„Angriff der Mutanten“ Teil 2

Warum die Corona-Varianten so besorgniserregend sind – ein Überblick

Düsseldorf - 18.03.2021, 07:00 Uhr

Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass die sogenannte „bretonische Variante“ in keinem der bisher genutzten RT-PCR-Tests ein positives Ergebnis liefert – Anhaltspunkte für besonders schwere Verläufe oder hohe Todesraten gibt es für diese Variante bislang allerdings nicht. (x / Foto: Photocreo Bednarek / stock.adobe.com) 

Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass die sogenannte „bretonische Variante“ in keinem der bisher genutzten RT-PCR-Tests ein positives Ergebnis liefert – Anhaltspunkte für besonders schwere Verläufe oder hohe Todesraten gibt es für diese Variante bislang allerdings nicht. (x / Foto: Photocreo Bednarek / stock.adobe.com) 


Zu den drei aktuell gelisteten besorgniserregenden SARS-CoV-2-Varianten kommen neue „Variants of Investigation“ (VOI) hinzu. Was aber macht die Varianten nun eigentlich besorgniserregend? Dazu hat DAZ.online für Sie eine Übersicht zusammengestellt. Bemerkenswert ist, dass es eine evolutionäre Entwicklung zum Entkommen vor Testungen zu geben scheint. COVID-19 wird also wahrscheinlich noch lange die Welt bewegen.

Die britische Variante B.1.1.7 aka VOC-202012-01 aka 20I/501Y.V1

23 Mutationen gegenüber der Ursprungsvariante besitzt diese Mutante. 17 davon äußern sich in Aminosäureaustauschen in den Virusproteinen, davon acht im Spike-Protein (S-Protein). Von der KW 4 bis zur KW 9 des Jahres 2021 stieg laut Robert-Koch Institut der Anteil der britischen Variante unter den identifizierten Fällen in Deutschland von 6 Prozent auf 55 Prozent an.

Die Variante erschien wohl im September 2020 das erste Mal auf der Bildfläche und hatte sich bis Jahresende bereits in Großbritannien stark ausgebreitet. Mittlerweile ist sie in ganz Europa stark vertreten – besonders etwa in Tschechien. 111 Länder weltweit meldeten bereits Vorkommen.

Diese Variante scheint sich schnell zur vorherrschenden Mutante zu entwickeln, was wohl insbesondere an einer erhöhten Übertragbarkeit liegt. Die derzeit in Deutschland steigenden Inzidenz- und R-Werte werden mit der Ausbreitung von B.1.1.7 in Verbindung gebracht.

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Die besorgniserregende Vielfalt von SARS-CoV-2

Neben einer höheren Übertragbarkeit von etwa plus 50 Prozent gibt es unter anderem laut RKI auch erste Anzeichen dafür, dass die Fallsterblichkeit, die „Case Fatality Rate“ CFR, bei dieser Variante höher liegt als beim Wildtyp. Untersuchungen zeigen eine um den Faktor 1,3 bis 1,9 höhere CFR.

Besonders einige Mutationen im Spike-Protein werden dafür verantwortlich gemacht. Etwa die Mutation N501Y. Das heißt, an Position 501 des Spike-Proteins befindet sich die Aminosäure Tyrosin (Einbuchstabencode „Y“) statt Asparagin (N). Diese Mutation innerhalb der Rezeptorbindedomäne (RBD) des Proteins erhöht die Bindung an den auf den Zellen exprimierten Rezeptor ACE2 (Angiotensin-konvertierendes Enzym 2), über den der Eintritt des Virus in die Zelle vermittelt wird.

Escape-Mutation mit verringerter Wirksamkeit der Impfstoffe

Die Deletion Y144/145del (Tyrosin an Position 144 fehlt) verändert die Form des S-Proteins, was die Bindung von gegen den Wildtyp gerichteten Antikörpern verhindern kann. Dies stellt eine sogenannte Escape-Mutation dar, mit der das Virus der Bekämpfung durch das Immunsystem entkommen kann. Da an dieser Stelle auch die Impfstoffe ansetzen, führt das unter anderem zu einer verringerten Wirksamkeit der Impfstoffe.

Die Mutation P681H, bei der Prolin durch Histidin ersetzt ist, hat wahrscheinlich Auswirkungen auf die Spaltung des S-Protein-Vorläufers durch die Protease Furin in der Wirtszelle – und damit auf die Struktur des fertigen S-Proteins.

Die Deletion 69-70del, bei der Histidin und Valin in den Positionen 69 und 70 fehlen, hat Auswirkungen auf die Infektiosität und sorgt bei Immungeschwächten Patient:innen für ein Entkommen des Virus vor dem Immunsystem.

Falsch negative PCR-Tests

Außerdem setzen die Primer vieler RT-PCR-Testkits in dem Bereich der viralen RNA an, wo diese Mutation sich befindet. Diese PCR-Tests können diese Variante dann oft nicht erkennen und zeigen falsch negative Ergebnisse an. Es wäre ein Mutmaßung, dass verbreitete Testung mit konsequenter Quarantäne als eine Form von Selektionsdruck fungiert haben könnte, sodass diese Mutation eine evolutionäre Anpassung an Teststrategien darstellen könnte – dafür fehlen allerdings Beweise. Anders als die neu aufgetauchte bretonische oder die finnische Variante (siehe unten) entkommt diese aber nicht allen verfügbaren RT-PCR-Testkits.

In jedem Fall kam man durch diese markante Spike-Deletion der Variante erst auf die Spur. Mittlerweile nutzt man sie spezifisch, um die Variante B.1.1.7 nachzuweisen, da in der RT-PCR die entsprechende Bande fehlt. Sie wird als SGTF – S-Gene Target Failure – bezeichnet.

Die WHO nennt für die Variante außerdem eine erhöhte Wiederinfektionsrate (Secondary attack rate), einen leichten hemmenden Einfluss auf neutralisierende Antikörper, aber bislang keinen beobachteten Einfluss auf die Wirksamkeit der bislang zugelassenen Impfstoffe.

Die Variante hat noch einen Abkömmling, bei dem die Mutation E484K (Glutaminsäure an Position 484 durch Lysin ausgetauscht) vorliegt. E484K findet sich auch bei B.1.351 und P.1 und gilt als Escape-Mutation, die durchaus einen Einfluss auf die Impfstoff-Wirksamkeit hat. In der Rezeptorbindedomäne gelegen, vermittelt auch E484K eine höhere Affinität zu ACE2.

Die südafrikanische Variante B.1.351 aka VOC-202012-02 aka 20H/501Y.V2

Die Variante B.1.351 ist seit August 2020 bekannt und hauptsächlich in Südafrika vertreten, aber auch in Deutschland bereits aufgetaucht. 55 Länder meldeten bislang positive Testergebnisse.

Die Variante trägt neun Mutationen im S-Protein, darunter die E484K-Escape-Mutation. Wie die britische Variante besitzt sie ebenfalls die N501Y-Mutation in der RBD (Rezeptorbindungsdomäne). Dazu kommt ebenfalls in der RBD des S-Proteins die Mutation K417 N (Lysin an Position 417 durch Asparagin ersetzt) hinzu, die Auswirkung auf die Bindung durch neutralisierende Antikörper hat. In Südafrika wird angenommen, dass die Therapie immungeschwächter HIV-positiver COVID-19-Patient:innen mit Antiserum Genesener zur Entstehung beigetragen haben könnte.

Dementsprechend zeigen erste Forschungsergebnisse, dass die übrigen Mutationen im S-Protein (L18F, D80A, D215G, L242-244del, R246I und A701V) die Bindung neutralisierender Antikörper herabsetzen – und wohl auch die Wirksamkeit der bislang zugelassenen Impfstoffe zum Teil erheblich mindern.

Eine erhöhte Übertragbarkeit ist auch für diese Mutante nachgewiesen. Forscher:innen gehen von einer unabhängigen konvergenten Entwicklung des Virus aus – die Escape-Mutationen bringen dem Virus einen evolutionären Nutzen.

Die brasilianische Variante P.1 aka B.1.1.28

P.1 sorgt aktuell in der Millionenstadt Manaus inmitten des Dschungels der brasilianischen Region Amazonas für steigende Fall- und Todeszahlen. Die Variante gilt als die möglicherweise gefährlichste. Bemerkenswert ist, dass die Region Amazonas mit seiner Hauptstadt Manaus bereits eine erste verheerende COVID-19-Welle hinter sich hat und Forschungsarbeiten ergaben, dass sich dort über dreiviertel der Bevölkerung bereits mit SARS CoV-2 infiziert hatten.

Dass sich die neue Variante nun nahezu ungebremst in der Region, deren Gesundheitssystem zusammengebrochen ist, verbreitet, gilt Forscher:innenn als ein Hinweis, dass die sogenannte Herdenimmunitätsschwelle im Fall von COVID-19 möglicherweise keine Bedeutung hat. Vorhergehende Infektionen immunisieren demnach nicht gegen eine Reinfektion, insbesondere mit der neuen Variante.

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P.1 trägt wie B.1.1.7 (E484K) und B.1.351 die RBD-Mutationen N501Y und E484K sowie die Mutation K417T. Dazu kommen weitere sieben Mutationen im S-Protein und sieben weitere. Noch fehlen einige Studien, P.1 gilt aber ebenso als übertragbarer und tödlicher. Aufgetaucht ist P.1 bisher auch in Japan sowie weiteren 30 Ländern weltweit.

Den drei Varianten P.1, B1.1.7 und B.1.351 ist außerdem die S106/G107/F108del-Mutation im Non-Structural Protein 6 (NSP6) gemein. Diese bewirkt ein besseres Überleben der Viren innerhalb der Zelle, weil es die Autophagie in den zellulären Vakuolen behindert.

Die kalifornische Variante B.1.429 aka CAL 20 C

Im Juli 2020 identifizierten kalifornische Forscher:innen die Variante B.1.429. Diese Linie ist in dem US-Bundesstaat die dominante Form von SARS-CoV-2. CAL 20 C  ist für mehr als 90 Prozent der dortigen Infektionen verantwortlich und US-Forscher:innen berichten, dass das Virus sich stärker verbreitet als der Wildtyp und auch mit schwereren Verläufen und mehr Todesfällen in Verbindung steht. Ebenso entziehe sie sich sowohl Antikörpern, die aus einer überstandenen Infektion entstanden sind, als auch denen, die durch eine Impfung initiiert wurden.

B.1.429 ist noch Gegenstand von Untersuchungen. Bekannt sind fünf markante Mutationen, davon S13I, W152C, L452R (Isoleucin statt Serin an Position 13, Cystein statt Tryptophan an Position 152 und Arginin statt Leucin an Position 452) im S-Protein, zwei weitere, L4205V und D1183Y (Valin statt Leucin an 4205 und Tyrosin statt Asparaginsäure an 1183) im Gen ORF1-ab (ORF steht dabei für „Open Reading Frame“ eine Bezeichnung für einen codierenden Abschnitt der Erbinformation, deren Funktion noch nicht genau bekannt ist). In dem Genabschnitt, der unterschiedliche Proteine codiert, befinden sich unter anderem die Sequenzen für die Replikasepolyproteine des Virus.

L452R ist dabei als eine Escape-Mutation bereits identifiziert.

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Die New York-Variante B.1526

An der Ostküste der USA breitet sich derweil die Variante B.1526 aus, die wie die britische, südafrikanische und brasilianische die E484K-Escape-Mutation trägt.

Darüber hinaus gibt es weitere sechs Mutationen im S-Protein. D253G ist dabei bereits von vielen anderen Varianten bekannt und verändert die Spitze des S-Proteins. Die Austausche S477N und A701V ebenfalls im S-Protein führen wohl zu einer höheren Infektiosität. Dabei erhöht S477N die Bindung an den ACE2-Rezeptor und A701V erleichtert das Eindringen des Virus, weil es eine Spaltstelle des S-Proteins modifiziert.

Da sich diese Variante als dominante an der Ostküste durchsetzt, wird auch sie mit Sorge betrachtet und noch weiter untersucht.

Die Nigeria-Variante B.1525 aka VUI-202102/03

Schlagzeilen machte auch die Variante B.1525, die wahrscheinlich im afrikanischen Nigeria entstand. Sie wurde bereits in mindestens 19 Ländern, darunter auch in Deutschland, nachgewiesen. Sie gilt als eine weitere „Variant under Investigation“. Unter anderem trägt sie die als kritisch geltende E484K-Escape-Mutation im S-Protein sowie die Deletion 69-70del, die die Infektiosität erhöht. Im S-Protein finden sich ferner Q52R und Q677H. Letztere fand sich zuletzt häufig bei Virusproben aus dem Mittleren Westen der USA.

In der S2-Untereinheit des S-Proteins findet sich für diese Variante die F888L-Mutation (Leucin statt Phenylalanin an Position 888). Die Bedeutung dieser Mutation wird noch untersucht, sie gilt aber als „biologisch signifikant“.

Sorgen bereitet bei B.1525 vor allem das Potenzial, durch die E484K und 69-70del Mutationen, neutralisierenden Antikörpern aus Erstinfektion sowie Impfung entkommen zu können.

Finnische, bretonische und weitere Varianten

Weitere Varianten weltweilt sorgen mittlerweile ebenfalls für Aufmerksamkeit bei Forscher:innen und in den Medien. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass die sogenannte „bretonische Variante“ in keinem der bisher genutzten RT-PCR-Tests ein positives Ergebnis liefert – Anhaltspunkte für schwerere Verläufe oder höhere Todesrate gibt es für diese Variante bislang allerdings nicht.

Auch von der Variante Fin 496 H, der „finnischen Variante“ ist ein solcher „Test-Escape“ bekannt. Die Mutationen beziehen sich dabei auf die Abschnitte der Virus-RNA, die den RT-PCR-Testsystemen als Erkennungssequenz für die Primer dienen. Interessant an diesen Varianten ist, dass sie allen verfügbaren PCR-Tests entkommen und so eine epidemiologische Eindämmung erschweren. Antigen-Schnelltests sind aber nicht betroffen.

Evolution von SARS-CoV-2 im vollen Gange

Nimmt man all diese Erkenntnisse zusammen, lässt sich sagen, dass die evolutionäre Anpassung von SARS-CoV-2 an den Menschen im vollen Gang ist. Weltweit finden sich unabhängig voneinander konvergente Entwicklungen, die dem Virus die Flucht vor dem Immunsystem sowie auch den Impfungen ermöglicht. Außerdem ist bemerkenswert, dass es eine evolutionäre Entwicklung zum Entkommen vor Testungen zu geben scheint. COVID-19 wird also wahrscheinlich noch lange ein Thema sein.



Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Spekulationen

von Michael Mischer am 18.03.2021 um 11:27 Uhr

Wenn der Autor auf der ersten Seite seines Artikels selbst darauf hinweist, dass es eine Mutmaßung ohne Beweise wäre, Testung mit konsequenter Quarantäne als Selktionsdruck zu charakteriesieren, wäre ich doch froh, wenn er am Ende auf diese nicht relativierte Feststellung verzichtet hätte: "Außerdem ist bemerkenswert, dass es eine evolutionäre Entwicklung zum Entkommen vor Testungen zu geben scheint."

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Spekulationen

von Michael Mischer am 18.03.2021 um 11:29 Uhr

natürlich: ... als Selektionsdruck zu charakterisieren...

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