In den Nachbarländern der Ukraine

Nachfrage nach Iodtabletten und Lugolsche Lösung steigt

Stuttgart - 25.02.2022, 15:15 Uhr

Ruhe vor dem Sturm: Die verlassen Ruine des ehemaligen Kernkraftwerks in Tschernobyl vor wenigen Wochen. Am gestrigen Donnerstag wurde sie von russischen Truppen eingenommen. (x / Foto: IMAGO / ZUMA Wire)

Ruhe vor dem Sturm: Die verlassen Ruine des ehemaligen Kernkraftwerks in Tschernobyl vor wenigen Wochen. Am gestrigen Donnerstag wurde sie von russischen Truppen eingenommen. (x / Foto: IMAGO / ZUMA Wire)


Die Berichte aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine erschüttern derzeit die Welt. Die Nachricht, dass am gestrigen Donnerstag russische Truppen die Ruine des ehemaliges Atomkraftwerks Tschernobyl eingenommen haben, sorgte in den Apotheken der Nachbarländer wie Polen für einen Run auf die Lugolsche Lösung und Iodtabletten. Was steckt dahinter und könnte das auch in Deutschland Thema werden?

In polnischen Apotheken steigt seit heute Morgen die Nachfrage nach der sogenannten Lugolschen Lösung, einer hochkonzentrierten Iodlösung. Hintergrund ist, dass das russische Militär hat nach ukrainischen Angaben die Kontrolle über den zerstörten Atomreaktor von Tschernobyl übernommen hat. Das 1986 havarierte Atomkraftwerk liegt knapp 70 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew und nur etwa 10 km von der Grenze zu Belarus entfernt. Dort hat Russland Truppen stationiert. Und nun kontrolliert Russland offenbar die sogenannte Sperrzone und alle Anlagen der Atomruine. Russische Soldaten hätten das Gebiet um das AKW im Norden der Ukraine nach „erbitterten“ Kämpfen eingenommen, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak. Der Unglücksreaktor könne daher nicht mehr als sicher angesehen werden, es handele sich um „eine der ernstesten Bedrohungen für Europa".

Was steckt hinter der großen Nachfrage?

Polen war schon nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 vom Durchzug der radioaktiven Wolke besonders betroffen. Damals wurde beschlossen, nicht radioaktives Iod – insbesondere an Kinder – zu verteilen. Mehr als zehn Millionen Kinder und sieben Millionen Erwachsene wurden nach der Katastrophe mit Iod behandelt. Die positive Wirkung der sogenannten „Iodblockade“ wurde durch Nachuntersuchungen bestätigt. 

Bei den behandelten Personen gab es keinen Anstieg der Schilddrüsenkrebshäufigkeit. In Weißrussland hingegen – wo keine Iodblockade durchgeführt wurde – ist nach der Tschernobyl-Katastrophe Schilddrüsenkrebs bei Kindern, der sonst sehr selten vorkommt, hundertmal häufiger aufgetreten. Nachdem das russische Militär am 24. Februar 2022 am späten Abend die Kontrolle über den stillgelegten Atomreaktor übernommen hat, steigt die Angst im Nachbarland Polen, es könnte erneut radioaktive Strahlung freigesetzt werden. Die Bevölkerung versucht nun, sich entsprechend zu schützen.

Beim Betrieb von Kernreaktoren entstehen verschiedene radioaktive Isotope von Iod, die wegen der dort herrschenden Temperaturen im gasförmigen Zustand vorliegen. Bei einem Unfall kann unter Umständen radioaktives Iod freigesetzt werden. Es schlägt sich auf Boden und Pflanzen nieder und kann mit Nahrungsmitteln, insbesondere Milch, in den menschlichen Körper gelangen. Auch über die Atemluft kann Iod aufgenommen und in den Lungen resorbiert werden. Nach der Aufnahme über die Lunge oder die Resorption im Magen-Darm-Trakt wird das Iod über das Blutplasma transportiert und vorübergehend in den Speicheldrüsen und in der Magenschleimhaut angereichert.

Hauptsächlich wird das Iod von der Schilddrüse mittels des sogenannten Natrium-Iod-Symporters (NIS) aufgenommen und dort länger gespeichert (biologische Halbwertszeit etwa 80 Tage). Die Aufnahme und Speicherung hängt vom Funktionszustand der Schilddrüse ab, bei normaler Schilddrüsenfunktion insbesondere vom Iodangebot in der Nahrung.



Cornelia Neth, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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10 Kommentare

iod 131

von Fabienne am 04.03.2022 um 10:46 Uhr

Die Gefahr beiTschernobyl ist schon wieder überholt worden durch die aktuellen Geschehnisse beim AKW SAPORISCHSCHJA...

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Inhalt pro ml Lösung

von Chris am 27.02.2022 um 16:46 Uhr

Irgendwie stimmt doch die Inhaltsangabe der Lösung nicht.
Wenn doch 100ml Lösung 5g Iod und 10g Kaliumiodid enthält, kann doch 1ml Lösung nicht 50mg Kaliumiodid enthalten???
Dann sollte doch 1ml Lösung 50mg Iod und 100ml Kaliumiodid enthalten? Oder nicht?

Gruß

» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten

AW: Inhalt pro ml Lösung

von Chris am 28.02.2022 um 11:59 Uhr

Hab mich verschrieben in meinem Kommentar.
Ich meine natürlich 100mg Kaliumiodid und nicht 100ml.

AW: Inhalt pro ml Lösung

von Annabelle am 03.03.2022 um 20:40 Uhr

Ja das sehe ich ähnlich. Verstehe auch nicht wie man es im Fall der Fälle dosieren sollte

Lugolsche Loesung

von Sylwia spaniel am 27.02.2022 um 10:51 Uhr

Die ganze Apothekerschaft Polens rät dringend davon ab, die Lugolsche Lösung einzunehmen (und auch zu verkaufen)! Erstens gibt es kaum Risiko seitens Czarnobyl, dass I131 erzeug wird. Zweitens ist die Lugolsche Lösung nicht zu inneren Anwendung gedacht! Drittens, es ist umstritten welche Nebenwirkungen die Einnahme von so großer Menge Jod verursachen kann…

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HWZ

von Helge Killinger am 26.02.2022 um 17:24 Uhr

Beim Einsatz von Kernwaffen entsteht, wenn überhaupt, nur marginal I131, da die meisten Kernwaffen nach dem Fusionsprinzip funktionieren.
Weiteres Nachlesen ergab, dass die erhöhten Strahlungswerte in Tschernobyl durch aufgewirbelten Staub verursacht wurden. Eine Kernspaltung im Block 4 mit I131 Entstehung kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Es gibt wieviele AKWs in Europa?

von HWZ am 27.02.2022 um 13:18 Uhr

Auch diese können potentielle Ziele eines Wahnsinnigen sein.

HWZ I131

von Helge Killinger am 25.02.2022 um 15:54 Uhr

Da Iod 131 eine HWZ von 8d hat und es nach dem Reaktorunfall 1986 zu keiner weiteren Kernspaltung von Uran in Tschrnobyl kommt, ist dann die Diskussion über eine Iodblockade der Schilddrüse überhaupt sinnvoll?

» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten

AW: HWZ I131

von DAZ.online-Redaktion am 25.02.2022 um 16:54 Uhr

Sehr geehrter Herr Killinger,
vielen Dank für Ihren Kommentar - der Redaktion liegt lediglich die Information vor, dass in Polen die Nachfrage nach iodhaltigen Präparaten steigt. Diese Angst, die die Bevölkerung teilweise wohl dazu bewegt, lässt sich nicht immer rational erklären.
Freundliche Grüße
Ihr DAZ.online-Team

AW: HWZ I131

von HWZ am 26.02.2022 um 10:18 Uhr

Wer sagt denn, dass da Schluß ist? Wenn man sich das atomare Potential anschaut, kommt man schon gewaltig ins Grübeln.

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