Rote-Hand-Brief

Tolperison off-Label zu beliebt

Stuttgart - 04.06.2020, 12:30 Uhr

Erneut warnt eine Rote Hand vor dem Off-Label-Einsatz von Tolperison. Seit 2013 darf es nur noch bei Spastizität nach Schlaganfall eingesetzt werden. (s / Foto: Stada)

Erneut warnt eine Rote Hand vor dem Off-Label-Einsatz von Tolperison. Seit 2013 darf es nur noch bei Spastizität nach Schlaganfall eingesetzt werden. (s / Foto: Stada)


Seit 2013 darf Tolperison nur noch zur symptomatischen Behandlung der Spastizität nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen eingesetzt werden. Konsequent umgesetzt wird diese strenge Indikationsstellung nicht. Ein Rote-Hand-Brief erinnert nun erneut an das negative Nutzen-Risiko-Verhältnis von Mydocalm und tolperisonhaltigen Generika außerhalb der zugelassenen Indikation.

Tolperison darf lediglich zur symptomatischen Behandlung der Spastizität nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen eingesetzt werden. Daran erinnern die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA, das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) und die Zulassungsinhaber tolperisonhaltiger Arzneimittel erneut in einem Rote-Hand-Brief. Nur in dieser Indikation überwiegt der Nutzen des Muskelrelaxans die möglichen Risiken einer Behandlung mit Tolperison. Allerdings beobachten die Überwachungsbehörden, dass die seit 2013 geltende strenge Indikationsstellung nicht konsequent umgesetzt wird.

In der aktuellen Roten Hand vom 2. Juni 2020 heißt es: „Daten aus verschiedenen europäischen Ländern deuten darauf hin, dass sich das Verschreibungsverhalten für Tolperison seit der Indikationseinschränkung im Jahr 2013 nicht tiefgreifend geändert hat und Tolperison weiterhin in den damals widerrufenen Indikationen (z. B. bei Erkrankungen des Bewegungsapparates muskuloskelettalen Ursprungs) verschrieben wird.“ Ein aktuelles Bewertungsverfahren des periodischen Unbedenklichkeitsberichts tolperisonhaltiger Arzneimittel zeigte, dass es zu einem „nicht unerheblichen Off-Label Use kommt“. Das Verschreibungsverhalten für Tolperison sei nicht tiefgreifend geändert worden.

Laut der neuesten Ausgabe des Arzneiverordnungsreports gingen die Verordnungen im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017„leicht zurück“, und zwar um 3,5 Prozent.

2013 erfolgte strenge Indikationsstellung von Tolperison

Zum Hintergrund: Bereits seit 2013 ist die Indikation des Muskelrelaxans stark eingeschränkt. Ein Rote-Hand-Brief informierte im Februar 2013 darüber. Vor 2013 war die Indikation von Tolperison recht breit gehalten: Mydocalm® oder generische Tolperison-Präparate durften bei schmerzhaften Muskelverspannungen, insbesondere als Folge von Erkrankungen der Wirbelsäule und der achsnahen Gelenke eingesetzt werden sowie bei Spastizität aufgrund neurologischer Erkrankungen wie nach einem Schlaganfall. Auf Bestreben des BfArM war jedoch 2011 ein Referral initiiert worden, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis zu evaluieren. Das Ergebnis dieser Bewertung war, dass der Nutzen die Risiken nur in einer Indikation überwiegt, nämlich wenn Tolperison zur symptomatischen Behandlung von Spastizität nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen eingesetzt wird. Das entspricht der aktuellen Zulassung. 

Ein weiteres wichtiges Risiko, welches damals erkannt worden war, waren Überempfindlichkeitsreaktionen in Zusammenhang mit Tolpersion. Die meisten Überempfindlichkeitsreaktionen waren zwar leichter oder moderater Ausprägung gewesen, jedoch war auch über anaphylaktische Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock berichtet worden.

Schwerwiegende bis tödliche Hypersensitivitätsreaktionen

Auch diese Risikowarnung erneuern EMA, BfArM und die Zulassungsinhaber tolperisonhaltiger Arzneimittel aktuell. Patienten, die Tolperison außerhalb der zugelassenen Indikation bei Erkrankungen des Bewegungsapparates muskuloskelettalen Ursprungs erhielten, seien demnach dem Risiko von Hypersensitivitätsreaktion ausgesetzt, ohne dass nach derzeitigem Kenntnisstand ein substantieller Nutzen zu erwarten sei. Und weiter: „Dies ist im Hinblick auf das Risiko für schwerwiegende bis tödliche Hypersensitivitätsreaktionen nicht akzeptabel.“ 

Jedoch sollten auch bei Verordnung von Tolperison in der zugelassenen Indikation Ärzte die Patienten auf das mögliche Risiko von Überempfindlichkeitsreaktionen und die zu ergreifenden Maßnahmen beim Auftreten solcher Reaktionen hinweisen.

Hinweis zur Überdosierung

Erst zu Beginn des Jahres setzte das BfArM eine Empfehlung des PRAC um. Der Ausschuss für Pharmakovigilanz bei der EMA riet, nachdem er die periodischen Sicherheitsberichte überprüft hatte, dass tolperisonhaltige Arzneimittel einen Hinweis zu Überdosierung tragen müssen.

Tolperison

Tolperison wird eingesetzt zur symptomatischen Behandlung der Spastizität nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen. Die Einzeldosis liegt bei 50 mg bis 150 mg, die Tagesgesamtdosis bei 150 mg bis maximal 450 mg Tolperison. 

Tolperison besitzt der Fachinformation zufolge eine hohe Affinität zu Nervengewebe, die höchsten Anreicherungen finden sich im Hirnstamm, Rückenmark und dem peripheren Nervensystem. Tolperison reduziert dosisabhängig den Einstrom von Natriumionen durch isolierte Nervenmembranen und reduziert Amplitude und Frequenz der Aktionspotenziale. 

Tolperison ist ein zentral wirksames Muskelrelaxans mit Eigenschaften ähnlich denen von Lokalanästhetika, wobei der Wirkmechanismus nicht vollständig geklärt ist. Der Wirkstoff zeigt strukturelle Ähnlichkeit mit dem Lokalanästhetikum Lidocain und wirkt wie Lidocain über seine membranstabilisierende Aktivität („lidocaine like activity“). Weiter wurde eine inhibitorische Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle nachgewiesen. Tolperison soll auch die Freisetzung von Neurotransmittern verringern und entfaltet seine Wirkung auf drei Ebenen: peripher, zentral-spinal und zentral-reticular.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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