Hochpreiser im Visier

Wie die AOK bei Arzneimitteln sparen will

Berlin - 28.10.2021, 15:15 Uhr

Der stellvertretende WidO-Geschäftsführer Helmut Schröder erklärte, wie man zu fairen Preisen für neue Arzneimittel kommen könnte. (Sceenshot: Youtube / https://youtu.be/8ib2VYSmeao)

Der stellvertretende WidO-Geschäftsführer Helmut Schröder erklärte, wie man zu fairen Preisen für neue Arzneimittel kommen könnte. (Sceenshot: Youtube / https://youtu.be/8ib2VYSmeao)


In der sich neigenden Legislaturperiode waren Einsparungen im Gesundheitswesen kein Thema – erst recht nicht während der Pandemie. Das könnte sich nun ändern. Und wenn kurzfristig gespart werden soll, rückt stets der Arzneimittelsektor in den Blick. Der AOK-Bundesverband hat einige Vorschläge parat, wo sich ansetzen ließe – zum Beispiel könnte der Herstellerrabatt angehoben oder Grippeimpfstoffe wieder ausgeschrieben werden. Vor allem aber sieht die AOK-Gemeinschaft Reformbedarf bei der Preisregulierung neuer, hochpreisiger Arzneimittel.  

Normalerweise erscheint um diese Zeit im Herbst der Arzneiverordnungsreport, der seit Jahrzehnten potenzielle Einsparreserven im Arzneimittelbereich aufzeigt und damit regelmäßig für Kontroversen zwischen Kassen und Industrie sorgt. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) hat diesen Report bis vor zwei Jahren mit herausgegeben, nun setzt es auf eine eigene Publikation: WidO und AOK-Bundesverband haben am gestrigen Mittwoch erstmals den „Arzneimittel-Kompass 2021“ vorgestellt. Im Fokus stehen hochpreisige Arzneimittel und wie – zehn Jahre nach der Zeitenwende durch das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) – eine faire Preisgestaltung für neue Medikamente aussehen könnte. 

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Helmut Schröder, stellvertretender WidO-Geschäftsführer und Mitherausgeber des „Arzneimittel-Kompass“, präsentierte zunächst einige Zahlen, die aufhorchen lassen: Mit 49,2 Milliarden Euro haben die GKV-Arzneimittelausgaben im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Im Jahr 2011, so Schröder, habe ein Arzneimittel im Mittel noch 180 Euro pro Packung gekostet – im August 2021 habe der Preis bei durchschnittlich 1.225 Euro gelegen (Gesamtmarkt). Neue Arzneimittel, die in den vergangenen 36 Monaten auf den deutschen Markt gekommen sind, kosteten aktuell sogar im Schnitt 51.189 Euro pro Packung (2011: 902 Euro). Das teuerste Arzneimittel ist nicht mehr Zolgensma, sondern ein anderes Gentherapeutikum zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit bei Kindern: Libmeldy mit einem Listenpreis von 2,9 Millionen Euro.

Die Hälfte der gesamten GKV-Arzneimittelausgaben fiel auf den patentgeschützten Bereich – der Verordnungsanteil dieser neuen Präparate liegt aber nur bei 6 Prozent (2011 waren es noch 15 Prozent). Es wird also sehr viel Geld für die Behandlung sehr weniger Patienten ausgegeben. Und die Hochpreiser, die auch Apotheken zu schaffen machen können, schlagen immer deutlicher zu Buche: Entfielen 2011 rund 17 Prozent des Arzneimittelgesamtumsatzes auf Präparate mit einem Preis von 1.000 Euro oder mehr, waren es 2020 bereits 43 Prozent.

Zu hohe Margen?

Auch wenn es sicher wichtige Innovationen gibt: Die Autoren der AOK-Publikation vermissen eine Balance zwischen den verlangten Preisen, den Gewinnen der Industrie und dem Nutzen der Präparate. Laut dem Beratungsunternehmen Ernst & Young konnten die 21 weltweit umsatzstärksten Pharmaunternehmen, die im vergangenen Jahr 53 Prozent der Nettoumsätze des GKV-Gesamtmarkts auf sich vereint haben, EBIT-Margen (Gewinn vor Zinsen und Steuern im Verhältnis zum Umsatz) von durchschnittlich 25,7 Prozent aufweisen. Eine überdurchschnittliche Marge im Vergleich zu anderen Branchen, die aus Kassensicht durchaus gesenkt werden kann.

Dazu sei es zum einen nötig, die frühe Nutzenbewertung mit den anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen weiterzuentwickeln. Die Kritik an der freien Preisgestaltung der Unternehmen im ersten Marktjahr und die Forderung, den Erstattungsbetrag rückwirkend geltend zu machen, sind nicht neu. Der AOK-Bundesverband möchte aber auch, dass es schneller geht: Die Nutzenbewertung könnte schon vor dem Marktzugang beginnen, die Verhandlungen über den Erstattungsbetrag von vier auf zwei Runden beschränkt werden, erklärte AOK-Chef Litsch. Neun Monaten nach dem Markteintritt könnte der Preis stehen – in dieser Zeit sollte ein Interimspreis gelten. Steht der Erstattungsbetrag, müsse ein rückwirkender Ausgleich zwischen Kassen und Hersteller erfolgen.

Litsch: Kein Grund zur Verstetigung der Pandemie-Sonderregeln

Doch der „Arzneimittel-Kompass“ präsentiert auch einen Vorschlag der über das Schrauben am bekannten Verfahren hinausgeht. Ein Algorithmus soll den Weg zu wirklich fairen Preisen bereiten, am besten gleich für ganz Europa. Die Idee stammt von der Erasmus Universität Rotterdam, der Internationale Verband der Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit (AIM) hat daraus einen Lösungsansatz entwickelt, der laut AOK auch schon im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. Demnach werden die Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) eines neuen Arzneimittels mit einem Pauschalbetrag von 250 Millionen Euro angesetzt. Pharmazeutische Hersteller können aber auch ihre darüber hinaus gehenden eigenen Investitionen dokumentieren und bis zu einer Grenze von 2,5 Milliarden Euro geltend machen.

Eine Pauschale (oder reale Kosten) werden auch bei den Produktions- und Gemeinkosten berücksichtigt. Für Vertrieb und fachliche Information werden mit 20 Prozent der F&E-Kosten veranschlagt. Sodann wird dem Unternehmen ein Grundgewinn von 8 Prozent gewährt. Um einen Anreiz für die Entwicklung nutzbringender und benötigter Arzneimittel zu schaffen, setzt das Modell noch ein Innovationsbonus oben drauf. Er könnte bei bis zu 40 Prozent aller Kosten liegen.

Kurzfristige Sparinstrumente

Dies klingt nach großer Zukunftsmusik. Litsch geizte daher auch nicht mit Vorschlägen, wie kurzfristig im Arzneimittelmarkt gespart werden könnte – und griff dabei in einen altbekannten Instrumentenkasten. So sollte der Herstellerrabatt für patentgeschützte Arzneimittel von 7 auf 16 Prozent angehoben und der Mehrwertsteuersatz von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden. Festhalten wollen die AOKen auch am langjährigen Preismoratorium für den nicht festbetragsgeregelten Bestandsmarkt.

Litsch verteidigte überdies mit Verve die Rabattverträge – und zwar im Einpartnermodell. Dieses helfe den Unternehmen sicher ihre Abgabemengen zu kalkulieren und führe zudem seltener zu Präparatewechseln für die Patienten. Die Rabattverträge hätten den AOKen im vergangenen Jahr 11 Prozent der Arzneimittelkosten eingespart – rund 5 Milliarden Euro weniger habe die gesamte GKV durch die Verträge ausgeben müssen. Diese Erfolgsgeschichte, die sich auch im Pandemiejahr fortsetzte, ist für Litsch allerdings kein Grund, die erleichterten Abgaberegeln beizubehalten, die die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverodnung den Apotheken eröffnet, wenn ein Rabattarzneimittel nicht verfügbar ist. Aus seiner Sicht haben diese Sonderregelungen schlicht keine Relevanz und sind daher auch künftig nicht nötig. Wenn die Apothekerschaft eine Verstetigung dieser Regeln fordert, geht es in Augen Litschs nur um ein „Symbolthema“.

Nicht zuletzt regte der AOK-Chef die Rückbesinnung auf andere vom Gesetzgeber begrabene Maßnahmen im Arzneimittelbereich an: So sollten Grippeimpfstoffe wieder ausgeschrieben werden oder zumindest Preisverhandlungen zwischen Kassen und Apotheken stattfinden. Und im onkologischen Bereich, so Litsch, könne ebenfalls man wieder „offener“ werden.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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1 Kommentar

Lustig

von Karl Friedrich Müller am 28.10.2021 um 15:46 Uhr

bei Grippeimpfstoffen sparen mittels unter Anderem "Preisverhandlungen" zwischen Kassen und Apotheken.
Wer sagt es denen?
Bei 1€ pro Dosis, die auch noch auf maximal 75 € gedeckelt ist, gibt es nicht mehr viel zu verhandeln. Die Apotheken haben viel Aufwand und verdienen nichts.
Dieses Nichtwissen (Absicht?)bei den Kassen ist erschreckend.
Wir können es auch ganz lassen. Dann liefern die Kassen direkt an die Ärzte. Bitteschön.

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