Leserreaktion und politischer Hintergrund

Kontroverse um Staatshilfen wegen AvP

Süsel - 12.11.2020, 10:45 Uhr

Mit AvP hat die Insolvenz nun ein Rechenzentrum getroffen, bei dem es keine Kontrollen durch Standesgremien gab, doch ist der Ruf nach staatlicher Hilfe die einzig verbleibende Option? (c / Bild: Andrey Kuzmin / stock.adobe.com)

Mit AvP hat die Insolvenz nun ein Rechenzentrum getroffen, bei dem es keine Kontrollen durch Standesgremien gab, doch ist der Ruf nach staatlicher Hilfe die einzig verbleibende Option? (c / Bild: Andrey Kuzmin / stock.adobe.com)


Sind Staatshilfen für Apotheken die Lösung für die AvP-Insolvenz? Der Staat hat das System geschaffen, das die Apotheken einem offenbar unkalkulierbaren Risiko aussetzt. Doch je nach Perspektive ergeben sich auch Gegenargumente. Eine Warnung des Vorsitzenden des Hamburger Apothekervereins vor dem Einfluss des Staates hat zu zahlreichen Reaktionen und deutlicher Kritik von DAZ.online-Lesern geführt. DAZ.online hinterfragt die Argumente und Aussichten aus Sicht von Apotheken und Politik.

Bei der Mitgliederversammlung des Hamburger Apothekervereins am 4. November hatte der Vereinsvorsitzende Dr. Jörn Graue generell vor dem Ruf nach dem Staat gewarnt. Denn mit jeder Stützung steige der staatliche Einfluss auf Kosten der Eigenverantwortung. Als Reaktion auf den Beitrag über die Mitgliederversammlung sind bei DAZ.online zahlreiche Reaktionen von AvP-Betroffenen eingegangen, darunter auch Briefe, die an Graue gerichtet waren. In einem Serienbrief einer WhatsApp-Gruppe von AvP-Betroffenen erklären die Leser, die Äußerungen Graues träfen sie „äußerst schmerzhaft und auch persönlich“.

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Die aufgestellten Thesen zur Staatshilfe seien fragwürdig und würden dem Eindruck der Betroffenen in der Öffentlichkeit schaden. Politiker würden daraufhin denken, es sei keine Hilfe nötig. „Offensichtlich wird das tatsächlich von unseren eigenen Verbänden so kommuniziert“, folgern die Betroffenen. Sie verweisen auf sechs- oder siebenstellige Zahlungsausfälle als triftigen Grund für den Hilferuf. Außerdem wird kritisiert, dass die WhatsApp-Gruppe die einzige Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch darstelle, „da von Seiten der Verbände ein Zusammenfinden offensichtlich nicht gewünscht wird“.

Staat soll für sein System haften

Die deutlichen und teilweise emotionalen Reaktionen unterstreichen die großen Erwartungen, die viele Betroffene mit Staatshilfen verbinden. Für diese Forderung gibt es mindestens zwei naheliegende Gründe. Der erste Grund liegt in der äußerst unglücklichen Entwicklung hinsichtlich der Aussonderungsrechte. Kurz nach Bekanntwerden der AvP-Insolvenz konzentrierten sich die Bemühungen der Betroffenen auf diesen Ansatz. Denn Rechenzentren verwalten fremde Gelder. Diese stehen nach den üblichen Regularien des Insolvenzrechts dem Eigentümer zu und fließen nicht in die Insolvenzmasse.

Im Zuge der juristischen Prüfung der Situation bei AvP schwand jedoch die Aussicht auf solche Aussonderungsrechte immer mehr. Da zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Anhaltspunkte für die zu erwartende Insolvenzquote bekannt waren, erschien der Ruf nach staatlicher Hilfe als einzig verbleibende Option. Diese wird durch den zweiten Grund gestützt: Die Abrechnungsgelder sind Teil des streng geregelten Sozialversicherungssystems, gefühlt fast wie Staatsgeld. Außerdem sind die Apotheken faktisch gezwungen, die Dienste von Rechenzentren in Anspruch zu nehmen. Dies ist zwar keine Vorschrift, aber die Regularien sind so komplex, und es ist eine so aufwendige Technik erforderlich, dass eine einzelne Apotheke diese Aufgabe nicht mit vertretbarem Aufwand erfüllen kann. Wenn aber das aufgrund der staatlichen Anforderungen gestaltete System in einem außergewöhnlichen Fall versagt, drängt sich auf, dass der Staat dafür haftet.

Furcht vor Verstaatlichung

Doch das ist nicht so einfach, wie es auf den Blick erscheint. Ein strategischer Aspekt aus Apothekerperspektive ist die Frage, ob der Staat wirklich der vorrangige Ansprechpartner ist. Dazu hatte Graue in der Mitgliederversammlung des Hamburger Apothekervereins erklärt: „Mit jeder Stützungsmaßnahme steigt der staatliche Einfluss weiter. Der Staat gewinnt an Macht auf Kosten des Individuums und der Eigenverantwortung. Dadurch wird das Fundament einer freiheitlichen, sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung unterhöhlt.“ Letztlich fürchtet Graue die Verstaatlichung. Stattdessen seien die Krankenkassen als Marktpartner der Apotheken die naheliegenden Ansprechpartner.

Praktische Politik

Auch wer diesem Ansatz nicht folgt, ist mit einem weiteren Hindernis konfrontiert. Dies ergibt sich, wenn man das Thema aus der Perspektive der Politik betrachtet. Die Forderungen nach Staatshilfen im Fall von AvP stützen sich auf die grundlegenden Unterschiede zwischen der Insolvenz eines Rechenzentrums und der Insolvenz eines Produktions- oder Handelsunternehmens. Hier geht es um Gelder von Dritten, die nur „durchgeleitet“ werden, überdies um Sozialversicherungsgelder, die einen besonderen Schutz genießen sollten. Dort geht es um Ansprüche im „normalen“ Wirtschaftsleben. Doch die bisherigen Reaktionen von Politikern erwecken den Eindruck, dass dieser Unterschied für die Politik offenbar nicht zählt. Für Politiker sind Insolvenzen – anders als für die Apotheker – eine bekannte Situation, für die es erprobte Verhaltensweisen gibt. Dabei geht es darum, Strukturen, Betriebe und Arbeitsplätze zu erhalten. Der Staat gewährt in solchen Fällen Hilfen, die den Untergang verhindern, er leistet auch Bürgschaften für Kredite. 

Auch im Fall von AvP haben Politiker den Betroffenen KfW-Kredite in Aussicht gestellt. Doch es widerspricht dem üblichen Handlungsmuster, dass der Staat mit Steuergeldern Zahlungsausfälle komplett übernimmt und damit sogar Gewinne mitfinanziert. So ist es offenbar auch bei der AvP-Insolvenz. Stellvertretend dafür kann die Position des Landes Mecklenburg-Vorpommern stehen. Die zinslosen Kredite der landeseigenen Gesellschaft für Struktur- und Arbeitsmarktentwicklung (GSA) stehen unter sehr engen Bedingungen zur Verfügung, wenn Insolvenzen bei Apotheken und damit Lücken in der Arzneimittelversorgung drohen. Damit bieten diese Erfahrungen wenig Raum für Hoffnung auf Steuergeld als pauschale Unterstützung.

Honorierungsproblem der Apotheken

Für die Betroffenen ergab sich daraus bisher die demoralisierende Konsequenz, den Zahlungsausfall letztlich allein schultern zu müssen. Denn Kredite sichern zwar den weiteren Betrieb, aber sie müssen irgendwann zurückgezahlt werden. Doch Zahlungsausfälle in der Größenordnung von einem oder mehreren Jahresgewinnen sind mit einer Apothekenhonorierung, die sich primär an Packungen und nur zu einem sehr kleinen Teil am Preis orientieren, nicht in einem absehbaren Zeithorizont zu kompensieren. Dies ist zugleich ein weiterer Grund für Staatshilfen, denn der Staat ist für diese Form der Preisbildung verantwortlich.

Hoffnung auf gute Quote

Alle diese Überlegungen beziehen sich jedoch letztlich auf das Worst-Case-Szenario, dass der überwiegende Teil der ausstehenden Zahlungen verloren ist. Doch dies erscheint nicht realistisch, denn die Betroffenen können auch ohne Aussonderungsrechte erhebliche Zahlungen aus der Insolvenzmasse erwarten. Das kann zwar noch Jahre dauern, aber Politiker werden entgegenhalten, dass gerade dafür Kredite geboten werden. Das erste Gutachten des Insolvenzverwalters, das DAZ.online vorliegt, bekräftigt die positiven Aussichten auf eine hohe Insolvenzquote, auch wenn es noch viele Unwägbarkeiten gibt. Aus Apothekerperspektive mag die jahrelange Ungewissheit als kaum erträgliche Zumutung erscheinen, aber Politiker kennen solche Situationen von diversen Unternehmenspleiten. Dies erklärt ihren ganz anderen Blick auf das Thema. Außerdem ergibt sich das Dilemma, dass positive Neuigkeiten, die einen glimpflichen Ausgang erhoffen lassen, zugleich die Aussicht auf Staatshilfen weiter verringern.

Politisches Fazit

Insgesamt zeigen diese Überlegungen, dass sich im politischen Raum die dogmatische Frage nach einem Ja oder Nein für Staatshilfen gar nicht stellt. Vielmehr erscheint es dringend geboten, die Politik an ihre Bekenntnisse für die Apotheken zu erinnern, damit die AvP-Insolvenz nicht zu Insolvenzen bei Apotheken führt und sie damit die Versorgung gefährdet. Doch ein kompletter Ausgleich aller Schäden aus Steuermitteln wäre etwas ganz anderes, und Signale für eine solche Maßnahme sind im politischen Raum nicht zu erkennen.

Kurzfristige Hilfe

Unabhängig davon bleibt kurzfristig die Herausforderung, den Betrieb der betroffenen Apotheken aufrechtzuerhalten. Als naheliegender Ansprechpartner dafür erscheinen die Krankenkassen, weil es um Umsätze mit den Krankenkassen geht. In einigen Zuschriften an DAZ.online kritisierten die Leser „ein kaum wahrnehmbares Engagement vonseiten unserer Apothekerverbände“. Allerdings hatte Graue bei der Mitgliederversammlung auf seine sehr frühen Gespräche mit den Krankenkassen hingewiesen. Dabei sei es insbesondere darum gegangen, wie die September-Zahlungen an die Apotheken nach dem Wechsel des Rechenzentrums schnell sichergestellt werden könnten.

Konsequenzen für die Zukunft

Neben den Hilfen für die Betroffenen wirft die AvP-Insolvenz auch die Frage auf, wie solche Fälle künftig verhindert werden können. Dazu hatte Graue erklärt, die Kontrolle von Rechenzentren durch Standesgremien sei wirksam. Mit AvP hat die Insolvenz nun ein Rechenzentrum getroffen, bei dem es keine Kontrollen durch Standesgremien gab. Das jüngste Gutachten des Insolvenzverwalters bietet vielfältige Einblicke in die Arbeitsweise von AvP und zeigt, dass wirksame interne Kontrollen dort offenbar gefehlt haben.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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4 Kommentare

AVP Pleite

von Tegethof, Isa am 13.11.2020 um 9:57 Uhr

Liebe Leser,
wenn wir als Apotheken immer wieder nach staatlicher finanzielller Unterstützung rufen, ist das in meinen Augen der falsche Ansatz. Ich gebe Herrn Graue völlig Recht in seinem Statement.
Wünschen würde ich mir ein kompetenteres Auftreten unserer Standesvertretungen gegenüber Politik und Krankenkassen. Wir sind viel zu wenig bereit für unsere Standpunkte zu kämpfen und sie auch effektiv gegenüber anderen Beteiligten des Gesundheitswesens zu vertreten.
Die Politik und die Krankenkassen sind wahrlich nicht unsere Freunde. Deren Positionen haben ja erst zu dem Desaster, in dem wir Vor Ort Apotheken uns befinden, geführt.
Wichtig ist es, eine Vereinfachung im Abrechnungswesen zu
erwirken und die Abrechenzentren dazu zu verpflichten, sich gegen Ausfälle egal welcher Art zu versichern . Das ist das Einzige , was wir von der Polizik an Unterstützung einfordern können und sollten. Das wird unsere Gebühren zwar mit Sicherheit erhöhen, aber was nützt ein Superangebot ohne Nachhaltigkeit und Substanz.
Für die Zukunft wünsche ich mir mehr Einigkeit unter den Pharmazeuten , denn nur wenn wir geeint unsere Sache vehement vertreten, können wir auch etwas erreichen.
Es gilt auch besonders in den Medien zu verdeutlichen , wie
unverantwortlich der Kurs der Politik ist .

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AVP Pleite

von Andreas Fizia am 12.11.2020 um 18:37 Uhr

Es geht nicht um den Ruf nach mehr Staat, sondern um Übernahme von Verantwortung durch den Staat. Nun da sieht es schlecht aus. Wer Leistungen an andere vergibt und Ihnen aufträgt, aht auch für die Bazhlung gerade zu stehen. Das betrifft die digitale Lesbarmachung der Rezeptdaten, das Inkasso für Herstellerabschlag und Krankenkassenrabatt. Das betrifft die Honorierung der Rabattabgabequote. Wir erfüllen auf unsere Kosten diese Leistungen die keiner honoriert. Wenn wir es nicht machen, ist es ein leichtes anhand unserer digitalen Daten, Geld abzuziehen. Hier im Falle der AVP Pleite bleibt man sogar auf der Bezahlung der Leistung sitzen. Also schaffen wir eine öffentlich-rechliche Institution, die die Zahlung garantiert. Schluß mit kostenlos. Wer digitale Daten haben will, bezahlt uns dafür. Wer Herstellerabschlag und Kassenrabatt berechnet haben will, bezahlt uns dafür. Wer nicht vorhandene Impfstoffe in unserem Kühlschrank für Versicherte verteilt haben will, der zahlt dafür auch den Preis. Machn wir doch jetzt mal eine Woche zu. Vielleicht fällt ein paar Leuten auf, dass es Systeme gibt die funktionieren und nicht nach noch mehr Kohle schreien. Ist immer ein Fehler nicht das Maul aufzureißen und hier zu rufen.

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Noch mal aus der Zitaten-Sammlung

von Bernd Jas am 12.11.2020 um 14:14 Uhr

Dieses Reagan-Zitat kommt mir immer wieder in den Sinn.
"The most terrifying words in the English language are: I'm from the government and I'm here to help."

Nur sollte man hier unterscheiden:
Herr Graue liegt richtig wenn er meinen würde: Der Ruf nach dem Staat wäre nicht richtig, wenn es um die Freiheit in der Wirtschaft geht (Überregulierung).
Fakt: Der Staat kann nicht wirtschaften und ist mehr als Pleite.
Aber das Kanzleramt noch bis zum Kollaps ausbauen.(Erdogan hat´s ja mit seinem Palast-Bau vorgemacht)
Der Ruf nach dem Staat ist aber an dieser Stelle mehr als richtig. Denn er sollte das was er uns durch seine Regulierungen eingebrockt hat, (Pleiten im Zuge kalter Progression und solch eine Katastrophe wie die mit der AvP), verdammt noch mal auch umgehend wieder gut machen.
Dies ist also kein Ruf nach dem Staat, sondern sein in die Pflicht nehmen und die Erinnerung an die selbe, Herr Graue.

Aber nein hier muß erst Herr Rodiger wieder recht behalten.

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Richtig & Falsch

von Nikolaus Guttenberger am 12.11.2020 um 12:25 Uhr

Der Artikel beleichtet viele Aspekte richtig, und übersieht trotzdem zentrale Fragen in der Arzneimittelabrechnung.

Wieder geht es in die Argumentationsrichtung, dass Fehler und Verfehlungen wie bei Avp bei anderen (standeseigenen) Abrechnungszentren unmöglich vorfallen können. Hier stellt sich die Frage, warum dies so sein sollte ?

Bekommen die höhere Gebühren ? Bewegen sie sich in einem anderen Finanzsystem mit positiven Zinsen ? Sind Apotheker in Aufsichtsräten qualifizierzer und kompetenter, als Wirtschaftsprüfer & Bafin bei Avp um komplexe Finsnzstrukturen zu durchblicken ?

Man kann nichts davon Bejahen... und es stellt sich die Frage, ob die Äußerungen von Herrn Graue echter Sorge um „zu viel Staat“ geschuldet sind, oder der Sorge, jemand könnte etwa genauer hinsehen. Man kann nun das Eine oder das Andere glauben.

Irgend eine Form von echter Hilfe gab es für betroffene Apotheken von keiner Seite. Für die Kfw Kredite disqualifiziert einen übrigens der Avp Fall an sich. Wenn Kammern & Verbände nicht einmal in dieser absolut existenzbedrohenden Situation in der Lage sind, auch nur geringfügig zu unterstützen, stellt sich aber absolut die Frage nach deren Sinnhaftigkeit.

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