Alpha, Delta, Lambda

Gefahren, Mechanismen und ein neuer Vertreter der COVID-Varianten

Düsseldorf - 18.06.2021, 07:00 Uhr

Forscher:innen beobachten mit Sorge die zunehmende Verbreitung von Coronavirus-Mutationen, insbesondere der Delta-Variante. (Bild: zest_marina / AdobeStock)

Forscher:innen beobachten mit Sorge die zunehmende Verbreitung von Coronavirus-Mutationen, insbesondere der Delta-Variante. (Bild: zest_marina / AdobeStock)


Weltweit sinken Fallzahlen und Inzidenzen der COVID-19-Pandemie. Die besorgniserregenden Varianten – besonders die zuerst in Indien entdeckte Variante Delta – bereiten Wissenschaftlern aber Sorgen. Auch weil ein weiterer Mechanismus aufgedeckt wurde, wie die Varianten das Immunsystem austricksen. Unterdessen hat die Familie der Varianten unter Beobachtung einen neuen Vertreter.

Am 17. und 18. Mai 2021, Montag und Dienstag, schien die COVID-19-Epidemie im Vereinigten Königreich überwunden. Erstmals seit dem 24. Februar 2020 – also über ein Jahr zuvor – meldeten die Behörden aus England, Wales, Schottland, Nordirland und von den Kanalinseln keinen einzigen neuen Fall einer Corona-Infektion an die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein Erfolg der recht zügigen Impfkampagne des Landes, dachte man. Immerhin sind im Vereinigten Königreich, Stand 16. Juni 2021, bereits 44,1 Prozent der Bevölkerung, das sind rund 30 Millionen Menschen, vollständig gegen das SARS-CoV-2 geimpft, weitere rund 11,7 Millionen wenigstens einmal (insgesamt 61,4 Prozent der Bevölkerung).

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Weltweit liegt man damit hinter Israel (59,5 Prozent, 5,1 Millionen vollständig Geimpfte), der Mongolei (57,8 Prozent, 1,9 Millionen) und Chile (47,1 Prozent, 9 Millionen) an Platz vier (Quelle ZDF.de, dargestellt aus Daten des RKI). Deutschland liegt bei 27,6 Prozent (rund 23 Millionen) vollständig und insgesamt 48,9 Prozent (insgesamt 40,7 Millionen) mindestens einmal Geimpften dahinter.

Anstieg seit Mitte Mai in Großbritannien und anderen Ländern

Seit dem 19. Mai 2021 steigen die Zahlen kontinuierlich wieder an und bewegen sich in Richtung exponentielles Wachstum. Von 2.412 neuen Fällen am 19. Mai kletterte die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf 7.606 am 15. Juni. Interessanterweise gibt es auch in Chile seit dem 13. Mai wieder einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen sowie in der Mongolei seit dem 17 Mai. Israel tendiert dagegen seit Ende Mai gegen die null Fälle.

In Großbritannien macht man die Variante Delta aka „Indische Variante“ oder B.1.617.2 für den neuerlichen rasanten Anstieg der Fallzahlen verantwortlich. Dementsprechend steht das Vereinigte Königreich auf der Liste der Virusvariantengebiete (anders als bislang Chile und die Mongolei). „Erstaunlich, wie schnell Inzidenz in UK ansteigt trotz hoher Impfquote. Die Delta (indische) Variante wird im Herbst wahrscheinlich auch bei uns wichtig werden. Sie komplett zu vermeiden, scheint mir unrealistisch“, twitterte SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach jetzt dazu.

Noch liegt der Anteil der Delta-Fälle in Deutschland an den ohnehin sinkenden Fallzahlen bei nur rund 6 Prozent, meldet das Robert Koch-Institut RKI – „ihr Anteil stieg in den letzten Wochen deutlich an“, heißt es im Bericht über die Virusvarianten vom 16. Juni 2021. In der Woche zuvor waren es nur rund 3,7 Prozent aller Proben gewesen, davor bei rund 2 Prozent. In Großbritannien sind es nach Angaben des nationalen Gesundheitsdienstes Public Health England PHE bereits über 90 Prozent der neuen Fälle.

Eine Studie des PHE ergab, dass die Variante Delta in Haushalten eine 64 Prozent höhere Ansteckungsrate aufweist als die bisher dominierende Variante Alpha, die ihrerseits bereits ansteckender ist als der Wuhan-Wildtyp. Dazu schließen die Wissenschaftler:innen aus den bisherigen Daten, dass Delta häufiger zu Hospitalisierung führt – und zumindest im Rahmen der Studie auch fatale tödliche Verläufe bei bereits Geimpften verursachen kann. 19 Menschen im Rahmen der Erhebung des PHE, die an oder mit SARS-CoV-2 Variante Delta verstarben, waren mindestens einmal geimpft, zwölf davon hatten bereits den vollen Impfschutz.

In Deutschland tritt Delta unterdessen nicht auf einzelne Hotspots beschränkt auf – es gibt Fälle in Dresden, Hamburg, Hildesheim, im baden-württembergischen Waiblingen, Gießen, Kassel, Frankfurt, Wiesbaden und vielen weiteren Orten. Unter anderem SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach warnt davor, dass die Variante Delta im Herbst die dominierende sein werde, hofft aber, dass eine breite Durchimpfung der Bevölkerung vor einer vierten Welle schützen könne. Ähnlich äußerte sich auch Charité-Virologe Professor Christian Drosten in seinem NDR-Corona-Podcast.

Dennoch gibt es Befürchtungen, dass sich das Szenario der dritten Welle wiederholen könnte, bei dem auch zuerst in Großbritannien sich die ansteckendere Variante Alpha verbreitet hatte, die schließlich weltweit zur vorherrschenden Variante wurde. Auch werden Verbreitungen durch Superspreading befürchtet wie etwa den Umstand, dass sich unter Mount Everest-Bergsteigern beziehungsweise Bergtouristen die Delta-Variante stark verbreitet hat und diese nun mit dem Ende der Bergsteigsaison im Himalaya das Virus unter Umständen unerkannt in ihre Heimatländer bringen.

Oxford-Studie zeigt Saisonalität für COVID-19 in Europa

Wissenschaftler:innen der Universität Oxford konnten unterdessen allerdings zeigen, dass es für das SARS-CoV-2 wohl doch eine Saisonalität gibt. Die Forscher:innen untersuchten das in 143 gemäßigten europäischen Regionen und fanden eine Korrelation. Das lässt Expert:innen hoffen, dass ein Anstieg der Delta-Fälle erst im Herbst zu erwarten sei.

Indessen stellt die WHO in ihrer Rubrik „Mythbusters“ im Zusammenhang mit COVID-19 klar, dass etwa Sonne und heißes Wetter alleine nicht vor COVID-19 schützen – in Indien, das in der Woche 9. bis 15. Juni laut WHO noch immer mit 630.650 neuen Fällen weltweit die meisten Neuerkrankungen aufwies, ist noch Sommer.

Neue Symptome und neue Komplikationen durch Mykosen

Eine weitere Gefahr, die Wissenschaftler:innen im Zusammenhang mit der Variante Delta sehen, ist, dass sich die Symptome von COVID-19, die bei Infektion mit der Delta-Variante auftreten, von den bisherigen unterscheiden. Das geht aus den Daten einer App hervor, die die Symptome bei COVID-19 auswertet. Die BBC berichtete darüber. Demnach ist COVID-19 besonders bei Jüngeren und bei milderen Verläufen nun vergleichbarer mit einer schweren Erkältung, mit laufender Nase und Kopfschmerzen, während der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns sowie Husten, die etwa bei Alpha noch als Symptome dominieren, seltener sind. Das könne dazu führen, dass sich das Virus eher verbreite, weil die leichter Erkrankten sich nun noch weniger oft isolieren würden – in der Annahme, „nur eine Erkältung“ zu haben.

Besonders im Zusammenhang mit der Delta-Variante wird als eine gefährliche und mitunter tödliche Zweitinfektion vom sogenannten Schwarzen Pilz berichtet. Diese Mukormykose wird durch verschiedene Schimmelpilze ausgelöst, gilt allgemein als selten und wird nun überdurchschnittlich oft bei COVID-19-Patienten als Komplikation beobachtet – mittlerweile nicht mehr nur in Indien, sondern auch in benachbarten Ländern.

Aus Brasilien, wo immer noch die Variante Gamma aka „Brasilianische Variante“ vorherrscht und das bei den neuen täglichen Fällen weiter weit vorne liegt, wird von einem Befall mit dem Hefepilz Candida auris als zunehmend häufige Komplikation berichtet.

Varianten unterdrücken körpereigenes Alarmsystem

Unterdessen haben sich amerikanische Wissenschaftler:innen genauer angesehen, was außer den Mutationen im Spike-Protein des Virus, die alle vier besorgniserregenden Varianten aufweisen, dazu geführt hat, dass die Alpha-Variante binnen kurzer Zeit zur dominierenden Variante weltweit werden konnte.

Laut der Studie, über die auch die New York Times berichtete, spielen bei der Variante Alpha auch andere Mutationen abseits des S-Proteins eine große Rolle. Die Forscher:innen fanden, dass ein Gen mit dem Namen ORF9b hierbei so mutiert ist, dass sein Translationsprodukt, das entsprechende Protein, massenhaft exprimiert wird. ORF steht für „Open Reading Frame“ – eine Bezeichnung für Gene, die strukturell in der Sequenz als solche erkannt sind, aber deren Funktion noch unbekannt ist.

ORF9b jedenfalls, so fanden die Wissenschaftler:innen, bindet an ein Protein namens Tom70. Dieses steht in einer Signalkette, die ausgelöst durch das Eindringen von Viren in einer Zelle die Produktion und Exkretion von Interferonen bewirkt. Diese alarmieren dann das Immunsystem. Im Fall von Alpha wird dieser Alarmmechanismus für einen Zeitraum von rund 12 Stunden durch ORF9b geblockt, was dem Virus hilft, sich in dieser Zeit massenhaft zu vermehren. Die Forscher:innen schauten sich in ihrer Studie auch unter anderem die Variante Delta an. Obwohl der ORF9b-Mechanismus und die entsprechenden Mutationen dabei nicht zu finden sind, gibt es auch dort einen noch nicht geklärten Weg, den Interferon-Alarm für einen Zeitraum zu unterdrücken.

Neue Variante unter Beobachtung – Lambda hat in Chile Alpha bereits verdrängt

Die Entwicklungen immer neuer Varianten reißt indessen nicht ab. Die WHO hat jüngst am 14. Juni die Liste der besorgniserregenden (VOC) und unter Beobachtung stehenden (VOI Variants of interest) um eine weitere ergänzt. Dazugekommen ist Lambda, die im August 2020 erstmals in Peru auftauchte und sich seitdem in 29 Ländern weltweit verbreitet hat. In Chile, das aktuell einen Anstieg der Fallzahlen vermeldet bei gleichzeitig weltweit der dritthöchsten Quote vollständig Geimpfter, entwickelt sich Lambda zur vorherrschenden Variante mit 32 Prozent aller Fälle, gleichzeitig mit der VOC Gamma (die brasilianische Variante aka P1), die 33 Prozent aller Fälle ausmacht. Alpha wird dort offenbar verdrängt und kommt nur auf 4 Prozent der Fälle. Lambda trägt dabei einige der bekannten Mutationen, die mit höherer Übertragbarkeit und geringerer Effektivität neutralisierender Antikörper assoziiert  werden. Laut WHO fehlen dabei allerdings noch weitere Studien.

Insgesamt zählt die WHO nun vier besorgniserregende und sieben unter Beobachtung stehende Varianten von SARS-CoV-2. Forscher:innen gehen davon aus, dass das Virus auch zukünftig weitere Varianten und Mutationen hervorbringen wird und dass durchaus die Gefahr besteht, dass Varianten die Impfungen durchbrechen oder auch schwerere Verläufe hervorrufen werden.

Wissenschaftler:innen wie Professor Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel in der Schweiz, gehen aber davon aus, dass mit Fortschreiten der Impfungen eher keine neuen großen Wellen ausgehend von Hotspots auftreten werden. „Ich glaube, regionale Hotspots werden keine große Rolle spielen. Mit zunehmender Impfrate wird das Infektionsgeschehen an Dynamik weiter verlieren und eher nach dem Muster der Grippe oder Erkältungswellen ablaufen. Es wird also voraussichtlich nicht mehr zu einer Karnevalsfeier kommen, bei der die Zahl der Ansteckungen durch die Decke geht. Regionale Unterschiede bleiben aber bei der Nachverfolgung neuer Varianten wichtig“, sagt er.

Eine schnelle Durchimpfung und eine zukünftige Surveillance auch neuer Varianten sehen Forscher:innen als bestes Mittel gegen künftige Wellen. „Die beste Strategie, um die Entwicklung von bedenklichen Varianten zu reduzieren, ist ganz klar die schnelle Immunisierung eines großen Teils der Bevölkerung. Israel ist mit gutem Beispiel vorangegangen: Eine hohe bevölkerungsbezogene Durchimpfungsrate mit zwei Dosen innerhalb weniger Monate führte zu einem deutlichen Rückgang der Neuerkrankungen und Todesfälle, selbst als die Gesellschaft die Abriegelung und andere nicht-pharmazeutische Maßnahmen lockerte. Trotz der Tatsache, dass die Beta-Variante gemeldet wurde, hat diese Variante angesichts der hohen Durchimpfungsraten nicht zugenommen“, sagt so etwa Annelies Wilder-Smith, Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine.



Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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