Wege aus der COVID-19-Pandemie

Was versteht man unter Herdenimmunität?

Stuttgart - 17.11.2021, 16:45 Uhr

Herdenimmunität oder Gemeinschaftsschutz – ob nun bei einer Impfquote von 80 oder 90 Prozent –, was versteht man genau unter diesen Begriffen? (Foto: bennymarty / AdobeStock)

Herdenimmunität oder Gemeinschaftsschutz – ob nun bei einer Impfquote von 80 oder 90 Prozent –, was versteht man genau unter diesen Begriffen? (Foto: bennymarty / AdobeStock)


Sie war und ist immer wieder Thema in den Medien, erreicht ist sie noch nicht – die  Herdenimmunität gegen COVID-19. Kann Sie überhaupt erreicht werden? Und was genau versteht man unter dem Begriff der Herdenimmunität?

Laut dem „Impfdashboard“ des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) sind mittlerweile rund 68 Prozent der Gesamtbevölkerung gegen COVID-19 geimpft. Das Robert Koch-Institut (RKI) geht davon aus, dass die tatsächliche Impfquote bis zu fünf Prozentpunkte höher liegt. Doch auch mit einer Impfquote von 73 Prozent ist eine Herdenimmunität noch nicht erreicht. Denn wie es in einer Pressemitteilung des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg heißt, ist dafür laut einer von ihm in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studie eine Impfquote von 90 Prozent nötig. Ab dieser Impfquote könne sich die Delta-Variante des Coronavirus selbst bei Aufhebung aller Kontakteinschränkungen nicht weiter ausbreiten, heißt es. Es handelt sich um eine Literaturstudie des Tübinger Epidemiologen Professor Dr. Martin Eichner. 

Auch in einem Strategiepapier des Robert-Koch-Instituts (RKI, Stand 22.7.2021) zur Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22 hieß es: „Die Vorstellung des Erreichens einer 'Herdenimmunität' im Sinne einer Elimination oder sogar Eradikation des Virus ist (...) nicht realistisch.“ Für den aktuellen Herbst/Winter ging man davon aus, dass eine breite Grundimmunität „vermutlich“ noch nicht erreicht sein wird, „weil die erwartbare Impfquote von ca. 70-80 % unter den Erwachsenen hierzu noch nicht ausreichen wird“, hieß es. Es wurde jedoch erwartet, dass die Grundimmunität in der Bevölkerung in den Folgejahren – durch weitere Impfungen sowie Infektionen – zunehmend stabiler und die saisonalen Wellen damit kleiner werden. 

Herdenimmunität oder Grundimmunität – ob nun bei 80 oder 90 Prozent Impfquote –, was versteht man genau unter diesen Begriffen? 

Herdenimmunität oder Gemeinschaftsschutz?

Wie das RKI auf seinem Internetauftritt erklärt, versteht man unter einer Herdenimmunität im Sinne eines Gemeinschaftsschutzes beispielsweise folgende Entwicklung während der COVID-19-Pandemie: „In Israel konnte beobachtet werden, dass sich mit jedem Anstieg der COVID-19-Impfquote um 20 % in der Bevölkerung ab 18 Jahre die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Diagnostik unter ungeimpften Kindern halbierte.“ Nach dieser Definition besteht also durchaus ein gewisser „Herdenschutz“, allerdings meint Herdenimmunität damit keine „Impfquoten-Schwelle, ab der die Transmission so weit reduziert wird, dass die Virustransmission nicht nur reduziert, sondern komplett zum Erliegen kommt und der Erreger in einer Bevölkerung eliminiert wird“. 

Aus „Public-Health-Sicht“ empfiehlt sich deshalb laut RKI eher die Bezeichnung „Gemeinschaftsschutz“ als Herdenimmunität, „wenn einzelne, nicht immune Individuen in einer Gemeinschaft („Herde“) durch die Immunität der anderen Individuen in der gleichen Gemeinschaft indirekt geschützt sind“. 

Impfung für Herdenimmunität bedeutsamer als natürliche Infektion

Unter Berufung auf die aktuelle Literaturstudie aus Tübingen gibt das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg an, dass aktuell davon auszugehen ist, dass die Infektiosität von geimpften Infizierten um etwa 40 Prozent niedriger ist als von nichtgeimpften Infizierten. Sie schützen also nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung vor dem Virus. Damit hat der Impffortschritt gegen COVID-19 einen deutlich größeren Einfluss auf die Populationsimmunität beziehungsweise Herdenimmunität als die natürliche Infektion. Einen Schwellenwert für die Elimination von COVID-19 wird es wahrscheinlich auch in Zukunft aufgrund neuer Virus-Varianten zwar nicht geben. Es ist davon auszugehen, dass SARS-CoV-2 endemisch weiter zirkulieren wird. Deshalb ist es aber nicht weniger wichtig, die Übertragung durch Impfungen einzudämmen. 

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Das zeigen auch die Erfahrungen mit Pandemien aus der Vergangenheit: Wie Eva Grill (Apothekerin und Professorin am Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München) in ihrem DAZ-Beitrag „Epidemisch, pandemisch oder endemisch: Wann und wie werden wir die Corona-Krise überstehen?“ (DAZ 23/2021) erläuterte, endete beispielsweise die zweite der drei historischen Pandemiewellen der Pest in Europa „vermutlich auch deshalb, weil die Bevölkerungszahl durch die Erkrankung auf die Hälfte zurückgegangen war, einige Menschen aber wohl durch ihre genetische Ausstattung oder eine durchgemachte Infektion immun waren.“ Abzuwarten, bis sich die Bevölkerung um die Hälfte reduziert hat, werden wohl auch die schärfsten Kritiker:innen aktueller Corona-Pandemie-Maßnahmen als keinen akzeptablen Weg aus der Pandemie ansehen. 

Impferfolg gegen Pocken nur bedingt mit COVID-19 vergleichbar

Als positives Beispiel führte Grill die Impfkampagne gegen die Pocken an: Wie jetzt bei COVID-19, „ging man zunächst davon aus, dass rein rechnerisch 80 bis 100 % der Bevölkerung geimpft sein müssten“, um eine Herdenimmunität bzw. Populationsimmunität zu erreichen. Doch mit Maßnahmen, wie wir sie auch heute kennen – aktive Isolierung der Fälle, konsequente Kontaktpersonennachverfolgung und Impfung aller Kontaktpersonen und des weiteren Umfelds der Fälle – wurde es (unter anderem in Afrika und Asien) möglich, von diesem Paradigma abzuweichen. Dass diese Maßnahmen nun bei Corona nicht unbedingt den gleichen Erfolg zeigen, liegt wohl auch daran, dass – anders als bei COVID-19 – „an Pocken Erkrankte Krankheitszeichen zeigen, bevor sie infektiös sind, eine frühzeitige Impfung auch nach Infektion wirksam ist und eine gegen Pocken immunisierte Person vermutlich lebenslang gegen die Erkrankung immun bleibt“.

Ob am Beispiel der Pest, von Gelbfieber, Ebola, Malaria, HIV oder Tuberkulose – Grill machte deutlich, dass uns COVID-19 auch mit wirksamen Präventions- und Therapiemaßnahmen wahrscheinlich noch lange begleiten wird. Impfungen können den langen Weg bis zur „Herdenimmunität“ erträglicher machen und eventuell sogar abkürzen. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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