Sozialgericht Nordhausen

Null-Retax: Apotheke hat Anspruch auf ermessensfehlerfreie Kassen-Entscheidung

Berlin - 19.05.2020, 12:00 Uhr

Ein fehlendes „A“ auf dem BtM-Rezept, wo es eigentlich nötig wäre, kann nach wie vor zur Null-Retaxation führen. (Klaus Eppele / stock.adobe.com)

Ein fehlendes „A“ auf dem BtM-Rezept, wo es eigentlich nötig wäre, kann nach wie vor zur Null-Retaxation führen. (Klaus Eppele / stock.adobe.com)


Fehlt auf einem BtM-Rezept das „A“, obwohl die Höchstmenge überschritten wurde und gibt die Apotheke das verordnete Arzneimittel ohne Arztrücksprache dennoch ab, kann ihr durchaus eine Retaxation auf Null drohen. Das Sozialgericht Nordhausen entschied nun allerdings: Wenn die Apotheke die Kasse darum bittet, die Retaxierung aus Kulanzgründen zurückzunehmen, muss diese zumindest eine Ermessensentscheidung treffen, also erklären, warum sie am Null-Retax festhält, auch wenn ihr kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist und der Patient richtig versorgt wurde.  

Als der Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung zwischen Deutschem Apothekerverband (DAV) und GKV-Spitzenverband im Jahr 2016 überarbeitet wurde, ging es vor allem darum, den Nullretaxationen der Krankenkassen, die wegen oft unbedeutender Formfehler ausgesprochen wurden, ein Ende zu bereiten. Vieles ist seitdem einfacher geworden. Doch es gibt auch weiterhin Formalia, die die Kassen eisern im Auge behalten. Zum Beispiel das „A“ auf Betäubungsmittelrezepten.

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Zu spüren bekam dies eine Apothekerin aus Thüringen, die seit Oktober 2013 eine gesetzlich versicherte Patientin mit dem Arzneimittel Palexia® (Tapentadol) versorgte. Zumindest ab September 2016 wurde ihr das Opioidanalgetikum in der Dosierung 250 mg zu 100 Stück als Retardtabletten verordnet – unter Überschreitung der zulässigen Höchstmengen des § 2 Abs. 2 Satz 2 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Das Rezept hätte also mit einem „A“ gekennzeichnet sein müssen. Was der Apothekerin nicht weiter auffiel, merkte die Krankenkasse bei einer stichprobenartigen Überprüfung. Zunächst monierte sie zwei solcher Verordnungen vom September und Oktober 2016, später zwei weitere vom Januar und März 2017. Sie retaxierte jeweils den zunächst verauslagten Preis von 649,25 Euro je Packung und rechnete die Summe entsprechend mit späteren Forderungen der Apothekerin auf.

Die Pharmazeutin erhob daraufhin Einspruch und beantragte, die Retaxierung aus Kulanzgründen zurückzunehmen. Die Verantwortung über die Angabe „A“ auf einem BtM-Rezept liege beim verschreibenden Arzt, argumentierte sie. Zudem habe die verordnende Ärztin ihr gegenüber nochmals den Verordnungswunsch ausdrücklich bestätigt – allerdings erst nachdem sie die Rezepte bedient hatte.

Die Kasse blieb hart und half dem Einspruch nicht ab. Die erforderliche Kennzeichnung sei nicht vorgenommen worden, und es handele sich auch nicht um einen unbedeutenden formalen Fehler, hielt sie der Apothekerin entgegen. Die Kennzeichnung der bewussten Überschreitung der Höchstmenge müsse sowohl für die Apotheke als auch für die Krankenkasse auf den ersten Blick erkennbar sein. Es gehöre zur Prüfungs- und Sorgfaltspflicht der Apotheke, die Verordnungen bei Vorlage und Belieferung auf ordnungsgemäße Ausstellung und stimmige Angaben zu überprüfen. Eine Unstimmigkeit, die von der Apotheke erst durch ihre Abrechnungskorrektur erkannt worden sei, könne nicht durch eine nachträglich ausgestellte Ersatzverordnung oder Bestätigung der verordnenden Ärztin behoben werden. Auch die Neuregelung des Rahmenvertrags (in der Fassung vom 1. Juni 2016) sehe eine nachträgliche Heilung dieses Mangels nicht vor, erklärte die Kasse.

Ein Vergütungsanspruch ist nicht entstanden ...

Das trieb die Apothekerin zu einer Klage, in der sie die Zahlung von 2.597 Euro zuzüglich Verzugszinsen verlangte. Vor Gericht führte sie ergänzend aus, dass es sich beim vergessenen „A“ um einen unbedeutenden Fehler handele, da die Arzneimittelsicherheit und auch die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangiert seien. Die Retaxierung sei daher rechtswidrig. Zudem sei im Rahmenvertrag vom Juni 2016 eine Regelung aufgenommen worden, wonach die Krankenkasse aus Kulanzgründen von der Retaxierung Abstand nehmen könne. Doch eine solche Kulanzentscheidung, die die genauen Umstände des Falls berücksichtigt, sei niemals erfolgt.

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Nordhausen konnte die Apothekerin ihr Zahlungsbegehren jedoch nicht durchsetzen. Dagegen hatte sie Erfolg mit ihrem hilfsweise gestellten Antrag: Die Richter verurteilten die Kasse, über den Kulanzantrag der Klägerin ermessensfehlerfrei neu zu entscheiden.

In den Entscheidungsgründen erläutert das Gericht zunächst, warum kein Zahlungsanspruch der Klägerin besteht: Er ist durch Aufrechnung erloschen. Die Apothekerin war nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gehalten, verschiedene Abgabevorschriften einzuhalten, auch die der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Konkret habe sie hier gegen das Abgabeverbot des § 12 Abs. 1 Nr. 1b BtMVV (i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 6, und § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 BtMVV) verstoßen: Das nötige „A“ habe gefehlt, und die Klägerin habe auch nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht, mit der Ärztin Rücksprache zu halten und die Ergänzung selbst vorzunehmen.

Damit liege auch ein Verstoß gegen § 17 Abs. 5 Satz 2 Apothekenbetriebsordnung vor. Danach darf ein Arzneimittel nicht abgegeben werden, wenn eine Verschreibung einen für den Abgebenden erkennbaren Irrtum enthält, bevor die Unklarheit beseitigt ist. Dass die Apothekerin erkennen musste, dass die zulässige Abgabemenge überschritten war, liegt für das Gericht auf der Hand: Schließlich versorgte sie die Patientin schon mehrere Jahre in dieser Weise.

Mit den Regelungen des Rahmenvertrags in seiner damaligen Fassung setzte sich das Gericht ebenfalls auseinander – mit dem Ergebnis, dass auch diese keinen Zahlungsanspruch begründen. Zwar sind dort Fälle aufgeführt, in denen der Vergütungsanspruch des Apothekers trotz nicht ordnungsgemäßer vertragsärztlicher Verordnung entsteht – etwa weil es sich um einen unbedeutenden, die Arzneimittelsicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangierenden, insbesondere formalen Fehler handelt. Doch all die hier aufgeführten Ausnahmen hält das Gericht für nicht gegeben. Auch ein dringender Fall, in dem eine Arztrücksprache nicht notwendig gewesen wäre, habe nicht vorgelegen.

... aber die Kasse kann im Einzelfall dennoch entscheiden, die Apotheke zu vergüten

Bleibt also der Hilfsantrag auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung – schließlich kann der Vergütungsanspruch der Apotheke auch entstehen, wenn die Krankenkasse im Einzelfall entscheidet, die Apotheke trotz eines Formfehlers ganz oder teilweise zu vergüten (§ 3 Abs. 1 Satz 2, 3. Spiegelstrich des Rahmenvertrags i.d.F. von 2016, jetzt geregelt in § 6 Absatz 1 c) Rahmenvertrag – Stand 1. Januar 2019). Diese Regelung des Rahmenvertrags erkläre zwar nicht ausdrücklich, in welcher Form und in welchen Fällen eine solche Einzelfallentscheidung zu erfolgen habe oder erfolgen könne. Doch das Gericht legt die Regelung nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn und Zweck aus: Demnach hat eine Apotheke – zumindest auf entsprechenden Antrag – einen vertraglichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Einzelfallentscheidung der Krankenkasse. Denn im Hinblick auf die bislang strenge Rechtsprechung der Sozialgerichte bis zum Jahr 2016 sollte diese Regelung im Rahmenvertrag nach dem Willen von DAV und GKV-Spitzenverband Krankenkassen die Möglichkeit eröffnen, im Einzelfall von einer Beanstandung abzusehen, obwohl sie dazu gemäß vertraglicher Vorgaben berechtigt wären.

Willkürliche Retax-Entscheidungen nicht gewollt

Würde man die Regelung anders verstehen, könnten Kassen ohne Überprüfungsmöglichkeit durch die Gerichte nahezu willkürlich entscheiden, ob sie von einer Retaxierung ganz oder teilweise Abstand nehmen. Das könne von den Vertragsparteien „kaum so gewollt gewesen sein“ und würde letztlich auch zu einem Leerlaufen und damit zu einer Sinnentfremdung der besagten Vorschrift führen, so das Gericht.

Im vorliegenden Fall sieht das Gericht einen „eindeutigen Ermessensfehler in Form eines sogenannten Ermessensnichtgebrauchs“. Zwar sei einzuräumen, dass kein unbedeutender formaler Fehler im Sinne des Rahmenvertrags vorgelegen habe, sondern ein bedeutender Verstoß gegen die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung. Trotzdem: Damit sei das Ermessen der Kasse nicht auf Null reduziert gewesen. Der Verweis der Kasse, es handele sich nicht um einen unbedeutenden, die Arzneimittelsicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangierenden Formfehler, reicht damit nicht.

Wenn die Kasse nun die geforderte Ermessensentscheidung treffe, muss sie laut Gericht jedenfalls berücksichtigen, dass die betroffene Patientin seit 2013 durchgängig – nach dem eindeutig bestätigten Willen der verordnenden Ärztin unter Überschreitung der Höchstmenge mit Palexia® – versorgt werden sollte und durch die Klägerin auch versorgt worden ist. Das gleiche gelte für den Umstand, dass trotz pflichtwidriger Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt hinsichtlich des „A“ der Kasse kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist und keine unsachgemäße oder falsche Behandlung der Patientin erfolgte.

Nun bleibt abzuwarten, wie die erneute Entscheidung der Kasse für die Apothekerin ausgeht. 

Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 25. Februar 2020, Az.: S 6 KR 251/18



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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4 Kommentare

Das A

von Sven Larisch am 25.05.2020 um 7:43 Uhr

Schön wenn Ärzte, die BTM verordnen das "A" einfach mit drauf drucken. Hiermit zeigen Sie auch die Überflüssigkeit, da ich z.B. als Apotheke nicht sehen kann, ob ein Patient innerhalb von 30 Tagen die Höchstmenge überschritten hat, außer er hat eine Kundenkarte. Woher soll ich als Apotheke also wissen ob nicht schon eine weitere Packung mit dem gleichen Wirkstoff verordnet wurde und statt bei mir bei einer anderen Apotheke eingereicht wurde? Berücksichtigt das die Krankenkasse? Es gibt noch ein paar dieser und ähnlicher Fragen, aber die spare ich mir.
Und ja- wir als Apotheker sind verpflichtet zu Prüfen. Verordnungsfehler des Arztes, der oft keine Ahnung ha, wie er seine ifab-Liste(Lauer-Taxe) richtig nutzen kann. Diese zeigt nämlich auch schon(bei Aktualisierung) Preise, AV oder nicht und Vertragspartner.

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A

von Dr. Schweikert-Wehner am 19.05.2020 um 14:23 Uhr

Ist eine Abgabe einer größeren Menge als dsie in der BTMVV steht ohne A nicht ein Verstoß gegen das BTMG, mit eventuellen Folgen?

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Retax

von Conny am 19.05.2020 um 12:13 Uhr

Telefonieren Sie mal Freitagsnachmittiags mit der geballten Inkompetenz einer Krankenkasse. AOK : Angestelle ohne Kompetenz

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Willkür oder Betrug?

von Thomas Eper am 19.05.2020 um 12:03 Uhr

Es ist schon eine Zumutung, wenn Apotheken die Versäumnisse der Ärzte bezahlen müssen.
Kein Arzt muss was zahlen, wenn ich die Rezepte fehlerhaft bedrucke. Umgekehrt scheint das problemlos zu funktionieren.
Dann sind wir noch der Willkür der Kassen schutzlos ausgeliefert.
Erschwerend kommt hinzu, dass laut Statistiken der LAV BW ca. 70 % der Retaxe nicht gerechtfertigt sind.
Eigentlich ein Skandal und ein unerträglicher Zustand.

Sieht jemand von unserer Standesvertretung und/oder Politik Handlungsbedarf?

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