Heimversorgung KOMPAKT

Ärzten ist das Ausmaß der anticholinergen Last meist nicht bewusst

Stuttgart - 04.04.2022, 10:00 Uhr

Neben den typischen bekannten Listen für Arzneimittel im Alter verwies Dr. Stefanie Brune bei der Heimversorgung KOMPAKT auf die Berechnung der anticholinergen Last mithilfe von Punkten. (c / Foto: Hahn / DAZ)

Neben den typischen bekannten Listen für Arzneimittel im Alter verwies Dr. Stefanie Brune bei der Heimversorgung KOMPAKT auf die Berechnung der anticholinergen Last mithilfe von Punkten. (c / Foto: Hahn / DAZ)


Der Pharmazeutische eKongress der INTERPHARM online 2022 fand zwar schon am Freitag zuvor statt, pharmazeutisch wurde es aber auch nochmal bei der Heimversorgung KOMPAKT: Apothekerin Dr. Stefanie Brune machte deutlich, wie und mit welchen Hilfsmitteln die anticholinerge Last der Arzneimittel von Pflegeheimbewohner:innen ermittelt werden kann – und warum das so wichtig ist. Denn zwar handelt es sich um ein altbekanntes Problem, aber kein unlösbares.

Apothekerin Dr. Stefanie Brune leitet seit 2014 die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung der SCHOLZ Datenbank und stellte bei der INTERPHARM online bei der Heimversorgung KOMPAKT das Risiko der anticholinergen Last bei Pflegeheimbewohner:innen in den Mittelpunkt. Denn diese kann je nach Ausmaß zu Mundtrockenheit bis hin zum Delir führen. Schon auf einer ihrer ersten Folien machte Brune deutlich: „Ärzten ist das Ausmaß der anticholinergen Belastung ihrer Patienten meist nicht bewusst“, und das ist nicht ihre persönliche Meinung, sondern ein Zitat aus der S3-Leitlinie Multimedikation (Version 2.00, 05/2021). 

Dabei sind anticholinerge Nebenwirkungen freilich keine neue Entdeckung, wie Brune anhand einer Studie aus dem Jahr 1983 verdeutlichte. Und noch heute sollen beispielsweise fast 90 Prozent der Pflegeheimbewohner:innen mit hyperaktiver Blase anticholinerge Substanzen bekommen, wovon fast 30 Prozent eine hohe anticholinerge Last haben. Doch wann ist die Last so hoch, dass sie klinisch relevant wird?

Anticholinerge Hypersensitivität im Alter

Brune machte deutlich, dass alte Patient:innen ein besonders hohes Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen haben – und zwar nicht nur aufgrund einer häufigen Polypharmazie und Multimorbidität, sondern weil eine „anticholinerge Hypersensitivität“ vorliegen kann. Diese ergebe sich aus Veränderungen in der Pharmakodynamik (z. B. altersbedingte cholinerge Degeneration) und Pharmakokinetik (z. B. erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke) alter Menschen.

Speziell warnte sie vor einem Teufelskreis, der entstehen könne, wenn Cholinesterase-Inhibitoren wegen Demenz verordnet werden, bei denen als Nebenwirkung Dranginkontinenz auftreten kann, die dann potenziell mit anticholinergen Spasmolytika behandelt wird – welche wiederum als Nebenwirkungen zu kognitiven Beeinträchtigungen führen könnten. Brune ist der Meinung, dass Demenzpatient:innen gar keine anticholinergen Arzneimittel erhalten sollten und schärfte insbesondere den Sinn für zentrale anticholinerge Effekte. Speziell sensibilisierte sie für das Delir als mögliche Konsequenz. Bis zu 30 Prozent der Ursachen eines Delirs seien auf Arzneimittel zurückzuführen, sodass eine Reduktion der anticholinergen Medikation zur Verbesserung einer Delir-Symptomatik führen kann. Dennoch wies sie ebenso darauf hin, dass auch Symptome wie Mundtrockenheit die Lebensqualität stark beeinträchtigen können.

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Gefürchtetes Delir

Neben den typischen bekannten Listen für Arzneimittel im Alter verwies Brune auf die Berechnung der anticholinergen Last mithilfe von Punkten – beispielsweise mit dem ACB Calculator, der jedoch nicht auf den deutschen Markt ausgelegt ist. Auch die DAZ 25/2020 hatte sich dem Delir im Rahmen der Arzneimittelsicherheit gewidmet: Dort findet sich eine Liste mit leicht, mittelstark und stark anticholinergen Arzneimitteln. Mögliche Alternativen zu diesen Stoffen sind zudem in einer Liste aufgeführt, die in der März-Ausgabe der Krankenhauspharmazie erschienen ist (Baum/Radtke). Als häufiges Beispiel nannte Brune daraus den Einsatz von Trospiumchlorid bei Dranginkontinenz anstelle von Oxybutynin, Darifenacin oder Solifenacin, weil Trospiumchlorid weniger ZNS-gängig ist.

Auch an Arzneimittel mit geringer anticholinerger Last denken!

Angesichts des übergeordneten Themas Delir stehen auch in der Krankenhauspharmazie vor allem die zentralen anticholinergen Nebenwirkungen im Zentrum. Eine weitere allgemeine Liste mit den entsprechenden Punkt-Zahlen, die Brune empfahl, war die „German Anticholinergic Burden Scale“ (GABS) von Kiesel et al aus dem Jahr 2018. Denn es sei auch an Arzneimittel mit geringer anticholinerger Last zu denken, die sich mit anderen zu einer hohen Last addieren kann. Zudem sei es ein Problem, dass es zwar sehr viele, aber uneinheitliche Listen mit verschiedenen Punkte-Skalen gibt: Ein Goldstandard fehlt bislang.

Oxybutynin besser transdermal?

Zur Ermittlung der kumulativen anticholinergen Last können je Arzneimittel zwischen 0 bis 3 Punkten vergeben werden, diese werden addiert. Kommt man insgesamt auf einen Wert von 3 oder mehr, soll nach Alternativen gesucht oder eine Dosisüberwachung erwogen werden. Jedenfalls sollten die Patient:innen dann auf anticholinerge Effekte überwacht werden. Außerdem machte Brune darauf aufmerksam, dass manchmal auch ein Wechsel der Applikationsform helfen kann: In Kentera® ist Oxybutynin in transdermalen Pflastern enthalten, was zu weniger Mundtrockenheit führen soll.

Ist die anticholinerge Last erst einmal erkannt, gilt es natürlich auch noch, diese allen Beteiligten verständlich zu machen – nicht nur dem Arzt oder der Ärztin, sondern auch den medizinischen Fachangestellten, dem Pflegepersonal und den Angehörigen –, das betonte Brune mehrfach. Aber auch in Apotheken ohne Heimversorgung gilt: „Keine Abgabe anticholinerger (Selbst)Medikation an Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen und bestehender anticholinerger Medikation“ – zu denken ist dabei an Klassiker wie „Hoggar night“, aber auch „Dulcolax“, wie Brune in einem Fallbeispiel deutlich machte. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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