PhagoFlow und Phage4Cure gegen Antibiotikaresistenzen

Phagen-Therapie in Deutschland – zwei Projekte behandeln erstmals Patienten

Stuttgart - 16.06.2022, 07:00 Uhr

Phagen werden Antibiotika wohl nicht (so schnell) ersetzen – aber könnten sie schon bald eine praktische und äußerst hilfreiche Ergänzung sein? (s / Foto: nobeastsofierce / AdobeStock)

Phagen werden Antibiotika wohl nicht (so schnell) ersetzen – aber könnten sie schon bald eine praktische und äußerst hilfreiche Ergänzung sein? (s / Foto: nobeastsofierce / AdobeStock)


In den ehemaligen Ostblockstaaten – wo es zunächst keinen breiten Zugang zu Antibiotika gab – ist die Phagen-Therapie üblicher als in Deutschland. Andere Länder, wie auch die USA, Belgien und Frankreich, lassen die Therapieform nun wieder aufleben. In Deutschland stehen konkret zwei Projekte kurz davor, mit ihren Phagen-Therapien erstmals Patient:innen zu behandeln. 

Bereits 2017 berichtete die DAZ über das Projekt „Phage4Cure“. Vier deutsche Forschungspartner werden bei dem Projekt in den nächsten Jahren das Ziel verfolgen, Bakteriophagen als zugelassene Arzneimittel zu etablieren, hieß es. Hintergrund ist bekanntermaßen die zunehmende Resistenzentwicklung gegen Antibiotika. Jetzt berichtet die Nachrichtenagentur dpa, dass zwei große deutsche Projekte kurz davor stehen, tatsächlich Patient:innen mit den „bakterienfressenden“ Viren zu behandeln.

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Ein erwachsener Mensch bestehe aus etwa 30 Billionen Körperzellen, 40 Billionen Bakterien – und 300 Billionen Phagen, sagt Phagentherapie-Experte Christian Willy, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Bakteriophagen sind Viren, die in Bakterien Vermehrungsprogramme in Gang setzen, bis die Masse neu produzierter Viren die Bakterienzelle zum Platzen bringt. Bakterienansammlungen, etwa in einem Entzündungsherd, können so rasch verschwinden. Eines der Projekte, das sich auf diesen Mechanismus stützt, und bei dem bald Patienten behandelt werden sollen, ist erwähntes „Phage4Cure“, bei dem eine Therapie mit inhalierbaren Phagen gegen den gefürchteten Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa entwickelt wird. Im Spätsommer soll es mit einer klinischen Phase-I-Studie zur grundsätzlichen Verträglichkeit losgehen, wie Christine Rohde am Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH) in Braunschweig der dpa sagte. Anders als meist üblich gebe es direkt auch eine Kohorte mit Patienten. „Wenn die Phase I erfolgreich läuft und es den Patienten besser geht, dann ist ein echter Meilenstein für die Phagentherapie in Deutschland erreicht.“

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Vereinzelt werden in Deutschland zwar bereits Patient:innen behandelt, bei denen die verfügbaren zugelassenen Therapien keine Wirkung zeigen. Zum Beispiel von Christian Kühn, Leiter des Nationalen Phagenzentrums der Medizinischen Hochschule Hannover. „Ich sehe tagtäglich, was Antibiotika-Resistenzen anrichten“, betont der Mediziner. Doch sagt er auch: „Wir brauchen Alternativen.“ Mehr als 30 Patient:innen wurden in Hannover bereits behandelt, oft gegen Staphylococcus aureus.

Auf die dabei genutzte individuelle Herstellung jeweils für den einzelnen Patienten – magistrale Anwendung genannt – setzt auch das zweite große deutsche Vorhaben, das von der Klinik für Unfallchirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin durchgeführte Projekt „PhagoFlow“. Während es bei „Phage4Cure“ um ein Krankheitsbild, einen Erreger und eine verabreichte Mixtur geht, sollen im Zuge von „PhagoFlow“ unterschiedliche und auf verschiedene Erreger zurückgehende Krankheitsbilder behandelt werden, wie Projektleiter Willy erklärt. Ab der zweiten Jahreshälfte könnten auch dort erste Patient:innen behandelt werden, hofft er.

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Weil Phagen jeweils nur eine Bakterienart, sehr häufig sogar nur einen bestimmten Stamm einer Art, befallen, ist ihr Einsatz kompliziert: Für die jeweiligen Bakterienstämme eines Patienten muss zunächst der passende Phage gefunden werden. „Und meist spielt bei einer kritischen Infektion mehr als ein Stamm eine Rolle“, erklärt Holger Ziehr, Leiter der Pharmazeutischen Biotechnologie am Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM). Das kann auch ein Vorteil sein, wie Professor Theo Dingermann und Dr. Ilse Zündorf in der DAZ 27/2018 erklärten. Denn Phagen können ganz gezielt die pathogenen Bakterien attackieren, „während alle anderen Mikroorganismen ungeschoren davonkommen – das bedeutet keine zerstörte Darmflora und kein Durchfall mehr wie nach einer Antibiotika-Therapie“. Allerdings müssen im Bedarfsfall eben zunächst die Erreger aus dem Patienten kultiviert und gegen verschiedene Phagen getestet werden. Das könne für manchen Patienten und manche Patientin zu lange dauern – und auch gegen Phagen können sich Resistenzen bilden. Dingermanns und Zündorfs Fazit 2018 lautete: „Die Anwendungsmöglichkeiten von Bakteriophagen gegen Bakterien sind unzählig und sehr vielfältig. Ob sie sich jedoch direkt als Therapeutika etablieren werden, ist fraglich. Immer noch ist viel zu wenig bekannt, wie sich eine Applikation von bestimmten Phagen-Cocktails auf die bestehenden Populationen der Mikroorganismen und ihrer spezifischen Phagen in unserem Körper auswirken wird.“

Beeindruckende Erfolge?

Auch die dpa berichtet unter Berufung auf Phagen-Expertin Christine Rohde aktuell, dass es überzeugende Ergebnisse zur Effizienz von Phagen in sehr großen klinischen Studien bisher nicht gibt. Doch Einzelfallberichte und kleinere Studien sollen beeindruckende Erfolge zeigen. In einer kürzlich vorgestellten Studie im Fachblatt „Clinical Infectious Diseases“ seien 20 Patient:innen mit hartnäckigen bakteriellen Infektionen mit Bakteriophagen behandelt worden. Bei elf sei die Therapie erfolgreich verlaufen. Nebenwirkungen traten demnach nicht auf. Ziehr verweist auf das heterogene Teilnehmerkollektiv, zu dem Kinder wie auch Erwachsene mit diversen Krankheitsbildern, komplexen Infektionen und unterschiedlichen Erregertypen zählten. Dass angesichts dieser Umstände mehr als die Hälfte der Teilnehmer auf die Therapie angesprochen habe, sei beeindruckend, sagt der Experte, der nicht an der Arbeit beteiligt war.

Komplett ersetzen werden Bakteriophagen die Antibiotika nicht, wie alle Expert:innen betonen. Ein vielversprechender Weg könnte aber vor allem die Kombination von Bakteriophagen und Antibiotika sein, basierend auf der sogenannten Phagen-Antibiotika-Synergie (PAS), erklärt der Berliner Phagenforscher Willy. Es habe sich gezeigt, dass resistente Bakterien bei einem Patienten wieder empfindsam gegen Antibiotika werden können, wenn dieser zuvor mit Phagen behandelt wurde. „Eine bereits relativ alte Idee besteht in der Kombination von Antibiotika mit Bakteriophagen. In diesem Therapieansatz würden die Phagen beispielsweise einen kompakten bakteriellen Biofilm auflösen, um den Weg freizumachen, damit das Antibiotikum voll wirksam sein kann“, hieß es auch in der DAZ 27/2018.


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