Reizüberflutung im Gleichgewichtszentrum

„Ich brauche etwas gegen Reiseübelkeit“ (Teil 1)

Stuttgart - 07.07.2020, 10:15 Uhr

Reiseübelkeit kann die Vorfreude auf den ersehnten Urlaub schnell zunichtemachen. Zum Glück gibt es Hilfe in der Apotheke. (Foto: Yulia Raneva  / Adobe Stock)

Reiseübelkeit kann die Vorfreude auf den ersehnten Urlaub schnell zunichtemachen. Zum Glück gibt es Hilfe in der Apotheke. (Foto: Yulia Raneva  / Adobe Stock)


Jedes achte Kind und viele Millionen Erwachsene leiden unter Reiseübelkeit. Damit die ersehnte Reise nicht zur Tortur wird, ist eine gute Beratung in der Apotheke gefragt. Wieso auch das Kaugummikauen erklärt sein will und wie Kinetosen überhaupt entstehen, erfahren Sie hier.

Unter dem Begriff Reisekrankheit, auch als Bewegungsschwindel oder Kinetose bezeichnet, versteht man die Reaktionen des Organismus auf ungewohnte Bewegungs- oder Beschleunigungsreize. Meist kündigen typische Frühsymptome wie Müdigkeit, zwanghaftes Gähnen, leichte Kopfschmerzen und ein Schwindelgefühl die Reiseübelkeit an. Kinder werden oft auffallend ruhig, teilnahmslos und blass. Spätestens ein kalter Schweißausbruch, vermehrte Speichelsekretion und ein flaues Gefühl im Magen sind Signale zum Handeln, um das Erbrechen noch zu verhindern.

Migränepatienten sind besonders anfällig

Prinzipiell kann jeder Mensch reisekrank werden. Doch die individuelle Anfälligkeit differiert stark: Schätzungsweise 5 bis 10 Prozent der Menschen reagieren sehr empfindlich, während ebenso viele praktisch resistent gegen Kinetosen sind. Personen mit Neigung zu Schwindelgefühlen sowie Migränepatienten sind erfahrungsgemäß besonders anfällig. Frauen sind statistisch häufiger betroffen als Männer. Die größte Patientengruppe stellen Kinder dar. Jedes achte Kind ist von einer Kinetose betroffen. Das Prävalenzmaximum liegt zwischen dem zweiten und zwölften Lebensjahr.

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Säuglinge sind weitgehend davor gefeit, da ihr Gleichgewichtsorgan noch nicht vollständig ausgebildet ist. Nach dem 50. Lebensjahr kommt Reiseübelkeit nur noch selten vor. Vermutlich, weil die dafür verantwortlichen Sinnesorgane mit zunehmendem Alter unempfindlicher werden.

Wie entstehen Kinetosen?

Kinetosen liegt letztlich ein Konflikt zwischen verschiedenen Sinneseindrücken zugrunde. Auf kurvenreichen Autofahrten, bei Turbulenzen im Flugzeug oder bei starkem Seegang ist der Körper intensiven, unnatürlichen Beschleunigungen und raschen Gleichgewichtsveränderungen ausgesetzt. Diese Reize werden im Innenohr aufgenommen und verarbeitet. Sie decken sich dann jedoch nicht mit der optischen Sinneswahrnehmung, da während der Fahrt rasch vorüberziehende Gegenstände visuell nur ungenügend fixiert werden können. Im Gleichgewichtszentrum des Gehirns gehen also unterschiedliche, scheinbar widersprüchliche Signale ein. Diese werden vom Gehirn als Gefahrensituation interpretiert. Die Folge sind vegetative Reaktionen sowie eine Aktivierung des Brechzentrums. 

Kinetosen stellen somit weniger eine Krankheit dar als vielmehr eine physiologische Reaktion auf ungewohnte Reize, an die der betroffene Organismus nicht angepasst ist. Aber auch psychische Einflüsse, eine negative Erwartungshaltung („mir wird gleich schlecht“) sowie organoleptische Sinneseindrücke (Fäkaliengeruch, Anblick von Erbrochenem etc.) spielen dabei eine Rolle. Für Betroffene ist es oft schon hilfreich, im Auto oder Bus einen Platz mit Sicht auf die Straße zu haben. Im Flugzeug bietet sich ein Sitzplatz direkt über den Tragflächen, im Schiff im Mittelteil des Rumpfes an, da dort die Eigenbewegungen des Verkehrsmittels weniger stark wahrgenommen werden.

Hilfe aus dem OTC-Segment – aber nicht für jedermann

Antihistaminika sind im Handverkauf die meistverkauften Präparate gegen Reiseübelkeit. Dennoch dürfen sie keinesfalls standardmäßig jedem empfohlen werden. Nicht zuletzt wegen ihrer anticholinergen Nebeneffekte sind diese Wirkstoffe zum Beispiel ungeeignet bei akuten Asthmabeschwerden, Engwinkelglaukom, Prostatahyperplasie, Epilepsie, Arrhythmien sowie bei schweren Leberfunktionsstörungen. Wegen potenzieller Wechselwirkungen gilt es abzuklären, ob der Patient weitere zentral dämpfende Medikamente, Anticholinergika, trizyklische Antidepressiva oder MAO-Hemmer einnimmt. Auch unter einer Antihypertonika-Therapie ist Vorsicht geboten, um eine verstärkte Blutdrucksenkung zu vermeiden. 

Ganz wichtig: Sowohl Diphenhydramin als auch Dimenhydrinat können so stark sedierend wirken, dass sich die aktive Teilnahme am Straßenverkehr verbietet. Der Fahrer selbst sollte also definitiv auf die Einnahme verzichten. Reisekrank werden in der Regel jedoch meist nur die Passagiere: Fahrer oder Piloten, die ein Gefährt steuern, bleiben meistens verschont, und zwar deshalb, weil sie die gefühlten Bewegungen optisch auch registrieren. 

 

Mehr Wissenswertes für den praktischen Umgang mit den Präparaten gegen Reiseübelkeit aus der Apotheke erfahren Sie in Teil 2.

Mehr zu Reiseübelkeit

Dieser Beitrag wurde am 21.07.2023 angepasst.



Cornelia Neth, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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