WHO Sicherheitsdatenbank

Chronische Überempfindlichkeit durch Capsaicin

Stuttgart - 08.10.2021, 16:45 Uhr

Im WHO Pharmaceutical Newsletter N°2|2021 beschreiben zwei Wissenschaftlerinnen des Uppsala Monitoring Center der WHO eine Fallserie, die vermuten lässt, dass eine wiederholte Capsaicin-Exposition zu „schwerer und möglicherweise chronischer Überempfindlichkeit“ führen kann. (Foto: grafikplusfoto / AdobeStock)

Im WHO Pharmaceutical Newsletter N°2|2021 beschreiben zwei Wissenschaftlerinnen des Uppsala Monitoring Center der WHO eine Fallserie, die vermuten lässt, dass eine wiederholte Capsaicin-Exposition zu „schwerer und möglicherweise chronischer Überempfindlichkeit“ führen kann. (Foto: grafikplusfoto / AdobeStock)


Capsaicin kann zu Atemnot und chronischer Überempfindlichkeit führen – und nicht immer informiert der Beipackzettel Capsaicin-haltiger Arzneimittel ausreichend über die Schwere der möglichen Nebenwirkungen. Dabei scheint besonders ein Präparat zu den unerwünschten Capsaicin-Wirkungen zu führen.

Capsaicin (CPS) mutet zunächst einmal harmlos an – stammt es natürlicherweise doch aus verschiedenen Paprika-Arten, wie Chilis (gemahlen als Cayennepfeffer). Helfen soll Capsaicin als „pflanzliches Arzneimittel zur äußerlichen Behandlung von Muskelschmerzen“, erklärt Sanofi in der Fachinformation von Finalgon® CPD-Wärmecreme. Eingesetzt wird die Capsaicin-haltige Creme (CPD: Cayennepfeffer-Dickextrakt) zur „Linderung von Muskelschmerzen im Bereich der Schulter, Hals- und Lendenwirbelsäule bei Weichteilrheumatismus und Verspannungen“. Finalgon® ist rezeptfrei. Daneben gibt es auch das höher dosierte und verschreibungspflichtige Präparat Qutenza®: „Qutenza® wird zur Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen angewendet“, lautet das Anwendungsgebiet des Capsaicin-haltigen Pflasters in der Fachinformation (Hersteller Grünenthal).

Qutenza sicher anwenden

So kurz das Anwendungsgebiet ist, desto länger ist die Liste der Sicherheitsanweisungen zum korrekten Gebrauch, vor allem beim verschreibungspflichtigen Pflaster Qutenza®: So soll „die Behandlung mit Qutenza® in einem gut belüfteten Raum“ durchgeführt, bei der Handhabung Nitrilhandschuhe getragen werden, und beim Anbringen und Entfernen des Pflasters empfiehlt Grünenthal das Tragen eines Mundschutzes und einer Schutzbrille. Denn: Bei Kontakt mit Capsaicin seien vorübergehende Erytheme und Brennen (wobei die Schleimhäute besonders empfindlich sind), Augenschmerzen, Augen- und Rachenirritationen und Husten möglich. Und vor allem: Qutenza® sollte entweder von einem Arzt oder unter dessen Aufsicht und dann von medizinischem Fachpersonal angewendet werden.

Nebenwirkungen „vorübergehend“ und „leicht“?

Zu den häufigen Nebenwirkungen einer Behandlung mit Qutenza® gehören Brennen, Hypertonie, Husten, Juckreiz, Übelkeit, Schmerzen in Extremitäten, Papeln, Bläschen oder Ödeme. Sehr häufig kommt es zu Schmerzen oder Erythemen an der Applikationsstelle. Nicht bekannt ist, wie häufig es zu Verbrennungen zweiten Grades oder versehentlicher Exposition (einschließlich Augenschmerzen, Augen- und Rachenirritationen und Husten) kommt, doch werden diese Nebenwirkungen ebenfalls aufgeführt. Der Hersteller beschreibt die unerwünschten Arzneimittelwirkungen als „vorübergehend, selbstlimitierend und in der Regel von leichter bis mäßiger Intensität“.

Wie wirkt Capsaicin?

Capsaicin ist ein natürlicher Bestandteil in verschiedenen Paprika-Arten, unter anderem in Chilischoten, die gemahlen als Cayennepfeffer im Handel sind. Neben seinem kulinarischen Einsatz findet Capsaicin auch Anwendung zur Schmerzbehandlung. Die Ratio dahinter: Capsaicin aktiviert bestimmte „Schmerzrezeptoren“ (Nozizeptor) – den transienten Rezeptor-Potenzial-Kationenkanal der Unterfamilie V, Subtyp 1 (TRPV1)-Rezeptor, dabei steht das „V“ für Vanilloid, weswegen der Rezeptor früher veraltet Vanilloid-Rezeptor hieß oder nach seinem Agonisten Capsaicin als Capsaicin-Rezeptor bezeichnet wurde. Der Rezeptor kommt in Nervenzellen des zentralen und peripheren Nervensystems vor. Neben Capsaicin können auch andere Reize, wie Hitze oder ein erniedrigter pH-Wert, TRPV-1 aktivieren, was im Gehirn als Schmerzsignal wahrgenommen wird. Initial kommt es zu Schmerz, Schärfe, Brennen oder Erythem. Später soll es zur kutanen Desensibilisierung des Nozizeptors kommen, was sodann für die gewünschte Schmerzlinderung verantwortlich sein soll. Die Entdeckung des TRPV-1-Rezepors wurde in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.

Medizinisches Personal besonders gefährdet

Die WHO sieht das anders: Im WHO Pharmaceutical Newsletter N°2|2021 beschreiben zwei Wissenschaftlerinnen des Uppsala Monitoring Center der WHO eine Fallserie, die vermuten lässt, dass eine wiederholte Capsaicin-Exposition zu „schwerer und möglicherweise chronischer Überempfindlichkeit“ führen kann. Sie hatten dafür die weltweite WHO-Datenbank mit Einzelfall-Sicherheitsberichten VigiBase überprüft und entdeckt, dass einige der beschriebenen Reaktionen zum einen schwerwiegender waren als im Beipackzettel beschrieben, zum anderen könnten die unerwünschten Reaktionen zwar anfänglich mild sein, doch bei wiederholter Anwendung „schwerwiegender und sogar chronisch werden“, schreiben die Autoinnen Marian Attalla and Lovisa Sandberg. Die Gefahr einer wiederholten Exposition befürchten die WHO-Mitarbeiterinnen, insbesondere bei Krankenschwestern und anderen Gesundheitsberufen. So wird Qutenza® zwar beispielsweise an einem Patienten nur alle 90 Tage angewendet, doch Pflegerinnen und Pfleger könnten stets mehrere Patienten gleichzeitig mit Capsaicin-haltigen Arzneimitteln versorgen müssen.

Überempfindlichkeitsreaktionen häufiger als erwartet

Die Autorinnen stießen in VigiBase auf 42 Fälle, in denen im Zusammenhang mit Capsaicin über Überempfindlichkeitsreaktionen berichtet wurde, die erwartete Anzahl lag bei knapp einem Drittel (16 Fälle). In sieben Fällen trat eine Überempfindlichkeit aufgrund einer beruflichen Exposition auf. Die Vorfälle ereigneten sich in den USA und Europa (auch Deutschland). In den meisten Fällen berichteten Frauen (76 Prozent) über Überempfindlichkeitsfälle, und am häufigsten (62 Prozent) war das Pflaster verwendet worden, auch bei beruflichem Kontakt. Über die Hälfte der Fälle war schwerwiegend. Insgesamt lagen 105 Meldungen zu einer beruflichen Exposition (nicht nur Überempfindlichkeitsreaktionen s. u.) vor, hier sollten eigentlich gar keine Zwischenfälle passieren. Neunmal war das Produkt jedoch falsch angewendet worden.

Häufig auch Atemwegsbeschwerden

Zu den berichteten Reaktionen zählten vor allem Husten, Reizung des Rachens, Atemnot (Dyspnoe), Juckreiz (Pruritus), Schmerzen an der Applikationsstelle, Augenschmerzen, Nesselsucht (Urtikaria), Erythem an der Applikationsstelle und Blasenbildung. Bei rein beruflichem Kontakt berichteten die Pflegerinnen und Pfleger über Halsreizungen, Husten, Atemnot, Augenreizung und -schmerzen, Glossitis (Entzündung der Zunge), Überempfindlichkeit, Nasenlaufen und -schmerzen (Rhinorrhöe und Rhinalgie).

Nebenwirkungen schwerer als angegeben

Die WHO-Autorinnen haben den Fällen zudem entnommen, dass die Reaktionen teilweise „schwerer“ zu sein schienen, als es auf den Produktinformationen angegeben war – vor allem bei Symptomen der Atemwege, die teils mit Kortison und antiallergischen Arzneimitteln behandelt werden mussten. Sie raten deswegen, die Produktinformationen um den Hinweis zu ergänzen, dass möglicherweise die Reaktionen schwerer sein könnten als derzeit aufgeführt.

Trotz Schutzmaßnahmen

Teilweise seien die Reaktionen außerdem „zunächst leicht“ gewesen, dauerten aber mit zunehmender und wiederholter Exposition länger an. Und selbst bei Berücksichtigung aller empfohlenen Schutzmaßnahmen (Maske, Nitrilhandschuhe, Schutzbrille) seien unerwünschte Reaktionen bei medizinischem Personal aufgetreten.

Atemnot als Nebenwirkung nicht genannt

Auch fiel den WHO-Mitarbeiterinnen auf, dass „Atemnot“ in den Produktinformationen zu Qutenza® gar nicht aufgeführt ist, obwohl 26 Fälle unter Capsaicin beschrieben sind. Vor allem raten die Pharmakovigilanzexpertinnen nun, die risikominimierenden Maßnahmen zu überprüfen. Zudem sollte medizinisches Personal, das bereits auf Capsaicin reagiert habe, keine Capsaicin-Behandlungen mehr durchführen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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