Neue Leitlinie zur Geburtseinleitung

Das „Problem Cytotec“: Optimale Dosierung von Misoprostol weiterhin unklar

Stuttgart - 23.12.2020, 12:15 Uhr

Misoprostol ist das wirksamste Medikament zur Geburtseinleitung bei einem unreifen Zervixbefund. Kontraindiziert ist es bei Frauen, die schon einmal Uterusoperationen wie Sectio (Kaiserschnitt) hatten. (Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com)

Misoprostol ist das wirksamste Medikament zur Geburtseinleitung bei einem unreifen Zervixbefund. Kontraindiziert ist es bei Frauen, die schon einmal Uterusoperationen wie Sectio (Kaiserschnitt) hatten. (Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com)


Seit Dezember gibt es eine neue gemeinsame S2k-Leitlinie der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG, OEGGG, SGGG) zur Geburtseinleitung. Das ist nicht unbedingt relevant für Apotheker:innen – allerdings eben doch, wenn man sich an den Februar dieses Jahres zurückerinnert. Damals hatte der Artikel „Im Wehensturm“, erschienen in der „Süddeutschen Zeitung“, für viel Wirbel gesorgt. Es ging um Misoprostol im Präparat Cytotec.

Die Diskussion rund um das Arzneimittel Cytotec® Anfang des Jahres hatte auch einige pharmazeutische Komponenten: Hinter dem „Wehensturm“ in der „Süddeutschen Zeitung“ steckte unter anderem die Problematik, dass Cytotec® für die Geburtseinleitung nicht zugelassen ist. Dennoch äußerten sich Experten grundsätzlich einig dazu, dass der enthaltene Wirkstoff Misoprostol seinen berechtigten Platz in der Geburtseinleitung findet. 

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Allerdings gab es schon seit Jahren keine gültige Leitlinie für die Geburtseinleitung mehr. In der Folge wurde diese offenbar doch recht uneinheitlich gehandhabt. Ärzte konnten sich somit nicht nur durch fehlende Leitlinien alleingelassen fühlen, sondern auch von der Pharmaindustrie, die kein für die Indikation zugelassenes (orales) Arzneimittel auf dem Markt zur Verfügung stellte. 

Pharmazeutische Firmen sollen oft von der Beantragung einer Zulassung bei Schwangerschaft Abstand nehmen, wegen der aufwändigen zusätzlichen Zulassungsstudien und den möglichen weitreichenden juristischen und finanziellen Folgen für die Firma – falls Nebenwirkungen gemeldet werden.


Problematisch ist zurzeit die Off-Label-Anwendung von Misoprostol. Die Tatsache, dass trotz unzähliger Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Misoprostol (mit Ausnahme weniger Länder) keine Anwendungserweiterung für den Einsatz zur Geburtseinleitung und Atonietherapie beantragt wurde, ist nach unserer Beurteilung weitgehend emotional (das Medikament wird auch für Schwangerschaftsabbrüche verwendet) und – aus Herstellersicht – ökonomisch begründet.“ 

Expertenbrief der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe im Juni 2011


Cytotec® ist eigentlich ein „Magenschutzmittel“ von Pfizer mit dem Wirkstoff Misoprostol, das laut Lauer-Taxe in Deutschland nur noch von drei Parallelimporteuren vertrieben wird. Zugelassen ist es in diesen beiden Indikationen:

  • Zur Vorbeugung und Behandlung von medikamentenbedingten (zum Beispiel Antirheumatika, Acetylsalicylsäure) Magenschleimhautschädigungen.
  • Zur Behandlung von akuten Zwölffingerdarm- und Magengeschwüren.

Die Dosis pro Tablette beträgt 200 µg. Nach DAZ.online-Recherchen wurde Anfang des Jahres schnell klar, dass nicht der enthaltene Wirkstoff Misoprostol in der Geburtseinleitung an den Pranger gestellt werden sollte. Denn dieser war und ist auch in entsprechend zugelassenen Präparaten (vaginale Applikation, statt Tablette) enthalten, welche ähnliche Risiken mit sich bringen. 

Die Dosierung war und bleibt das Problem

So gut Misoprostol laut Experten als Tablette für die Geburtseinleitung auch geeignet sein mag, ein Problem blieb, welches schon 2017 in einem schweizerischen Expertenbrief zum Ausdruck kam: „Da nur ein Bruchteil der Dosierung von Misoprostol, welche in einer Tablette Cytotec® enthalten ist, für die Geburtseinleitung benötigt wird, wird das zu verabreichende Misoprostol-Präparat mittels verschiedener Methoden durch Spitalapotheken, aber auch durch geburtshilfliche Abteilungen, selber aus den Original-Cytotec®-Tabletten mittels Zerkleinerung, Auflösung usw. für die vaginale, orale oder sublinguale Verabreichung hergestellt.“ Es wurde „dringend“ empfohlen, dass die Herstellung von Tabletten oder Vaginaltabletten mit Misoprostol ausschließlich in Apotheken stattfinden soll und dabei Wirkstoffgehalt und Stabilität geprüft werden müssen. 

Die  „Süddeutsche Zeitung“ hatte hingegen berichtet, dass nach einer Umfrage der Hebammenwissenschaftlerin Christiane Schwarz aus Lübeck bei der Anwendung von Cytotec® jeder so vor sich hin „pusselt“. „Manchmal zerteile das Klinikpersonal die Tabletten einfach mit einem Messer“. 

Auch die DGGG schrieb Anfang des Jahres an DAZ.online: „Zurzeit wird die Cytotec®-Tablette geteilt. Zukünftig hoffen wir auf die Einführung von Angusta® auch in Deutschland.“ Doch die neue Leitlinie und in ihr enthaltene Empfehlungen zu Misoprostol sind nun da, eine entsprechende Zulassung (für Angusta® oder ein anderes Präparat) fehlt noch. Angusta® enthält Misoprostol in einer Dosierung von 25 µg und ist in anderen europäischen Ländern für die Geburtseinleitung zugelassen.

Misoprostol: Im besten Fall oral, und nicht ambulant

Im März 2020 war schließlich noch ein Rote-Hand-Brief zu Cytotec® erschienen, dessen Veröffentlichung die DGGG begrüßte. Sie veröffentlichte außerdem Empfehlungen, wie mit Misoprostol umzugehen sei – bis zur Veröffentlichung der nun erschienen Leitlinie zur Geburtseinleitung, die schon seit März 2018 für März 2020 angekündigt war. (Die Begründung für die geplante Leitlinie lautete: „Eine der häufigsten Maßnahmen im geburtshilflichen Alltag. Ausreichend vorliegende Evidenz, jedoch sehr heterogenes Vorgehen in Deutschland.“) 

Schon zuvor hatte es im Februar in einer Stellungnahme der DGGG geheißen, dass nach Sichtung der Literatur die Verwendung von Misoprostol zur Geburtseinleitung in der DACH-Region im Einklang mit den anderen internationalen Leitlinien [z. B. USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich sowie der FIGO (International Federation of Gynaecology and Obstetrics)] und der Weltgesundheitsorganisation in der kommenden und nun veröffentlichten Leitlinie empfohlen werde. 

Was im Frühjahr allerdings noch fehlte, war beispielsweise eine Höchstdosis über 24 Stunden, eine solche wird auch in der neuen Leitlinie nicht genannt. Dort steht nun im Kapitel zu Prostglandin-E1-Analoga (Misoprostol):

  • Eigenhändiges Zerstückeln von Tabletten höherer Dosierung und/oder Auflösen von Tabletten in Flüssigkeit und Gabe von bestimmten Trinkmengen sind aufgrund der Ungenauigkeit der Stabilität und Wirkstoffkonzentration zu vermeiden. Eine korrekte Herstellung durch eine Apotheke ist deshalb unabdingbar. (konsensbasiertes Statement)
  • Bis zum Erhalt einer neuen Zulassung zur Geburtseinleitung soll über den Off-Label-Use aufgeklärt werden. (konsensbasierte Empfehlung)
  • Misoprostol ist das wirksamste Medikament zur Geburtseinleitung bei einem unreifen Zervixbefund. (konsensbasiertes Statement)
  • Die Applikation von Misoprostol sollte oral erfolgen. (konsensbasierte Empfehlung)
  • Misoprostol-Dosierungen von 25 µg gelten auch bei vaginaler Applikation als sicher. (konsensbasiertes Statement)
  • Misoprostol in einer Dosierung von 50 µg oral entspricht dem Sicherheitsprofil einer vaginalen Applikation von 25 µg. (konsensbasiertes Statement)
  • Erstgaben von > 50 µg und Einzelgaben von > 100 µg sollten vermieden werden. (konsensbasierte Empfehlung)

Orales/vaginales Misoprostol in einer Dosierung ab 50 µg pro Tablette führte zwar im Vergleich zu Placebo zu mehr Überstimulationen, heißt es, die Rate an Verlegungen in die Kinderklinik sei aber nicht verschieden. Eine Nebenwirkung wie eine uterine Überstimulation führe nicht zwangsläufig zu einem pathologischen CTG (Kardiotokografie, Herztonwehenschreibung), einem Kaiserschnitt und/oder einem schlechten kindlichen Outcome. 

Doch gelöst ist das „Problem Cytotec“ mit Erscheinen der Leitlinie noch nicht. Denn als „problematisch“ wird beschrieben, dass die optimale Dosierung weiterhin unklar ist.

Höchstdosis in Schweizer Expertenbrief

Für die Schweiz wird innerhalb der Leitlinie weiterhin prioritär auf den Expertenbrief der SGGG Nr. 63 verwiesen. Dort heißt es beispielsweise zusätzlich zur Dosierung: Bei oraler Verwendung von Misoprostol oral ist die Dosierung auf 20–50 µg alle 2-4 Stunden mit maximal 200-300 µg/d zu beschränken. 

Nicht vergessen werden sollte auch, dass Misoprostol absolut kontraindiziert ist, wenn Frauen schon einmal Uterusoperationen wie Sectio (Kaiserschnitt) hatten. Dem Zustand nach Sectio caesarea ist in der gemeinsamen  Leitlinie ein extra Kapitel gewidmet.

Nebenwirkungsrate bei mechanischem Verfahren deutlich geringer

Neben den medikamentösen Methoden zur Geburtseinleitung ist auch an die mechanischen zu denken. So heißt es in der Leitlinie beispielsweise, dass Ballonkatheter in ihrer Effektivität der medikamentösen Gabe von Prostaglandinen wie Misoprostol und Dinoproston entsprechen. Die Nebenwirkungsrate sei bei dem mechanischen Verfahren aber deutlich geringer. Auch die simultane Anwendung von Ballonkathetern und medikamentösen Verfahren wie Oxytocin, Dinoproston und Misoprostol resultierte in kürzeren Einleitung-Geburt-Intervallen und weniger Überstimulationen im Vergleich zur alleinigen medikamentösen Gabe.

Schließlich heißt es noch zum Setting der Geburtseinleitung, dass Prostaglandine im ambulanten Bereich ausschließlich im Rahmen von Studien zum Einsatz kommen sollten.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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