Gentherapie bei metachromatischer Leukodystrophie

G-BA erkennt erheblichen Zusatznutzen für Libmeldy

Stuttgart - 11.11.2021, 09:15 Uhr

Der G-BA bescheinigt Libmeldy für die Therapie von an metachromatischer Leukodystrophie erkrankten, aber noch symptomfreien Kindern einen erheblichen Zusatznutzen. (s / Foto: blas / AdobeStock)

Der G-BA bescheinigt Libmeldy für die Therapie von an metachromatischer Leukodystrophie erkrankten, aber noch symptomfreien Kindern einen erheblichen Zusatznutzen. (s / Foto: blas / AdobeStock)


Die zur Behandlung von metachromatischer Leukodystrophie (MLD) eingesetzte Gentherapie Libmeldy (Atidarsagen Autotemcel) bringt dem G-BA zufolge einen erheblichen Zusatznutzen für Kinder mit MLD, die noch symptomfrei sind. Libmeldy ersetzt die Funktion des bei metachromatischer Leukodystrophie defekten oder fehlenden Gens für humane Arylsulfatase A (ARSA). Eine Heilung von MLD bringt Libmeldy jedoch nicht. Die Kosten der einmaligen Behandlung liegen bei 2,8 Millionen Euro.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat über den Zusatznutzen von zwei Gentherapien für schwere und sehr seltene Erkrankungen bei Kindern entschieden: Zolgensma® mit dem Wirkstoff Onasemnogen Abeparvovec zur Behandlung von spinaler Muskelatrophie und Libmeldy® mit dem Wirkstoff Atidarsagen Autotemcel zur Behandlung der Stoffwechselstörung metachromatische Leukodystrophie (MLD).

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Allerdings bescheinigt der G-BA lediglich Libmeldy für die Therapie von an MLD erkrankten, aber noch symptomfreien Kindern einen erheblichen Zusatznutzen. Libmeldy ist ein sogenanntes Orphan Drug – ein Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden. Als selten gilt eine Erkrankung dann, wenn höchstens eine von 2.000 Personen in der EU davon betroffen ist. Orphan Drugs genießen einige Erleichterungen, wenn es um ihre Zulassung und Erstattung geht. Das soll Pharmaunternehmen Anreize schaffen, auch in seltenen Therapiegebieten zu forschen – unter anderem dürfen Orphan Drugs eine vereinfachte Nutzenbewertung durchlaufen: Bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro gilt der Zusatznutzen als gesetzt. Das heißt: Der G-BA verzichtet bei der Nutzenbewertung auf den Vergleich mit bereits eingesetzten und etablierten Arzneimitteln und Therapien.

Erheblicher Zusatznutzen für Libmeldy

Die Bewertung des Ausmaßes und der Wahrscheinlichkeit des Zusatznutzens von Libmeldy stützte der G-BA auf Zulassungsunterlagen und eine Geschwisterkind-Analyse: „Bei einem sehr frühen Behandlungsbeginn mit Libmeldy, wenn die Kinder noch ohne Symptome sind, konnte der G-BA einen erheblichen Zusatznutzen in Bezug auf Bewegungsbeeinträchtigungen ableiten“, erklärt der G-BA. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA und Vorsitzender des Unterausschusses Arzneimittel, räumt jedoch ein, dass der G-BA-Beschluss zu Libmeldy „befristet“ sei, da die endgültige Auswertung der Studie noch nicht vorliege. Dann wolle man das Arzneimittel erneut bewerten, um auch Erkenntnisse zur langfristigen Anwendung bei bereits symptomatischen Patienten zu bekommen. „Die Stoffwechselkrankheit metachromatische Leukodystrophie ist derzeit nicht heilbar, auch nicht mit dem neuen Wirkstoff. Aber wir haben jetzt zumindest eine Option, die den betroffenen Kindern ermöglicht, mit weniger körperlichen Beeinträchtigungen zu leben. Auch das ist ein Gewinn“, erklärt Hecken.

2,8 Millionen Euro für Libmeldy

Libmeldy ist seit Dezember 2020 in der EU zugelassen. „Libmeldy (Atidarsagen autotemcel) ist eine Gentherapie, die eine mit autologen CD34+ Zellen angereicherte Population hämatopoetischer Stamm- und Vorläuferzellen (HSPC) enthält, die ex vivo unter Verwendung eines lentiviralen Vektors, der das Gen für humane Arylsulfatase A (ARSA) codiert, transduziert wurden“, erklärt Orchard Therapeutics, Zulassungsinhaber von Libmeldy, in der Fachinformation. Die Kosten der einmaligen Behandlung liegen bei 2,8 Millionen Euro.

Was ist metachromatische Leukodystrophie (MDL)?

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Menschen, die an metachromatischer Leukodystrophie (MLD) erkrankt sind, leiden an einem Gendefekt, und zwar im Gen, das für das Enzym Arylsulfatase A (ARSA) codiert. Arylsulfatase A ist physiologischerweise für den Abbau von bestimmten Fetten, den Sulfatiden, im Nervengewebe zuständig. Fehlt ARSA, häufen sich diese Sulfatide im Nervengewebe – unter anderem in der weißen Substanz – an und führen zu einem Zerfall der Myelinscheiden (Demyelinisierung). Normalerweise ist die Myelinschicht dafür zuständig, dass Nervenimpulse weitergeleitet werden, bei MLD geht diese Fähigkeit mit dem Verlust der Markscheide sodann verloren. Die Folge: Das Nervensystem wird massiv geschädigt, und die Erkrankten verlieren über den Krankheitsverlauf mehr und mehr ihre motorischen und geistigen Fähigkeiten. Je nach Erkrankungsalter unterscheidet man zwischen spätinfantiler (60 Prozent), juveniler (20 bis 30 Prozent) und adulter (10 bis 20 Prozent) MLD. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa ein bis drei Patienten, die Prävalenz wird auf 1:625.000 geschätzt. 

Bei der spätinfantilen Form fehlt die Aktivität der ARSA ganz oder ist sehr niedrig. Die Kinder erkranken im Alter zwischen 15 und 24 Lebensmonaten. Das zeigt sich dadurch, dass die Kinder Probleme beim Laufen- und Sprechenlernen haben. Zunehmend verlieren sie ihre Gehfähigkeit und im Alter von zwei bis drei Jahren sodann das freie Sitzen. Das Krankheitsbild ist außerdem geprägt von Muskelspastiken und dem zunehmenden Verlust der geistigen Fähigkeiten, die Kinder sterben meist innerhalb von fünf Jahren nach Krankheitsbeginn.

Erkranken Kinder später, im Alter zwischen vier und fünf Jahren, liegt die juvenile MLD vor. Hier sind der ARSA-Enzymmangel und die dadurch bedingte Sulfatidurie weniger stark ausgeprägt als bei der infantilen Form. Meist zeigt sich der Beginn der Erkrankung durch einen Stillstand der geistigen Entwicklung, gefolgt von zunehmend motorischen Verlusten. Der Krankheitsverlauf ähnelt dem der spätinfantilen Form, wobei die Rückschritte sich über einen längeren Zeitraum ziehen. Die Kinder sterben häufig vor dem Erwachsenenalter.

Die beste Prognose hat die adulte MLD, wenn noch eine größere Restaktivität des ARSA-Enzyms vorliegt: Erkrankungsbeginn ist das Jugendlichenalter. Als klinische Symptome zeigen die Jugendlichen motorische oder psychiatrische Auffälligkeiten, Sprachstörungen können sich entwickeln, die mentale Leistung nachlassen und Lähmungen sich ausprägen. Die Lebenserwartung bei adulter MLD beträgt mehrere Jahrzehnte.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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