Hilferuf europäischer Krankenhäuser

COVID-19: Muskelrelaxanzien, Sedativa und Schmerzmittel bald aufgebraucht?

Stuttgart - 08.04.2020, 09:00 Uhr

Arzneimittel, die zur Versorgung von COVID-19-Patienten im Krankenhaus dringend benötigt werden, könnten bald weltweit nur noch schwer erhältlich sein. Dazu gehören beispielsweise auch Propofol, Midazolam oder Opioide. (b/Foto: imago images / KS-Images.de)

Arzneimittel, die zur Versorgung von COVID-19-Patienten im Krankenhaus dringend benötigt werden, könnten bald weltweit nur noch schwer erhältlich sein. Dazu gehören beispielsweise auch Propofol, Midazolam oder Opioide. (b/Foto: imago images / KS-Images.de)


Nach Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten werden nun auf Intensivstationen weltweit auch dringend benötigte Arzneimittel knapp. Das geht unter anderem aus einer Stellungnahme der „European University Hospital Alliance“ hervor, die insgesamt von neun europäischen Krankenhäusern unterzeichnet wurde – darunter auch die Charité Berlin sowie das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien. Sie rufen dringend zu mehr europäischer Zusammenarbeit auf.

Die COVID-19-Pandemie ist im vollen Gange, besorgt wird der Verlauf der Infektionen auch in Nachbarländern mitverfolgt. Ein Krisenherd, der immer wieder im deutschen Fernsehen Erwähnung findet, ist New York. Am 2. April berichtete das Nachrichtenportal Medscape etwa, dass in den USA bereits Engpässe für beispielsweise Fentanyl, Midazolam und Propofol bestehen. Das Gesundheitsunternehmen „Premier“ mit Sitz in Charlotte, North Carolina, habe außerdem festgestellt, dass 15 Medikamente, die zur Behandlung von COVID-19 eingesetzt werden, knapp sind oder kurz davor stehen, knapp zu werden – während gleichzeitig die Nachfrage, insbesondere in New York, in die Höhe schieße. Beispielsweise Fentanyl-Bestellungen sollen sich nach Premiers Daten national im März verdoppelt haben, während nur 61 Prozent letzlich bedient werden könnten. In New York soll die Bestellrate um ganze 533 Prozent gestiegen sein. 

Bezüglich Fentanyl und anderer Opioide erschwert in den USA die Opioidkrise zusätzlich die Situation. Einem Bericht vom 2. April der Nachrichtenagentur Reuters zufolge hatte es dort – um der Opioidkrise Herr zu werden – deutliche Mengenbeschränkungen für Opioidhersteller gegeben, um deren Lockerung nun US-amerikanische Ärzte im Zuge der Engpässe bitten. Neben Fentanyl sollen auch Hydromorphon und Morphin knapp sein. 

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Doch man muss gar nicht bis in die USA schauen, um zu erkennen, dass es Schwierigkeiten in der Arzneimittelversorgung von COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen gibt oder bald geben könnte. Bereits am 31. März berichtete die französische Zeitung „Le Monde“ über einen Hilferuf neun europäischer Krankenhäuser – darunter auch die Charité Berlin sowie das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien. Insgesamt bilden die neun Krankenhäuser die „European University Hospital Alliance“. 

Die Arzneimittel reichen noch Tage bis maximal zwei Wochen

Im Statement dieser Allianz heißt es wörtlich: „Die vorhandenen Krankenhausvorräte an Muskelrelaxantien, Beruhigungsmitteln und schmerzstillenden Medikamenten werden schnell verbraucht und sind – bei unzureichender oder nicht vorhandener Nachlieferung – inzwischen zum begrenzenden Faktor bei der Versorgung von COVID-19-Patienten geworden.“ Die Krankenhäuser gehen davon aus, dass bei der derzeitigen Verbrauchsrate ihre Vorräte in den am stärksten betroffenen Krankenhäusern in wenigen Tagen und in den Krankenhäusern mit den größten Vorräten in zwei Wochen leer sein werden. 

Der französischen Zeitung „Le Figaro“ zufolge hat bei einer Fragestunde mit der Regierung in der Nationalversammlung der Gesundheitsminister Olivier Véran bereits „Spannungen bei den Lagerbeständen einer Reihe von Produkten in den Krankenhäusern“ eingeräumt. Für einige dieser Medikamente sei die Nachfrage „weltweit um 2000 Prozent gestiegen, was zu Spannungen führt“, erklärte er laut „Le Figaro“. 

In dem Statement der neun Krankenhäuser heißt es schließlich, dass man zwar keine exakten Daten habe, aber davon ausgehe, dass die Situation in den meisten anderen Krankenhäusern nicht besser sei. 

Deutschland: Erste Engpässe in der Liste des BfArM gemeldet

Und tatsächlich, wer danach sucht, wird schließlich auch in der Lieferengpassliste des BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) fündig: In der Datenbank ist beispielsweise Morphin von Merck seit März 2020 gelistet. Als Grund werden Produktionsprobleme angegeben. Auch bei Fentanyl gibt es seit März 2020 offenbar Produktionsprobleme. Und auch für Midazolam werden seit März/April Engpässe gemeldet. Dort liest man allerdings die Begründung: „Erhöhte Nachfrage aufgrund COVID-19.“ „Stark erhöhte Nachfrage im Rahmen der COVID-19-Krise“, heißt es auch bei einer Engpassmeldung zu Propofol. 

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Einige Krankenhäuser hätten bereits alternative Arzneimittel oder alternative Dosierungen besorgt, schreibt die „European University Hospital Alliance“ in ihrem Statement. Dabei sei sehr bedenklich, dass überarbeitetes und oft weniger erfahrenes Krankenpflegepersonal sowie Ärzte in der Ausbildung, die derzeit die Lücken füllen, Präparate und Dosierungen verwenden müssen, mit denen sie nicht vertraut sind. 

Manche Behörden hätten auf die Situation mit Exportverboten – nicht aber Importverboten – reagiert, was zwar nachvollziehbar, aber nicht zielführend sei. Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln hänge von internationalen Vertriebsnetzen ab, wobei spezielle Arzneimittel (auch Generika) nur an wenigen Orten der Erde hergestellt werden. Kein einziges Land in Europa könne sich mit allen benötigten Arzneimitteln, aber auch Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten selbst versorgen. All das sei auch in Hinsicht auf potenzielle gegen COVID-19 wirksame Arzneimittel zu bedenken. „Deshalb fordern wir unsere Behörden auf, eine wirksame Zusammenarbeit und Koordinierung für die Herstellung und Verteilung dieser unentbehrlichen Medikamente auf europäischer Ebene einzuleiten.“

Pharmafirmen sollen Pandemie-Engpässe direkt an die EMA melden

Am vergangenen Montag hat die europäische Arzneimittelbehörde EMA nun neue Maßnahmen zur Unterstützung der Verfügbarkeit von Medikamenten, die bei der COVID-19-Pandemie benötigt werden, angekündigt: „Einige EU-Mitgliedstaaten haben angegeben, dass sie bei bestimmten Arzneimitteln, die für Patienten mit COVID-19 verwendet werden, einen Mangel feststellen oder erwarten, dass ein solcher Mangel sehr bald auftreten wird. Dazu gehören Medikamente, die auf Intensivstationen verwendet werden, wie bestimmte Anästhetika, Antibiotika und Muskelrelaxantien sowie Medikamente, die außerhalb der Zulassung für COVID-19 verwendet werden“, heißt es in der entsprechenden Mitteilung. Weiter werden die Hintergründe erläutert:


Die Zahl der Arzneimittelengpässe hat in den letzten Jahren zugenommen, und das Problem wird bei dieser Pandemie durch viele verschiedene Faktoren verschärft. Zum Beispiel durch die Schließung von Fabriken aufgrund von Quarantäne, logistische Probleme aufgrund von Grenzschließungen, Ausfuhrverboten, Sperren in Drittländern, die Arzneimittel in die EU liefern, eine erhöhte Nachfrage aufgrund der Behandlung von COVID-19-Patienten, die Bevorratung in bestimmten Krankenhäusern, aber auch die individuelle Bevorratung durch Bürger und auf Ebene der Mitgliedstaaten“

Pressemitteilung der EMA


Dieser Situation soll nun mit einem neuen Meldesystem begegnet werden: „i-SPOC (industry single point of contact).“ Gemeinsam mit der pharmazeutischen Industrie befinde sich dieses System gerade im Aufbau, über das in Zukunft (erwartete) Engpässe direkt an die EMA kommuniziert werden sollen – allerdings nur für Arzneimittel, die im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie benötigt werden. Weiterhin sollen die Engpässe von den Firmen parallel an die nationalen Behörde kommuniziert werden. 

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Neben weiteren Maßnahmen prüfe die EMA momentan auch, ob regulatorische Vorschriften während der Pandemie flexibler angewandt werden könnten, um die Versorgung mit kritischen Medikamenten zu sichern. Weitere Informationen sollen in einem Frage-und-Antwort-Dokument zur Verfügung gestellt werden, das derzeit entwickelt werde.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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