Erhöhte RSV-Welle befürchtet

An RSV-Impfung mit Palivizumab denken

Stuttgart - 19.08.2021, 07:00 Uhr

Vor allem Frühgeborene und Neugeborene haben ein erhöhtes Risiko für schwere RSV-Infektionen und Spätfolgen wie Asthma und Allergien, weswegen eine passive Impfung wichtig ist. (Foto: Tobilander / AdobeStock)

Vor allem Frühgeborene und Neugeborene haben ein erhöhtes Risiko für schwere RSV-Infektionen und Spätfolgen wie Asthma und Allergien, weswegen eine passive Impfung wichtig ist. (Foto: Tobilander / AdobeStock)


Fliegen uns Influenza- und RSV-Infektionen bald um die Ohren? Nach den strengen Kontaktbeschränkungen fehlt unserem Immunsystem das natürliche Training, deswegen gilt es mehr als sonst, an die Prävention zu denken: Impfungen. Hat man dies bei Grippe vielleicht noch auf dem Schirm, dürften viele den RSV-Schutz mit Palivizumab (Synagis) vergessen. Für wen eine passive RSV-Impfung wichtig ist und was das alles mit Allergien und Asthma zu tun hat, erklärte Professor Markus Rose vom Klinikum Stuttgart beim Pressegespräch von AstraZeneca.

Kaum RSV-Infektionen, die Grippewelle blieb aus – was im Winter 2020/21 zumindest als eine kleine Erleichterung während der Corona-Pandemie empfunden wurde –, dieser Frieden trügt. Denn die Infektionen könnten uns in Kürze um die Ohren fliegen. Das machte Professor Markus Rose, Ärztlicher Leiter des Bereichs Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und CF im Klinikum Stuttgart, beim Pressegespräch von AstraZeneca deutlich.

Hohe RSV-Inzidenz in Australien: Vorbote für Europa?

„Was wir momentan sehen, ist, dass wir hierzulande eine zu frühe RSV-Welle haben. Auch in anderen Ländern konnten wir bereits eine verstärkte Welle beobachten“, erklärt Rose. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) meldete schon Ende Juli einen für diese Jahreszeit in Deutschland ungewöhnlichen Anstieg an RSV-Infektionen und Länder der Südhalbkugel, wie Neuseeland, bei denen aktuell Winter ist, verzeichnen momentan den höchsten RSV-Anstieg der vergangenen zehn Jahre – das könnte der Nordhalbkugel folglich auch drohen. Bereits im Oktober 2020 kämpfte Australien mit einer starken RSV-Welle und Frankreich zeigte eine um drei Monate verspätete Bronchiolitis-Welle. 

Auch das Robert Koch-Institut rechnet mit einer erhöhten Inzidenz von Atemwegsinfektionen: Neben Influenza nennt das RKI hier explizit das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV): „Erschwerend ist im Herbst ein paralleler Anstieg von SARS-CoV-2, Influenza und RSV aufgrund der reduzierten Grundimmunität (ausgebliebene Booster-Infektionen für Influenza und RSV) der letzten beiden Saisons zu erwarten; das gemeinsame Auftreten dieser Infektionskrankheiten kann zu einer deutlichen Gesundheitsbelastung durch die Erkrankungen selbst und zusätzlich durch sekundäre Pneumonien führen“, schreibt das RKI. Deswegen sollten Präventions- und Versorgungsmöglichkeiten zu Influenza, RSV-Erkrankungen und Pneumonien insbesondere bei Kindern und in der älteren Bevölkerung vorbereitet werden (Influenza-Impfung, passiver Schutz gegen RSV, Impfung gegen Pneumokokken und Meningokokken etc.) und die Impfstoffe sollten frühzeitig bestellt, gelagert und eine umfangreiche Informationskampagne initiiert werden, rät das Robert Koch-Institut.

Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV)

Das Respiratorische Synzytial-Virus oder Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) ist der häufigste Erreger für schwere und akute Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege im frühen Kindesalter und Hauptursache, weswegen Säuglinge im ersten Lebensjahr im Krankenhaus behandelt werden müssen. RSV zeichnet weltweit für jährlich etwa drei Millionen Krankenhauseinweisungen verantwortlich. Der WHO zufolge macht RSV mehr als 60 Prozent der akuten Atemwegsinfektionen bei Kindern und mehr als 80 Prozent der akuten Atemwegsinfektionen bei Säuglingen aus. Auch entfällt fast die Hälfte aller 60.000 weltweiten Todesfälle (46 Prozent) auf Säuglinge unter sechs Monaten darauf. Der Mensch ist das einzige relevante Reservoir für das humane RSV, die Übertragung erfolgt in erster Linie durch Tröpfcheninfektion.

Bei RSV handelt es sich um ein einzelsträngiges (ss), negativ orientiertes (-), unsegmentiertes RNA-Virus aus der Familie der Pneumoviridae mit doppelschichtiger Lipidhülle. In diese sind Glykoproteine eingelagert, darunter ein Fusions- und ein Adhäsions-Protein. Dem RKI zufolge gibt es zwei Gruppen von RSV, A und B, die sich in der Antigenstruktur des G-Proteins unterscheiden, aber gleichzeitig zirkulieren, wobei RSV A  meist dominiert.

Nebenwirkungen von Maske und Social Distancing: höhere RSV-Inzidenzen

Bislang galt RSV als saisonales Virus mit Hochzeiten in den Wintermonaten. Durch klimatische Veränderungen und die mehr und mehr aufgehobenen Jahreszeitrhythmen mit teils auch sehr niedrigen Temperaturen im Sommer werde RSV zunehmend auch über das Jahr verteilt nachgewiesen, erklärt Rose. Corona könnte diesen Prozess zusätzlich befeuert haben.

Training des Immunsystems fehlt

Was in den vergangenen Monaten durch Abstand, Maske und Social Distancing verloren ging, ist eine natürliche Stimulation des Immunsystems: „Unser Immunsystem braucht Training, sonst erschlafft es wie ein Muskel“, erklärt der Kinderlungenarzt und Infektiologe im Fachpressegespräch. Diese immunologische Schuld werde zusätzlich erhöht, da Schutzimpfungen zu spät oder gar nicht erfolgten. „Es ist nicht gesund, wenn Kinder nie erkältet sind“, weiß Rose. Das alles führe dazu, dass wenn die Pandemie vorbei ist, Bakterien und Viren ein leichtes Spiel haben und auf ein unvorbereitetes Immunsystem stießen, prophezeit der Infektions- und Allergieexperte. Auch fehle vielen Säuglingen der Nestschutz durch mütterliche Antikörper gegen RSV, denn auch eine werdende Mutter habe sich nicht mit RSV infizieren und diesen Schutz an ihr Kind weitergeben können.

Doch: Die Viren und Bakterien lauerten „unverändert“ und könnten ebenso wie andere Atemwegsviren und Bakterien gerade bei jungen und/oder chronisch Kranken verheerende Infektionen auslösen, erinnert der Kinderlungenarzt. Er rät deswegen, jetzt das Immunsystem zu trainieren und womöglich noch nicht durchgeführte Schutzimpfungen gegen Influenza, Pertussis und Pneumokokken nachzuholen. Gerade bei Risikokindern sollte zusätzlich ein besonderes Augenmerk auf die passive RSV-Immun-Prophylaxe gelegt werden – eine aktive Immunisierung ist gegen RSV nach wie vor nicht möglich.

RSV: Wer ist besonders gefährdet?

Besonders gefährdet für schwere Verläufe von RSV-Infektionen sind laut der S2k-„Leitlinie zur Prophylaxe von schweren Erkrankungen durch Respiratory Syncytial Virus (RSV) bei Risikokindern“ Frühgeborene, Neugeborene und junge Säuglinge sowie Kinder mit chronischer Lungenerkrankung (z. B. interstitielle Lungenerkrankung, zystische Fibrose und angeborene Atemwegsanomalien), angeborenen Herzerkrankungen, neuromuskulären Erkrankungen, schweren Immundefekten, immunsuppressiver Therapie und chromosomalen Aberrationen, wie der Trisomie 21. Zudem zählen zu den weiteren Risikofaktoren für eine schwer verlaufende RSV-Erkrankung ein Alter unter sechs Monaten, eine Mehrlingsgeburt, männliches Geschlecht, Geschwisterkinder im Kleinkindalter, Krippenbesuch, Rauchexposition durch Eltern und im Haushalt, niedriger Sozial- und Ausbildungsstatus der Eltern, enge häusliche Verhältnisse, Unterernährung sowie eine positive Familienanamnese für atopische Erkrankungen oder Asthma.

Als einzige zugelassene medikamentöse RSV-Prävention ist derzeit Palivizumab (Synagis®) zugelassen. Indiziert ist es laut Fachinformation zur Prävention von durch das RSV hervorgerufenen schweren Erkrankungen der unteren Atemwege, die Krankenhausaufenthalte erforderlich machen, bei Kindern mit hohem Risiko für RSV-Erkrankungen – und zwar Kinder, die in der 35. Schwangerschaftswoche oder früher geboren wurden und zu Beginn der RSV-Saison jünger als sechs Monate sind, sowie Kinder unter zwei Jahren, die innerhalb der vorherigen sechs Monate wegen bronchopulmonaler Dysplasie behandelt wurden, und Kinder unter zwei Jahren mit hämodynamisch signifikanten angeborenen Herzfehlern.

Frühgeborenen fehlen mütterliche Antikörper

Bei Frühgeborenen kommt ein weiterer Risikofaktor hinzu: Ihnen fehlen die mütterlichen Antikörper, da diese zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht auf das Baby übergegangen sind. Erschwert wird die Immunsituation der Babys zusätzlich, sollte die Mutter ihren Säugling nicht stillen.

RSV-Impfungen bereits ab September sinvoll?

Dabei hat RSV nicht nur akute Effekte und verursacht schwere Atemwegsinfektionen. Dem Kinderlungenarzt zufolge gibt es mittlerweile robuste Daten, dass auch Wochen bis Jahre nach einer akuten RSV-Infektion Atem- oder asthmatische Beschwerden persistieren können. Es gebe fundierte Untersuchungen, dass eine frühkindlich RSV-Infektion das Risiko der Kinder erhöht, eine allergische oder asthmatische Erkrankung zu entwickeln, sagt Rose. „RSV legt eine Weiche im Immunsystem um“ und Kinder könnten bis ins 18. Lebensjahr an den Spätfolgen einer RSV-Infektion leiden. Mit diesem Hintergrund wird die Notwendigkeit einer Prävention noch deutlicher.

Palivizumab wird in der Zeit mit erhöhtem RSV-Aufkommen, Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) und RKI nennen hier die Monate November bis April, monatlich verabreicht und fällt sodann auch in den Erstattungsbereich der GKV. Der Kinderarzt betont, dass Palivizumab das Budget der Kinderärzte nicht belastet, sondern extrabudgetär vergütet werde. Doch was ist nun, wenn die RSV-Saison bereits jetzt beginnt? Ist es sinnvoll, mit den prophylaktischen Antikörpergaben bis November zu warten?

Palivizumab

Palivizumab ist ein humanisierter Antikörper (95 Prozent human, 5 Prozent murin), der an das Fusionsprotein von RSV bindet und dadurch verhindert, dass das Virus mit dem Lungengewebe interagiert. Er besitzt laut Fachinformation eine neutralisierende und fusionsinhibitorische Aktivität gegenüber beiden RSV-Untertypen A und B. Dosiert wird er nach Gewicht, dabei sollen die Antikörpergaben über den Zeitraum eines erhöhten RSV-Infektionsrisikos, also in den Herbst- und Wintermonaten, im 28-Tage-Zyklus wiederholt werden. Der G-BA und auch das RKI nennen die Monate November bis April als die Zeit mit erhöhtem RSV-Aufkommen, entsprechend erstattet die GKV laut Rose nur in dieser Zeit die monatlichen Gaben.

Dieser Gedanke treibt auch die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie um. Diese will – aufgrund der aktuell bereits erhöhten Inzidenz – bei weiterem Anstieg der Infektionsraten mit anderen Fachgesellschaften über eine „Empfehlung für einen möglichen früheren Beginn der medikamentösen RSV-Prophylaxe für Hochrisikogruppen beraten“. Kinderarzt Rose würde diesen Schritt begrüßen. Er wünscht sich, bereits im September mit der Prophylaxe starten zu können und auch bei einer längeren RSV-Welle die Behandlung mit Palivizumab den Kindern weiter zukommen lassen zu können.

Palivizumab besser für alle Kinder?

Ohnehin vertritt Rose die Ansicht, dass man „im Prinzip allen Kindern, zumindest aus Asthmatikerhaushalten, eine solche RSV-Prophylaxe anbieten“ müsse. Allerdings habe der G-BA aus Wirtschaftlichkeitsgründen die Prophylaxe auf Risikogruppen beschränkt.

Wichtig sei vor allem, die Prophylaxe konsequent zu verabreichen – alle vier Wochen –, mahnt Rose, um Durchbruchinfektionen zu vermeiden. Bei konsequenter Gabe von Palivizumab bei Frühgeborenen gehe die Anzahl der Krankenhausaufenthalte zurück, auch die Behandlungen in Notfallambulanzen und später die Asthma- und Allergierisiken.

Nirsevimab: neuer RSV-Antikörper mit einmaliger Anwendung

AstraZeneca – Zulassungsinhaber von Synagis® – forscht derweil bereits an einem zweiten passiven Antikörper gegen RSV, die Zulassung könnte bereits im Jahr 2023 klappen. Nirsevimab würde Vorteile in die RSV-Prophylaxe bringen, muss der Antikörper nur einmal in der Saison und nicht monatlich verabreicht werden.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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