G-BA ändert Arzneimittel-Richtlinie

Kein Amitriptylin oder Topiramat zur Migräneprophylaxe bei Kindern

Stuttgart - 22.04.2021, 09:15 Uhr

Die Expertengruppe  des G-BA hält aufgrund der Datenlage weder Amitriptylin noch Topiramat zur Migräneprophylaxe für Kinder und Jugendliche geeignet. Es müsse sogar „für beide Substanzen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis konstatiert werden“. (b/Foto: Mirrorstudio / AdobeStock) 

Die Expertengruppe  des G-BA hält aufgrund der Datenlage weder Amitriptylin noch Topiramat zur Migräneprophylaxe für Kinder und Jugendliche geeignet. Es müsse sogar „für beide Substanzen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis konstatiert werden“. (b/Foto: Mirrorstudio / AdobeStock) 


Sind Ausnahmen möglich?

Was ist nun, wenn Kinder andere Prophylaktika nicht vertragen oder Kontraindikationen vorliegen – sind im Einzelfall Ausnahmen möglich? Der G-BA ist hier sehr strikt: „Auch bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen im Einzelfall ist es unter Berücksichtigung der zugelassenen medikamentösen Therapiealternative sowie den nicht-medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten nicht gerechtfertigt, Wirkstoffe mit negativem Nutzen-Risiko-Verhältnis im Off-Label-Gebrauch bei Kindern und Jugendlichen einzusetzen“, erklärt er in den Tragenden Gründen zum Beschluss. So müsse ein Off-Label-Use dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen, eine evidenzbasierte Medizin werde zugrunde gelegt, und es müsse „die begründete Aussicht“ auf einen Behandlungserfolg bestehen. Auch habe die Expertengruppe Off-label keinen Verordnungsspielraum für bestimmte Patientengruppen gelassen – z. B. nach Versagen aller anderen Behandlungsoptionen als „best supportive Care“.

Wie kommt die Expertengruppe zu ihrer Empfehlung?

Die Expertengruppe des G-BA stützt ihre negative Nutzen-Risiko-Einschätzung vor allem auf eine „qualitativ hochwertige“ randomisierte klinische Studie, veröffentlicht 2017 im „New England Journal of Medicine“ („Trial of Amitriptyline, Topiramate, and Placebo for Pediatric Migraine“) mit 328 Kindern. Sie erhielten entweder Topiramat (130), Amitriptylin (132) oder Placebo (66). Primärer Endpunkt der Studie war die relative Reduktion der Kopfschmerztage um mindestens 50 Prozent am Ende der 24-wöchigen Studie, verglichen mit der 28-tägigen Kopfschmerz-Baseline: „Es gab keine signifikanten Unterschiede in der Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit oder der kopfschmerzbedingten Behinderung bei kindlicher und jugendlicher Migräne unter Amitriptylin, Topiramat oder Placebo über einen Zeitraum von 24 Wochen“, lautete damals das Fazit der Wissenschaftler. 52 Prozent der Amitriptylin-Patienten, 55 Prozent der Topiramat-Patienten und 61 Prozent der Placebo-Patienten erreichten den primären Endpunkt. Nebenwirkungen (Müdigkeit, Mundtrockenheit, Gewichtsverlust) traten unter Amitriptylin oder Topiramat häufiger auf als unter wirkstofffreier Therapie. Drei Patienten erlitten unter Amitriptylin schwere Stimmungsschwankungen, in der Topiramat-Gruppe trat ein Suizidversuch auf.

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Für Topiramat bewertete die Expertengruppe vier weitere randomisierte, Placebo-kontrollierte Studien: „Zusammenfassend zeigen im Ergebnis der Bewertung der Expertengruppe die kontrollierten Studien mit Topiramat in der Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis“, schreibt der G-BA. Für Amitriptylin sehe die Datenlage noch schlechter aus, es existierten keine randomisierten, Placebo-kontrollierte Studien, die ausschließlich Amitriptylin gegen Placebo getestet hätten.

Was sagt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft?

Im Rahmen der Off-Label-Bewertung von Amitriptylin und Topiramat zur Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen hatte auch die „Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft“ (DMKG) Stellung genommen. Sie setzte sich dafür ein, dass beide Substanzen „weiter als eine Behandlungsoption, zusätzlich zu den unstrittigen Verfahren aus dem Bereich der kognitiven Verhaltenstherapie oder anderen medikamentösen Verfahren, wie z. B. Betarezeptorenblockern, erhalten bleiben“ und das „Armamentarium von erfahrenen Kopfschmerztherapeuten bei der Behandlung einer besonders schwer betroffenen Klientel nicht grundsätzlich zu beschränken“. So müsse man auch der Versorgungsrealität ins Auge sehen, und vielerorts gebe es schlicht zu wenige psychotherapeutische Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit chronischen und schweren beziehungsweise refraktär verlaufenden Schmerzerkrankungen, sodass Kinder und Jugendliche häufig monatelang auf einen Therapieplatz warten müssten. Zudem kritisierte die DMKG, dass die Expertengruppe des G-BA ihre Entscheidung vornehmlich auf die 2017 im „NEJM“ publizierte Studie (Powers et al. 2017) stützte und anderen positiven Fallserien weniger Beachtung geschenkt würden, die jedoch eine Wirksamkeit von Topiramat und Amitriptylin bei Kindern gezeigt hätten. Die DMKG bemängelt darüber hinaus das Konzept der Studie im „NEJM“: So würden Experten Amitriptylin und Topiramat bei Kindern nicht randomisiert in Monotherapie einsetzen wollen. Topiramat könne depressive Episoden verschlimmern, während z. B. bei begleitenden Schlafstörungen oder erhöhter psychomotorischer Anspannung vor allem von Amitriptylin synergistische Effekte zu erwarten seien.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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