Professor Harald Schmidt auf der INTERPHARM online 2022

„Kein Gesundheits- sondern ein Krankheitssystem“

Berlin - 04.04.2022, 16:45 Uhr

Der Apotheker und Systemmediziner Professor Harald Schmidt bei der INTERPHARM online 2022. (c / Foto: DAZ / Hahn)

Der Apotheker und Systemmediziner Professor Harald Schmidt bei der INTERPHARM online 2022. (c / Foto: DAZ / Hahn)


Der Arzt und Apotheker Professor Harald Schmidt forscht und lehrt an der Universität Maastricht in Pharmakologie und personalisierter Medizin. Beim Kongress Heimversorgung KOMPAKT bei der INTERPHARM online 2022 referierte er darüber, woran unsere Medizin momentan krankt und wie die Systemmedizin – sein Fachgebiet – einen radikalen Umbruch bewirken kann.

Für Professor Harald Schmidt steckt die moderne Medizin in der Krise. Ein dringendes Umdenken sei vonnöten. Zwar stieg die Lebenserwartung im vergangenen Jahrhundert. Diese Leistung lässt sich aber hauptsächlich auf Hygiene, Impfstoffe und Antibiotika zurückführen. Die Lebenserwartung bezüglich anderer Erkrankungen hat sich über die vergangenen Jahrzehnte wenig verändert, chronische Erkrankungen nehmen eher zu.

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Im heutigen Gesundheitssystem gehen Patient:innen, die glauben, gesund zu sein, für eine Vorsorgeuntersuchung zur Ärztin oder zum Arzt. Wird dort etwa ein zu hoher Blutzucker oder Blutdruck gemessen, gilt der Mensch plötzlich als krank. Oft werden chronische Erkrankungen nach Symptomen benannt, während die Ursache völlig unklar ist. Klassisches Beispiel: primäre Hypertonie. Die Symptome werden jahrzehntelang therapiert, irgendwann werden Patient:innen pflegebedürftig. Auf allen Stufen wird viel Geld verdient. „Wir haben kein Gesundheits-, sondern ein Krankheitssystem“, sagt Schmidt.

Neue Arzneimittel müssen effektiver werden

Ein moderner Ansatz sieht für ihn anders aus. Forscher:innen der personalisierten Medizin und Systemmedizin ergründen, wie die uns bekannten Krankheiten zusammenhängen. So wollen sie erkennen, ob chronische Nieren-, Lungen- oder Herzerkrankungen eventuell ein und dieselbe genetische oder äußere Ursache haben können.

Noch werden neue Arzneimittel häufig zur Symptombehandlung entwickelt. Dabei sind viele Wirkstoffe in den Augen Schmidts zu ineffektiv. Die effektivsten Mittel unter den zehn umsatzstärksten Arzneimitteln weisen nach klinischen Studien eine Number needed to treat von vier auf. Das bedeutet, dass diese Arzneimittel mindestens drei von vier Patient:innen keinen Vorteil bringen.

Volkskrankheiten müssten weiter erforscht werden, wie heute die seltenen Erkrankungen. Bei seltenen Erkrankungen werden oft Symptome in mehreren Organen auf eine bestimmte, meist genetische Ursache zurückgeführt. Schmidt zitiert einen ehemaligen Forschungsleiter des Pharmaunternehmens GlaxoSmithKline, der gesagt haben soll: „Wenn wir anfangen würden, alle Erkrankungen zu verstehen, gäbe es nur noch seltene Erkrankungen.“ Erst, wenn die Forschung an diesem Punkt wäre, könnten Arzneimittel wirklich präzise wirken, messbar durch eine geringere Number needed to treat.



Apotheker Marius Penzel
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Kein Gesundheits-, sondern ein Krankheitssystem - Prof.Schmidt auf der Interpharm 2022

von Joachim Maurice Mielert, DOPANET Wissen & Kommunikation am 10.04.2022 um 8:10 Uhr

Zur Wahrheit gehört, dass die bundesdeutsche Politik mit annähernd planwirtschaftlicher Diktion denkbare Neuausrichtung und Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Wirtschaftssparte mit vernünftig vergüteten Präventionsaufgaben in fataler Weise blockiert. Regionale Stärkungsgesetze, Preisbindung und Regulation im Abrechungs- und Vergütungswesen sind Ansätze, über die international erfolgreiche, expansionsorientierte Player der „Wellbeing“-Sparte ebenso herzhaft lachen, wie über „apothekenpflichtige“ Zahnpasta.

Der Transformationsprozess wird unsere Versorgungslandschaft daher mit doppelter Wucht treffen, einmal durch den seit Jahrzehnten überfälligen Präventionsauftrag und andererseits durch die selbst installierten Fallstricke einer überkommenen Gesetzgebung. Last but not least wird die seit Jahrzehnten schrittweise aufgegebene Autarkie in den Lieferketten der Sparte schwerste Turbulenzen bescheren. Die Fehlstellungen im System sind 30 Jahre alt und älter, Lieferengpässen heute also den Nimbus von „Kriegsfolgen“ anzuhängen, wie dieser Tage bereits durch einen größeren Hersteller verlautbart, ist grotesk, ja schäbig.

Die Versorgungslandschaft der Gesundheitswirtschaft hat sich in einer veritablen Mischung aus behaupteter Daseinsvorsorge, desaströs installierten Rechtsnormen, steinaltem Denken und gleichzeitig überbordender Wertschöpfungsabsicht derart verheddert, dass nur eine Neuausrichtung im Sinne einer kunden- und wettbewerbsorientierten „Wellbeing“-Sparte denkbar erscheint. Das wird schmerzhaft für die einzelne Apotheke…!

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