnitten sein muss. Genau vor dieser Aufgabe stehen Apotheker jeden Tag in der Offizin, wenn es um die Beratung in der Selbstmedikation mit Phytopharmaka geht. Kann dabei die EbM bei der Auswahl von geeigneten Phytopharmaka helfen? Im Prinzip schon, aber nicht ausschließlich, was ich an einigen Bei­spielen verdeutlichen möchte.

Beispiele

Zu Phytopharmaka, die Extrakte von Weißdornblättern mit Blüten enthalten und bei Herzinsuffizienz eingesetzt werden, gibt es klinische Studien, die auch in Metaanalysen der Cochrane Library als EbM-konform beurteilt werden [1]. Wirkung und Wirksamkeit sind gleichermaßen nachgewiesen. Hier gibt es allenfalls das Problem, dass nicht jedes Weißdornpräparat einen Extrakt enthält, der in geeigneten klinischen Studien untersucht wurde. Bei den zugelassenen Präparaten ist dies jedoch keine Frage.

Bei Sennesblättertee oder anderen Sennes-Zubereitungen ist die aktuelle Studienlage dagegen sehr dürftig für eine Be­ratung nach EbM-Kriterien. Die Metaanalyse der Cochrane Library führt insgesamt nur fünf Studien auf, die neben Senna auch andere Laxanzien untersucht haben, wie Lactulose, Paraffinöl oder Docusat [2]. Metaanalysen sind daher nicht durchführbar. Die Autoren einer systematischen Literaturübersicht zur Frage, ob die pharmakologische Therapie einer Opioid-induzierten Obstipation in der Palliativmedizin evidenzbasiert ist, stellen fest, dass deren Evidenz als gering einzustufen ist: Die Evidenz beruht auf Expertenmeinungen und auf Studien im nichtpalliativen Bereich [3]. Die Anwendung von Sennes-Zubereitungen ist also nicht in gleicher Weise EbM-konform wie die von Weißdornzubereitungen, obwohl ihre Wirkstoffe, Wirkung und Wirksamkeit bekannt sind und seit Jahrhunderten genutzt werden. Hier sollten also der gesunde Menschenverstand des Anwenders („Anwendungsbeobachtung“ bei sich selbst) und die pharma­zeutisch-medizinische Erfahrung des Heilberuflers (= Expertenmeinung, s. Abb. 1) ausreichend sein, um die Anwendung zu empfehlen.

Übrigens sind auch die Verfahren der modernen Chirurgie nur selten EbM-konform mittels Metaanalysen untermauert – doch sollte man sie daher in Zweifel ziehen? Das gleiche Problem ergibt sich bei der Pharmakotherapie älterer Menschen: Auch hier sind die Evidenzgrade gering, denn die für die Zulassung von Arzneimitteln vorgelegten klinischen Studien werden mit deutlich jüngeren Probanden durchgeführt, die im Gegensatz zu den meisten Patienten im höheren Lebensalter nicht multimorbide sind.

Grenzen der EbM und alternative Konzepte

Daraus ergeben sich Grenzen und offene Fragen zum Prinzip der evidenzbasierten Medizin:

  • Eine zu enge Auslegung von EbM ist problematisch. So gibt es Sachverhalte, die seit Langem und ausreichend geklärt sind, für die aber im Sinne der EbM keine hochgradigen Nachweise vorliegen, wie dies z. B. bei anthranoidhaltigen Laxanzien der Fall ist.
  • Bei der deutlichen Wirksamkeit von pflanzlichen Zubereitungen, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten zur medizinischen Praxis gehören, verbieten sich randomisierte, kontrollierte klinische Studien schon aus ethischen Gründen. Wenn die Evidenz zu einer Fragestellung gering ist, darf dies nicht so interpretiert werden, dass diese Frage negativ beantwortet wird.
  • Die meisten ärztlichen Handlungen, die unstrittig, also konsensbasiert sind, besitzen keine wissenschaftlichen, in Studien entsprechend der EbM nachgewiesenen Be­weise. „Fehlen von bewiesenem Nutzen“ und „Fehlen von Nutzen“ sind zwei unterschiedliche Sachverhalte. Das gilt auch für viele pflanzliche Wirkstoffe.

Ich plädiere daher dafür, bei der Beratung in der Apotheke Wirkstoff- und Erfahrungs-geleitete Empfehlungen zu geben. Nehmen wir als Beispiel Phytopharmaka aus Bitterstoff­drogen bei dyspeptischen Beschwerden: Ihre Bitterstoffe regen durch die Bindung an Bitterstoffrezeptoren die Verdauungstätigkeit an. Dabei besitzen einige Drogen spezielle Wirksamkeiten in den einzelnen Bereichen des Verdauungstraktes, was eine individuell angepasste Therapieempfehlung (durch den qualifizierten, kundigen Apotheker bzw. PTA) ermöglicht. Da die Wirksamkeit dieser Drogen und daraus hergestellter Fertigarzneimittel feststeht, sollte man ihre Anwendung nicht als unwissenschaftlich, da nicht EbM-konform, ablehnen.

In gleicher Art kann die Anwendung von zugelassenen Phytopharmaka bei Infektionen im Mund- und Rachenraum, bei Obstipation, Harnwegsinfekten oder Husten zur Selbstmedikation empfohlen werden, denn hierbei besteht kein Widerspruch zur ärztlichen Praxis, und die Drogen der jeweiligen Phytopharmaka sind von Fachgremien (z. B. Kommission E) positiv auf naturwissenschaftlicher und medizinischer Basis bewertet worden. Die therapeutischen Erfahrungen mit einer Vielzahl von Arzneidrogen und daraus hergestellten Zubereitungen erfüllen durchaus Kriterien der EbM, nämlich Erfahrungswissen, Anwendungsbeobachtungen und auch Fallberichte (s. Abb. 1) – und dies teilweise seit Hunderten von Jahren. Hier braucht es seitens der Phyto­therapie also keine „Minderwertigkeitskomplexe“ zu geben.

Chancen der EbM

Andererseits bietet die evidenzbasierte Medizin auch Chancen für die Phytotherapie – und somit auch für die Patienten. Gerade EbM-konforme Phytopharmaka werden von Ärzten und Patienten als nebenwirkungsarme und oft auch preiswerte Therapieoptionen akzeptiert. Ihre Anwendung kann die Patienten vor Scharlatanerie oder vor dem Fehlgebrauch von pflanzlichen Zubereitungen schützen und manchmal auch neue Therapiemöglichkeiten aufzeigen. Ein Beispiel dafür ist eine Metaanalyse der Cochrane Library aus dem Jahr 2013, die Studien zur Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen mit Teufelskrallenwurzelextrakt, Weidenrindenextrakt, Cayennepfefferextrakt und Rofecoxib auswertete. Sie fasste die Ergebnisse so zusammen, dass der Nachweis einer mit Rofecoxib vergleichbaren Wirksamkeit der drei pflanzlichen Extrakte bei nur geringen Nebenwirkungen geführt werden konnte [3]. Fazit: Sie sind hochgradig EbM-konform.

Es gibt immer mehr klinische Studien mit Phytopharmaka, die den Anforderungen der EbM gerecht werden und deren Ergebnisse eine Empfehlung in der Selbstmedikation bzw. ärztlichen Praxis rechtfertigen. Dazu zählen z. B. die Sine­catechine aus Grüntee zur Behandlung anogenitaler Warzen oder ätherisches Lavendelöl zur Therapie von Angststörungen [4, 5].

Zugleich ermöglicht die Anwendung der EbM-Kriterien auch klare Aussagen, um die Patienten vor Vergiftungen und wissenschaftlich nicht begründbaren Therapien zu schützen. Das betrifft z. B. die Anwendung von Amygdalin, amygdalinhaltigen Extrakten aus Aprikosenkernen (oder Samen an­derer Prunus-Arten) und Laetril zur Tumortherapie. Die Cochrane Library hat für diese Zubereitungen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis konstatiert, das keinen Benefit für die Patienten erkennen lässt [6]. Hier kann man sich also in der Beratung auf wissenschaftlich gesichertes Wissen beziehen, das in seiner Begründung auch keine Spielräume für traditionelles oder alternatives therapeutisches Handeln offenlässt.

Wer sich aktuell über all diese Zusammenhänge informieren will, kann auf der Webseite der Cochrane Collaboration (www.cochranelibrary.com) recherchieren oder die kürzlich erschienene 6. Auflage des „Wichtl – Teedrogen und Phytopharmaka“ zurate ziehen, der über die Inhaltsstoffe und Wirkungen der hierzulande eingesetzten Arzneidrogen informiert. |

Literatur

[1] Guo R, et al. Hawthorn extract for treating chronic heart failure. Cochrane Database Syst Rev; Epub 23.1.2008

[2] Bader S, Weber M, Becker G. Ist die pharmakologische ­Therapie der Obstipation in der Palliativmedizin evidenzbasiert? Schmerz 2012; 26:568-586

[3] Oltean H, et al. Herbal medicine for low-back pain. ­Cochrane Database Syst Rev; Epub 23.12.2014

[4] Langley PC. A cost-effectiveness analysis of sinecatechins in the treatment of external genital warts. J Med Econ 2010;13(1):1-7

[5] Kasper S, et al. Lavender oil preparation Silexan is effective in generalized anxiety disorder – a randomized, double-blind comparison to placebo and paroxetine. Int J Neuro­psychopharmacol 2014;17(6):859-69

[6] Milazzi S, Horneber M. Laetrile treatment for cancer. Cochrane Database Syst Rev; Epub 28.4.2015

Autor

Prof. Dr. Matthias F. Melzig,

Professor für Pharmazeutische Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin von 1996 bis 2002, seitdem an der Freien Universität Berlin.

Institut für Pharmazie

Königin-Luise-Str. 2+4, 14195 Berlin

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

Zum Weiterlesen

Evidenz bei Demenz: Aktualisierte S3-Leitlinie „Demenzen“ bietet Orientierung. DAZ 2016, Nr. 5, S. 28 – 31.

Ginkgo biloba aufgewertet: Neue S3-Leitlinie „Demenzen“ spricht „Kann-erwogen-werden“-Empfehlung aus. DAZ 2016, Nr. 5, S. 32 – 33.

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