Coronavirus-Pandemie

Bund und Länder lockern Kontaktbeschränkungen

Berlin - 06.05.2020, 15:57 Uhr

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat offenbar in der heutigen Bund-Länder-Schalte hart mit den Ministerpräsidenten der Länder um das weitere Vorgehen in der Corona-Krise gerungen. (Foto: Imago/IPON)

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat offenbar in der heutigen Bund-Länder-Schalte hart mit den Ministerpräsidenten der Länder um das weitere Vorgehen in der Corona-Krise gerungen. (Foto: Imago/IPON)


Einige Länder sind schon vorgeprescht, nun sollen im ganzen Land die Regeln in der Coronakrise weiter gelockert werden. Aber was, wenn sich zu viele Menschen anstecken? Dafür einigten sich Bund und Länder auf eine Art Notbremse.

Sport, Einkaufen und Treffen: Die strengen Regeln in der Coronakrise werden weiter gelockert. Bund und Länder einigten sich am heutigen Mittwoch darauf, dass sich künftig wieder Angehörige von zwei Haushalten treffen dürfen, also etwa zwei Familien, zwei Paare oder die Mitglieder aus zwei Wohngemeinschaften. Unter Auflagen sollen nun alle Geschäfte wieder öffnen können, nicht nur die kleineren. Auch Trainingsbetrieb im Breiten- und Freizeitsport unter freiem Himmel soll wieder erlaubt sein. Wenn es regional zu viele neue Infektionen gibt, sollen die Regeln dort aber wieder strenger werden.

Für Treffen mit Menschen aus einem anderen Haushalt gilt weiterhin, dass sie einen Abstand von 1,50 Metern zueinander einhalten sollen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder entschieden außerdem, die grundsätzlichen Kontaktbeschränkungen für die Bürger im öffentlichen Raum bis zum 5. Juni zu verlängern.

Merkel setzt sich durch

Bund und Länder vereinbarten nach dpa-Informationen auch, dass Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie angesichts der regional unterschiedlich hohen Infektionszahlen künftig wieder stärker vor Ort getroffen werden. Dabei müssen die Länder aber eventuell wieder nötige Verschärfungen garantieren. Sie sollen sicherstellen, dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten sofort wieder konsequente Beschränkungen umgesetzt werden, sollten die Neuinfektionen eine Obergrenze von 50 pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche überschreiten. Wie die neuen Auflagen konkret aussehen, entscheiden allerdings die Länder selbst.

In der Schalte hatte es Berichten zufolge zuvor heftige Diskussionen gegeben, weil vor allem die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen diese Obergrenze nicht akzeptieren wollten. Die Kritiker der Zahlenvorgabe warnten, dann werde möglicherweise aus Angst vor neuen Beschränkungen einfach weniger getestet. Merkel habe sich jedoch schließlich mit ihrem Vorschlag durchgesetzt.

Die Lockerungspläne im Einzelnen

Mindestabstand: Als weiterhin entscheidend wird in der Vorlage bezeichnet, dass Bürger in der Öffentlichkeit einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten. Dies sei die wichtigste Maßnahme gerade angesichts der Öffnungen. Sie werde „noch für lange Zeit" erhalten bleiben. Mit jedem Grad der Öffnung werde es umso wichtiger, Abstands- und Hygieneregeln weiter konsequent einzuhalten, „weil durch die zunehmende Zahl an Kontakten die Gefahr des Entstehens neuer Infektionsketten steigt".

Kliniken, Pflegeheime und Behinderten- sowie Senioreneinrichtungen: In alle bisher schon von den Ländern erlassenen Verfügungen soll eine Regelung aufgenommen werden, „die jedem Patienten/Bewohner einer solchen Einrichtung die Möglichkeit des wiederkehrenden Besuchs durch eine definierte Person ermöglicht wird, sofern es aktuell kein aktives SARS-Cov-2-Infektionsgeschehen in der Einrichtung gibt".

Betreuungsangebote, Tracing-App und Mittelstand

Kinderbetreuung: Um die schwierige Situation von Familien mit Kindern zu erleichtern, kann vom 11. Mai an eine erweiterte Notbetreuung in allen Bundesländern eingeführt werden. Dazu gehören vordringlich Kinder mit besonderem pädagogischen oder Sprachförderbedarf, Kinder, die in beengten Wohnverhältnissen leben sowie Kinder, die am Übergang zur Vorschule oder Schule stehen. Die Einzelheiten sollen die Länder regeln.

Schulen: Allen Schülern soll schrittweise unter Auflagen bis zu den Sommerferien eine Rückkehr an die Schulen ermöglicht werden. Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf etwa wegen der häuslichen Situation oder der technischen Ausstattung sollten „möglichst umgehend gezielte pädagogische Präsenzangebote an den Schulen erhalten".

Tracing-App: In der Beschlussvorlage wird die „doppelte Freiwilligkeit" des Einsatzes sowie einer möglichen Datenweitergabe an das Robert Koch-Institut betont. Gebe ein Bürger die Daten nicht frei, habe dies keinen negativen Einfluss auf die Nutzungsmöglichkeiten der App. Ein konkreter Termin zur Einführung der App wird nach wie vor nicht genannt.

Industrie und Mittelstand: Da man weiterhin in der Pandemie lebe, müssten nicht erforderliche Kontakte in der Belegschaft und mit Kunden vermieden werden. Zugleich müssten allgemeine Hygienemaßnahmen umgesetzt und die Infektionsrisiken bei erforderlichen Kontakten durch besondere Maßnahmen minimiert werden. Die für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden sowie die Unfallversicherungsträger sollen die Unternehmen dabei beraten und Kontrollen durchführen.

Sport und Großveranstaltungen

Breitensport: Der Bund will den Sport- und Trainingsbetrieb im Breiten- und Freizeitsport in Deutschland unter freiem Himmel unter Bedingungen wieder erlauben. In der Vorlage wird auf einen entsprechenden Beschluss der Sportminister der Länder vom 28. April Bezug genommen. Dort werden als Bedingungen für die Wiederaufnahme des Sportbetriebs unter anderem genannt, dass ein ausreichend großer Personenabstand von 1,5 bis 2 Metern gewährleistet und der Sport kontaktfrei ausgeübt wird.

Profifußball: Der Bund will dem deutschen Profifußball grünes Licht für die Wiederaufnahme des seit Mitte März ausgesetzten Spielbetriebs in der 1. und 2. Bundesliga geben. „Dem Beginn des Spielbetriebs muss eine zweiwöchige Quarantänemaßnahme, gegebenenfalls in Form eines Trainingslagers, vorweggehen", heißt es in der Beschlussvorlage. Als voraussichtlicher Termin für den Beginn der Geisterspiele ohne Zuschauer gilt der 15. oder der 21. Mai. Ein genauer Termin ist in der Beschlussvorlage offen gelassen.

Großveranstaltungen: Volksfeste, größere Sportveranstaltungen mit Zuschauern, größere Konzerte, Festivals, Dorf-, Straßen- oder Schützenfeste sowie Kirmes-Veranstaltungen bleiben wegen der Corona-Pandemie untersagt, voraussichtlich bis mindestens zum 31. August.

In vielen Bereichen räumt der Bund den Ländern wieder mehr Beinfreiheit für eigene Entscheidungen, abhängig von der regionalen Situation, ein. Das betrifft zum Beispiel den Betrieb von Restaurants und Bars, Theatern, Kinos, Fitnessstudios, Schwimmbädern sowie Vorlesungen an Hochschulen.

Wieler mahnt zur Vorsicht

Ein an die jeweilige regionale Lage angepasstes Vorgehen bei Lockerungen in der Coronakrise ist aus Sicht mehrerer Wissenschaftler gerechtfertigt. Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Professor Lothar Wieler, betonte am Dienstag in Berlin, dass die Gegebenheiten regional unterschiedlich seien, dem müsse man Rechnung tragen. Natürlich sei ein gemeinsamer Plan wünschenswert, aber Variationen in Anbetracht der jeweiligen Situation vor Ort halte er für „normal und selbstverständlich". Zugleich gab Wieler zu verstehen, dass Wissenschaftler mit weiteren Infektionswellen im Lauf der Pandemie rechnen, was Wachsamkeit erfordere.

Mit Lockerungen wachse natürlich das Risiko für erneut steigende Infektionszahlen, sagte der RKI-Chef. Deshalb seien in den vergangenen Wochen weitere Kapazitäten geschaffen worden, etwa für Behandlungen und Tests. Deutschland sei gut vorbereitet, betonte Wieler. Auch werde die Therapie für die Erkrankten besser, Ärzte hätten mehr Erfahrungen mit COVID-19-Patienten.

„Wir müssen Infektionen, die jetzt auftreten, früh erkennen", mahnte Wieler. Kontakte von Infizierten müssten schnell nachverfolgt werden. Ziel sei es, im „neuen Alltag" Ausbrüche schnell zu unterbinden. „Das ist eine Pandemie. Und bei einer Pandemie wird dieses Virus so lange Krankheiten hervorrufen, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind", bekräftigte er. Es werde „mit großer Sicherheit" eine zweite Welle geben, dessen sei sich die Mehrheit der Wissenschaftler sicher. Viele gingen auch von einer dritten Welle aus. Angesichts dessen werde die geplante App zur Kontaktnachverfolgung auch noch zu einem späteren Zeitpunkt gebraucht, die Entwicklung dauere weiter an. Wann die App an den Start gehen könnte, sagte der RKI-Chef nicht.

Wieler betonte, lokale Entscheider sollten nun bestimmte Messparameter im Blick behalten, „wenn diese Parameter Signale geben, dann muss man wieder die Lockerungen zurücknehmen, und zwar lokal". Wieler zählte drei Felder auf: die Übertragbarkeit (Reproduktionszahl, Gesamtzahl nachgewiesener Fälle, Dynamik), die Krankheitsschwere (Anteil der Patienten im Krankenhaus) und die Kapazitäten im Gesundheitssystem (freie Intensivbetten, Möglichkeiten der Gesundheitsämter beim Ausbruchsmanagement, Testkapazitäten).

Nachverfolgen der Kontakte unerlässlich

„Angesichts der inzwischen deutlich gesunkenen Anzahl der täglichen Neuinfektionen erscheint es möglich, dass in wenig betroffenen Regionen teilweise Lockerungen stattfinden", erklärte der Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik vom Uniklinikum Halle (Saale), Professor Rafael Mikolajczyk, auf Anfrage der dpa. Eine Bedingung dafür sei aber, dass die Gesundheitsämter alle Neuerkrankten und deren Kontakte in diesen Regionen auch tatsächlich nachverfolgen, testen und isolieren könnten. Könnten Infektionsherde nicht zeitnah gestoppt werden, sei ein erneutes Aufflammen der Epidemie zu erwarten - und eine erneute Verschärfung der Maßnahmen.

Der Charité-Virologe Professor Christian Drosten sagte am Dienstag im NDR-Podcast, dass man etwa in derzeit wenig vom Virus betroffenen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern zugestehen müsse, dass dort unter Umständen auch örtliche Regelungen getroffen werden können. Die Gefahr sei schließlich anders als in Gegenden mit deutlich mehr Infektionen. Generell sei aber eine zentrale Regelung immer wünschenswert, damit die Menschen wissen, woran sie sind.

In der Epidemie sind die Bundesländer bisher unterschiedlich stark betroffen: Bayern (330 Fälle pro 100.000 Einwohner) und Baden-Württemberg (293 pro 100.000) deutlich mehr als zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern (44 pro 100.000) und Sachsen-Anhalt (72 pro 100.000). Nach RKI-Daten (Stand 5. Mai, 0.00 Uhr) gibt es derzeit nur noch einen Landkreis bundesweit, in dem in den vergangenen sieben Tagen mehr als 50 Fälle pro 100.000 Einwohner erfasst wurden: den Landkreis Greiz in Thüringen. Aus Sicht Wielers ein Zeichen, dass die erste Welle der Epidemie „sehr erfolgreich" bekämpft worden sei.



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