Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren

Nach Corona-Impfung von AstraZeneca: Könnte ein Krebsarzneimittel VITT verhindern?

Stuttgart - 05.11.2021, 15:13 Uhr

Es wurden und werden viele Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs weltweit an bedürftige Länder gespendet. VITT ist also ein globales Problem. (s / Foto: IMAGO / NurPhoto)

Es wurden und werden viele Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs weltweit an bedürftige Länder gespendet. VITT ist also ein globales Problem. (s / Foto: IMAGO / NurPhoto)


Es ist noch nicht lange her, da drehte sich in den Medien alles um den COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca – nicht nur, aber vor allem wegen der seltenen und gefürchteten Nebenwirkung einer Impfstoff-induzierten immunthrombotischen Thrombozytopenie (VITT). Es gibt schon erste Therapieansätze, welche die Entwicklung zu einer möglicherweise tödlichen zerebralen Venen- oder Sinusthrombose verhindern sollen. Doch es besteht noch Forschungsbedarf. Manche Wissenschaftler:innen erkennen nun Potenzial in einer Wirkstoffklasse, die bereits als Arzneimittel gegen Krebs auf dem Markt ist. Es geht um Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren wie Ibrutinib.

Im Oktober 2014 wurde mit Ibrutinib (Imbruvica®) der erste orale Inhibitor der Bruton-Tyrosinkinase (BTK) zugelassen. Erst diese Woche gelangte Ibrutinib in die Medien: Der PRAC hatte die Überprüfung eines Sicherheitssignals zu Imbruvica® abgeschlossen und gab Entwarnung: „Krebspatient:innen, die zur Behandlung ihres Mantelzell-Lymphoms, ihrer chronisch lymphatischen Leukämie oder von Morbus Waldenström Ibrutinib erhalten und gleichzeitig ACE-Hemmer einnehmen, haben kein erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod“, hieß es. Allerdings will der PRAC die Kardiotoxiziät von Imbruvica® weiter untersuchen, unabhängig von ACE-Hemmern.

Nun erfahren die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTK)  erneut mediale Aufmerksamkeit – in einem ganz anderen Bereich.

Wie es in einer Mitteilung des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München heißt, können BTK-Inhibitoren, „die krankhafte Aktivierung von Blutplättchen mit einhergehender Bildung von Gerinnseln normalisieren, die in seltenen Fällen nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff gegen COVID-19 auftritt“. Der COVID-19-Impfstoff Vaxzevria™ von AstraZeneca beherrschte noch im Frühjahr 2021 zahlreiche Schlagzeilen. Mittlerweile ist seine Relevanz in Deutschland deutlich zurückgegangen. Denn aufgrund der oben erwähnten thromboembolischen Ereignisse werden die beiden Vektor-basierten Impfstoffe (Vaxzevria™ und COVID-19 Vaccine Janssen) von der STIKO nur noch für Personen im Alter ≥ 60 Jahren empfohlen. Außerdem sollen alle Personen, „die bisher eine Dosis eines Vektor-basierten Impfstoffes erhalten haben, ein heterologes Impfschema (d.h. 1. Impfung mit Vaxzevria™ oder der COVID-19 Vaccine Janssen gefolgt von einer Dosis eines mRNA-Impfstoffs in einem Abstand von mindestens 4 Wochen)“ erhalten. So kann man es in der 12. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung nachlesen. Was die Münchner Forscher:innen um Professor Dr. Christian Weber in der aktuellen Ausgabe des „New England Journal of Medicine“ (NEJM) berichten, ist deshalb nun aber nicht weniger interessant. 

Denn auch wenn sich die Wissenschaft schnell und intensiv mit den Nebenwirkungen der Vektorimpfstoffe auseinandergesetzt hat, komplett verstanden sind diese noch nicht – und ihre Erklärung ist sicherlich auch für die zukünftige Impfstoffentwicklung interessant. 

Bei der thromboembolischen Nebenwirkung handelt es sich genauer definiert um die sogenannte VITT (Vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia). In einem Labormodell haben die Münchner Mediziner:innen nun das Blutserum von VITT-Patient:innen zum Blut von gesunden Proband:innen gegeben. Daraufhin „beobachteten sie die Aktivierung der Blutplättchen und die anschließende Bildung von Gerinnseln“, wie es in der Mitteilung heißt. Wurden allerdings zuvor BTK-Inhibitoren beigemischt, kam es nicht zur Gerinnung.

Trotz Immunglobulinen weiterhin hohe Sterblichkeit 

Tatsächlich könnte eine schnelle Reaktion bei starken Kopfschmerzen nach AstraZeneca-Impfung die gefürchtete Nebenwirkung verhindern. Denn wie eine Fallserie im September zeigte, muss zum Zeitpunkt der Kopfschmerzen eine zerebrale Venen- und Sinusthrombose (CVST) bzw. VITT noch nicht eingetreten sein. „Offensichtlich bietet das ‚Prä-VITT-Syndrom‘ ein therapeutisches Fenster, um den gefürchteten Impffolgen wie Sinus- und Hirnvenenthrombosen effektiv entgegenzuwirken“, hieß es in einer Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Von elf Proband:innen erhielten damals mit einer Ausnahme alle Patient:innen, die auch im Verlauf keine Thrombosen entwickelten, binnen fünf Tagen nach Beginn der Kopfschmerzen eine VITT-spezifische Therapie mit therapeutischer Antikoagulation, hochdosierten Immunglobulinen oder Corticoiden. (Vier bekamen nur verzögert eine Therapie und in der Folge Thrombosen.) 

Um nun auch BTK-Inhibitoren gegen VITT einzusetzen, müssten sie in klinischen Studien getestet werden, erklärt Weber. Sie könnten dann außerdem auch bei einer Autoimmunreaktion, die bei der therapeutischen Gabe von Heparin plötzlich zur Gerinnselbildung führt, helfen. Die Thrombosen nach AstraZeneca-Impfung scheinen Ähnlichkeit zu haben zu dieser sogenannten heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT).

Therapiemöglichkeiten könnten sich ergänzen

Bei der aktuellen Veröffentlichung im NEJM handelt es sich um keine Studie, sondern lediglich eine „Korrespondenz“, also eine Art „Leserbrief“. Dort beziehen sich Weber und seine Kollegen auf bereits veröffentlichte Studien und stellen fest, dass Patient:innen mit VITT-Syndrom bislang speziell mit intravenösen Immunglobulinen behandelt wurden. Die dennoch hohe Sterblichkeit deute aber auf die Notwendigkeit anderer (wirksamerer) Behandlungsmöglichkeiten hin. Und eben hier bringen sie die (BTK)-Inhibitoren ins Spiel: Sie sollen die FcγIIA-Rezeptor-vermittelte Thrombozytenaggregation hemmen. Wörtlich erklären die Wissenschaftler: „Wir fanden heraus, dass niedrige Konzentrationen der BTK-Inhibitoren Ibrutinib und Fenebrutinib die Thrombozytenaggregation, die durch das Serum von Patienten mit VITT ausgelöst wurde, verhinderten und dass die Medikamente die teilweise Hemmung durch eine intravenöse Immunglobulintherapie oder eine FcγIIA-Rezeptorblockade ergänzten. Daher halten wir die orale Verabreichung von niedrig dosierten BTK-Inhibitoren für die frühe Behandlung des Verdachts auf VITT (auf der Grundlage von Symptomen, erhöhtem d-Dimer-Spiegel und Thrombozytopenie) für eine erprobungswürdige therapeutische Option neben intravenösem Immunglobulin und direkten oralen Antikoagulantien.“ (Für Fenebrutinib wird übrigens auch eine Zulassung bei Multipler Sklerose angestrebt.)

Hypothese findet Unterstützer, aber klinische Daten fehlen

Forschende der Universitätsmedizin Greifswald unter Leitung von Professor Andreas Greinacher, die die mediale Debatte über die Nebenwirkungen nach AstraZeneca-Impfung früh anführten und auch die Ähnlichkeit zur HIT ins Spiel brachten, haben auf die Korrespondenz aus München reagiert: Sie verweisen auf entsprechende Studien sowie weitere Optionen und stimmen der Hypothese aus München grundsätzlich zu – verweisen aber auch auf das Fehlen klinischer Daten: Die meisten klinischen Erfahrungen würden derzeit für die Verwendung von intravenösen Immunglobulinen zur Blockierung der FcγIIA-Rezeptor-vermittelten Thrombozytenaktivierung bei Patienten mit VITT oder autoimmuner HIT vorliegen. Allerdings könnten BTK-Inhibitoren und andere neue Optionen bei Patient:innen, in denen VITT-Antikörper als Autoantikörper persistieren und eine Thrombozytenaktivierung und rezidivierende Thrombosen verursachen, hilfreich sein. Auch sei an Gesundheitssysteme zu denken, in denen es nur begrenzten Zugang zu oder eine unzureichende Versorgung mit pharmakologischen intravenösen Immunglobulinen gibt, (bei Ibrutinib handelt es sich um Tabletten). Es wurden und werden viele Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs weltweit an bedürftige Länder gespendet. VITT ist also ein globales Problem. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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