Zehn Jahre AMNOG

Nur als lernendes System denkbar

Remagen - 23.04.2021, 12:15 Uhr

Lange waren die freien Preise für patentgeschützte Arzneimittel ein Tabu für gesetzgeberische Sparmaßnahmen – bis vor zehn Jahren das AMNOG kam. (Foto: Schelbert)

Lange waren die freien Preise für patentgeschützte Arzneimittel ein Tabu für gesetzgeberische Sparmaßnahmen – bis vor zehn Jahren das AMNOG kam. (Foto: Schelbert)


Seit zehn Jahren werden die Preise für neue patentgeschützte Arzneimittel in Deutschland auf der Basis des AMNOG-Verfahrens nach der Bewertung ihres Zusatznutzens bestimmt. Wie viele Verfahren wurden bisher abgeschlossen und mit welchen Ergebnissen? Gibt es auch Arzneimittel, die davon ausgenommen sind? Hier ein kleiner Überblick aus aktuellem Anlass.

Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (AMNOG) wurde im Jahr 2011 die letzte Lücke der Reglementierung der Arzneimittelpreise im Segment der patentgeschützten Medikamente geschlossen. Nach anfangs heftigen Diskussionen und Kontroversen gilt das Verfahren zur frühen Nutzenbewertung heute als Erfolgsgeschichte. Es besteht im Wesentlichen aus zwei Abschnitten: Innerhalb von sechs Monaten nach Markteintritt eines Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen oder einem neuen Anwendungsgebiet bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), ob es gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) einen Zusatznutzen hat und wie groß dieser ist. 

Die Spanne reicht von erheblich über beträchtlich bis gering beziehungsweise nicht quantifizierbar oder kein Zusatznutzen. Für die wissenschaftliche Bewertung stützt sich der Bundesausschuss im Wesentlichen auf die Zuarbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Der G-BA-Beschluss zum Zusatznutzen bildet den Ausgangspunkt für die sich anschließenden sechsmonatigen Preisverhandlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem jeweiligen pharmazeutischen Unternehmer. Wenn die Bewertung keinen Zusatznutzen ergibt, wird das Arzneimittel der jeweiligen Festbetragsgruppe zugeordnet. Falls keine passende vorhanden ist, wird es mit einem Betrag erstattet, der nicht höher sein darf als für eine etablierte Vergleichstherapie. Das gesamte Verfahren inklusive Nutzenbewertung dauert regulär zwölf Monate. Während dieses Zeitraums kann der pharmazeutische Unternehmer den Preis für sein neues Präparat noch frei bestimmen.

Wie viele Verfahren und wie viele mit Zusatznutzen?

Seit 2011 wurden bis zum 22. April 2021 insgesamt 565 Nutzenbewertungsverfahren abgeschlossen. Das Therapiegebiet mit den weitaus meisten Innovationen in Form neuer Arzneimittel sind die onkologischen Erkrankungen (229 Verfahren), gefolgt von den Stoffwechselkrankheiten (109), Infektionskrankheiten (50), Krankheiten des Nervensystems (38) und Krankheiten des Atmungssystems (25).   

Laut vfa-AMNOG-Verfahrensdatenbank bekommen im Schnitt seit Jahren etwa 60 Prozent aller bewerteten neuen Wirkstoffe einen Zusatznutzen zugesprochen. Ein erheblicher Zusatznutzen wurde jedoch bisher nur in sieben Fällen bescheinigt. Bei fast 24 Prozent bewertete der G-BA den Zusatznutzen als beträchtlich, bei rund 18 Prozent als gering und bei einem knappen Fünftel ließ er sich aufgrund der Studienlage nicht quantifizieren. Für etwa 40 Prozent der neuen Wirkstoffe wurde kein Zusatznutzen gesehen. Der Anteil ist über die Jahre hinweg in etwa konstant geblieben.

Über die Indikationsgebiete hinweg zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede. Spitzenreiter ist nach dem DAK-AMNOG-Report 2020 (von 2011 bis Ende 2019) mit 69 Prozent der Bewertungen mit einem Zusatznutzen der Bereich Onkologika. Laut vfa sind es bis Mitte März 2021 sogar 79 Prozent. Demgegenüber wurde beispielsweise bei 81 Prozent der Bewertungen zu Antidiabetika und 70 Prozent im psychiatrisch-neurologischen Indikationsgebiet kein Zusatznutzen festgestellt.   

Laut Berechnungen des vfa addieren sich die Einsparungen durch das AMNOG seit 2011 auf 13,4 Milliarden Euro. 

Welche Arzneimittel sind vom AMNOG-Verfahren freigestellt?

Die frühe Nutzenbewertung wird angewendet auf Zulassungen mit neuen Wirkstoffen und auch für neue Anwendungsgebiete bei bekannten Wirkstoffen. Bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) gilt der Zusatznutzen bis zu einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro pro Jahr als belegt. Der G-BA kann lediglich über das Ausmaß entscheiden. Auch Arzneimittel mit zu erwartenden geringen GKV-Ausgaben und Reserveantibiotika können auf Antrag von der Vorlage eines vollständigen Dossiers zur frühen Nutzenbewertung freigestellt werden.

Sonderregel für Reserveantibiotika

Für Reserveantibiotika wurde diese Möglichkeit erst mit dem Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) vom 22. März 2020 eröffnet. Als oft letzte Therapiemöglichkeit gegen multiresistente Bakterien sollen sie nach dem Willen des Gesetzgebers privilegiert behandelt werden. Im Gegensatz zu Orphan Drugs unterhalb der Umsatzschwelle bewertet der G-BA bei Reserveantibiotika auch nicht das Ausmaß des Zusatznutzens.  

Anfang April hat der G-BA nun auch das Antragsverfahren dazu geregelt. Bisher galt eine Übergangsregelung, wonach die Zusatznutzenbewertung auf der Basis eines formlosen Antrags ausgesetzt werden kann. Der entsprechende Beschluss über eine Änderung seiner Verfahrensordnung tritt in Kraft, sobald er vom Bundesministerium für Gesundheit rechtlich geprüft und genehmigt sowie im Bundesanzeiger veröffentlicht ist.

Kriterien für die Einstufung als Reserveantibiotikum

Das Robert Koch-Institut (RKI) hat zur Umsetzung der gesetzlichen Definition Kriterien entwickelt, auf deren Grundlage der G-BA ein neues Antibiotikum als Reserveantibiotikum einstufen kann. Zudem listet das RKI nicht abschließend relevante bakterielle Erreger mit Resistenzen auf, beispielsweise den Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA). Der G-BA muss diese Liste von Erregern bei der Einstufung eines Antibiotikums ebenfalls heranziehen: Als Reserveantibiotikum sollte es gegen mindestens einen dieser Erreger wirksam sein. Im Einzelfall kann der G-BA einen Antrag auf Reservestatus aber auch bei Wirksamkeit gegen weitere multiresistente Erreger prüfen. Werden die Voraussetzungen für die Freistellung als Reserveantibiotikum nicht erfüllt, so muss der pharmazeutische Unternehmer ein vollständiges Dossier für die Nutzenbewertung vorlegen. Dies gilt auch, wenn die Voraussetzungen für den Reservestatus des Antibiotikums nicht mehr erfüllt sind, zum Beispiel, wenn das Antibiotikum viel häufiger verschrieben wird, als nach den Vorgaben der strengen Indikationsstellung zu erwarten ist. 

Lesetipp

Bei einer virtuellen Jubiläumsveranstaltung des G-BA am 19. März 2021 fiel die Bilanz über zehn Jahre AMNOG überwiegend positiv aus. Für den unparteiischen Vorsitzenden des G-BA, Professor Josef Hecken, ist das Verfahren allerdings „nur als lernendes System denkbar, das in Details immer wieder modifiziert und weiterentwickelt wird“. Warum der Zusatznutzen oft so schwer nachweisbar ist, vor welchen Herausforderungen die Nutzenbewertung steht, welchen Stellenwert das ANMOG-Verfahren international hat und was auf europäischer Ebene hinsichtlich der Nutzenbewertung zu erwarten ist, können Sie in der DAZ-Ausgabe von dieser Woche nachlesen. Bitte beachten Sie dazu auch das Editorial in der aktuellen DAZ.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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