COVID-19

Diese Arzneimittel testen Forscher gegen Zytokinstürme

Remagen - 29.05.2020, 07:00 Uhr

Bei schwer an COVID-19 Erkrankten ist das Interleukin-6-Niveau (IL-6) im Serum signifikant erhöht. Das ist ein Ansatz für die Forschung: Der monoklonale Antikörper Tocilizumab kann die Entzündungs-Signalkaskade unterdrücken. (Foto: Juan Gärtner / stock.adobe.com)

Bei schwer an COVID-19 Erkrankten ist das Interleukin-6-Niveau (IL-6) im Serum signifikant erhöht. Das ist ein Ansatz für die Forschung: Der monoklonale Antikörper Tocilizumab kann die Entzündungs-Signalkaskade unterdrücken. (Foto: Juan Gärtner / stock.adobe.com)


Bei einer massiven Infektion mit SARS-CoV-2 läuft die Immunabwehr aus dem Ruder. Es kommt zu einer übermäßigen Freisetzung von Zytokinen, dem gefürchteten „Zytokinsturm“. Was steckt hinter dem Phänomen und wie könnte es wirksam bekämpft werden?

Mittlerweile haben sich drei Hauptursachen für schwere Verläufe einer COVID-19-Erkrankung herauskristallisiert: eine geschwächte Immunabwehr, Vorerkrankungen und überschießende Immunreaktionen, die treffend mit dem Begriff „Zytokinsturm“ beschrieben werden. Zytokine sind eine inhomogene Gruppe von regulatorischen Proteinen. Sie übertragen Signale zwischen Zellen und steuern ihre Proliferation und Differenzierung. Man unterscheidet fünf Gruppen: Interferone, Interleukine, kolonie-stimulierende Faktoren, Tumor-Nekrosefaktoren und Chemokine. Dringt ein Erreger in den Körper ein, sorgen entzündungsfördernde (proinflammatorische) Zytokine dafür, dass Immunzellen am Infektionsort andocken. Das Gewebe wird stärker durchblutet, die Immunabwehr aktiviert. Ist die Gefahr vorbei, so sollte das System eigentlich wieder heruntergefahren werden. 

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Es kann jedoch vorkommen, dass genau das nicht passiert, wie bei schweren COVID-19-Verläufen beobachtet. Hier steht die unkontrollierte Freisetzung von Zytokinen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Fortschreiten des akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS). Das Entzündungsgeschehen breitet sich aber auch außerhalb der Lunge aus und kann schließlich zum multiplen Organversagen führen. Nach Meinung vieler Autoren ist die rechtzeitige Kontrolle des Zytokinsturms deshalb der Schlüssel zur Verbesserung der Behandlungserfolge und zur Senkung der Sterblichkeitsrate schwer erkrankter COVID-19-Patienten.

Derzeit werden im Rahmen von Heilversuchen verschiedene immunmodulatorische Therapien in den Kliniken getestet oder in Studien erprobt, um die Schäden durch die gestörte Regulation proinflammatorischer Zytokin- und Chemokinreaktionen zu begrenzen. Einige davon sind bereits für andere Einsatzgebiete zugelassen. So ist wenigstens ihr Sicherheitsprofil weitgehend bekannt. DAZ.online bietet auf den folgenden Seiten eine Übersicht. 

Glucocorticoide, Interleukin-6-Antagonisten und Fluvoxamin 

Während der SARS-Epidemie 2003 waren Corticosteroide das primäre Mittel zur Immunmodulation. Sie werden auch bei COVID-19 eingesetzt, aber eine frühe Verabreichung hemmt die Einleitung der körpereigenen Immunabwehr. Experten raten von ihrem systemischen Einsatz deshalb eher ab.

Interleukin-6-Antagonisten 

Bei schwer an COVID-19 Erkrankten ist das Interleukin-6-Niveau (IL-6) im Serum signifikant erhöht. Der monoklonale Antikörper Tocilizumab blockiert den Rezeptor für den entzündungsfördernden Immunbotenstoff und kann deshalb die Entzündungs-Signalkaskade unterdrücken. Tocilizumab (RoActemra®) ist in der EU zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis (RA) und von zwei Formen der juvenilen idiopathischen Arthritis zugelassen. Außerdem wird es zur Unterdrückung des Zytokinsturms bei der CAR-T-Zelltherapie eingesetzt. Klinische Studien aus China haben gezeigt, dass Tocilizumab bei der Behandlung schwer kranker COVID-19-Patienten mit umfangreichen Lungenläsionen wirksam ist. So war das Fieber bei allen Patienten bereits nach einem Tag auf normale Körpertemperatur gesunken. Auch andere Symptome sollen innerhalb weniger Tage bemerkenswert nachgelassen haben. Anfang April wurde die Rekrutierung für eine randomisierte doppelblinde, placebokontrollierte Phase-III-Studie mit Tocilizumab gestartet (COVACTA, NCT04320615). In diese sollen weltweit in fast 70 Einrichtungen rund 330 hospitalisierte Patienten mit schwerer COVID-19-Pneumonie eingeschlossen werden. In Deutschland sind fünf Unikliniken daran beteiligt. 

Mit dem IL-6-Rezeptorantagonisten Sarilumab (Kevzara®) von Sanofi und Regeneron läuft eine placebokontrollierte Phase II/III-Studie an hospitalisierten Patienten mit COVID-19 in den USA (NCT04315298).

Der monoklonale Antikörper Siltuximab (Sylvant®) von EUSA Pharma richtet sich direkt gegen IL-6. Erste vorläufige Ergebnisse der Studie SISCO (Siltuximab In Serious COVID-19) mit sieben Tagen Follow-up zeigen, dass Siltuximab die Erkrankung bei mehr als drei Viertel der Patienten stabilisiert oder verbessert hatte.

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Nach Forschungsarbeiten soll auch die klinische Wirksamkeit des Antidepressivums Fluvoxamin (Fevarin®) teilweise mit einer Wirkung auf IL-6 assoziiert sein. Die Washington University of Medicine will den selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitor nun in einer placebokontrollierten Studie an 152 Patienten gegen COVID-19-assoziierte Zytokinstürme testen.

Agonisten des Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptors, Januskinase-Inhibitoren und Interleukin-1-Antagonsiten

Sphingosin-1-Phosphat (S1P) ist ein Signal-Lysophospholipid, das die Synthese und Sekretion von Zytokinen fördert. Funktionelle Antagonisten wie Fingolimod, die auf S1P 1 abzielen, kommen daher ebenfalls für die Unterdrückung des Zytokinsturms in Frage. Eine Phase-II-Studie in China mit dem S1P-Rezeptor-Regulator Fingolimod (Gilenya®) von Novartis läuft noch bis Juli 2020 (NCT04280588).

Opaganib (Yeliva®) ist ein neuer „first-in-class“, oral verabreichter, selektiver Sphingosinkinase-2-Inhibitor (SK2) der israelischen Firma RedHill, der die Synthese von S1P blockiert und damit quasi indirekt antientzündlich wirkt. Präklinische Daten sollen auch antivirale Aktivitäten gezeigt haben. Opaganib könnte also in der Therapie von COVID-19 zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der SK2-Inhibitor wird in Italien in einem Härtefallprogramm erprobt. Eine Phase-II-Studie in den USA ist genehmigt.

Januskinase-Inhibitoren 

Januskinasen sind an der Signalweiterleitung von Zytokinen und Wachstumsfaktoren in den Zellkern beteiligt. Hemmstoffe wirken entzündungshemmend, selektiv immunmodulierend und antiproliferativ. Der Januskinase-Inhibor Baricitinib (Olumiant®) von Eli Lilly hat eine Studie mit COVID-19-Patienten in Italien (NCT04358614) bereits abgeschlossen. 

Mit Ruxolitinib (Jakavi®) von Novartis wurde eine Phase-II-Studie unter der Leitung der Universität Jena gestartet (NCT04338958).

Interleukin-1-Antagonisten 

Kürzlich wurden die Ergebnisse einer Behandlungsserie mit dem Interleukin-1-Rezeptor-Antagonisten Anakinra (Kineret®) in Lancet Rheumatology publiziert. Die hochdosierte intravenöse Gabe schwächte den Zytokinsturm bei Patienten mit COVID-19 deutlich ab. Daneben wird Anakinra derzeit mit einer nur etwa halb so hohen Dosis in einer randomisierten klinischen Studie an vier Zentren in Italien untersucht (NCT04324021). Ergebnisse sollen im September vorliegen. 

Mit dem Interleukin-1ß-Blocker Canakinumab (Ilaris®) von Novartis, der zur Behandlung mehrerer Autoimmunkrankheiten zugelassen ist, wurde Ende April eine Phase-III-Studie in den USA, Spanien und UK gestartet (NCT04362813).

Ulinastatin, VEGF-Inhibitoren und Interferone

Ein Serin-Protease-Hemmer mit entzündungshemmenden Eigenschaften wird in Japan und China bei der Behandlung von Patienten mit akuter Pankreatitis und Sepsis verwendet: Ulinastatin. Anfang März 2020 untersuchten chinesische Ärzte die Verwendung von Ulinastatin zur Behandlung des Zytokinsturms bei COVID-19-Patienten. Nach Meinung der Experten aus Shanghai könnte es bei Patienten mit massiven Lungenläsionen empfohlen werden.

Jüngste Erkenntnisse zeigten höhere Konzentrationen des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF) im Blut von COVID-19-Patienten. VEGF gilt als stärkster Induktor der Gefäßpermeabilität und ist nach Studien ein Schlüsselfaktor und ein potenzielles therapeutisches Ziel zur Unterdrückung des Lungenödems bei ARDS. Der VEGF-Inhibitor Bevacizumab (Avastin®), bekannt als Krebsmittel, wird in Studien in China (Phase II/III, NCT04275414 sowie NCT04305106) für diesen Zweck untersucht. 

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Schließlich wird auch an Zytokinen als Arzneimittel in ihrer ursprünglichen Funktion im Körper geforscht: Typ-I-Interferone (Alpha- und Beta-Interferone) begrenzen die Virusreplikation, können aber, wenn sie zu spät im Krankheitsverlauf verabreicht werden, zu schlimmen Gewebeschäden führen. Klinische Studien zur Wirksamkeit von Alpha- und Beta-Interferon gegen SARS-CoV lieferten variable Ergebnisse. Derzeit laufen mehr als zwanzig Studien zur Anwendung von Interferonen, auch in Kombination mit Lopinavir/Ritonavir oder Umifenovir gegen COVID-19.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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