Neue Studienergebnisse

NRW will Medikamentenversuche an Heimkindern weiter aufarbeiten

Berlin - 23.03.2020, 17:45 Uhr

Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt sich für eine Weiterführung der Aufklärung von Medikamentenversuchen an Heimkindern in NRW in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe ein. (t/Foto: imago images / Schneider)

Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt sich für eine Weiterführung der Aufklärung von Medikamentenversuchen an Heimkindern in NRW in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe ein. (t/Foto: imago images / Schneider)


Ergebnisse der Wagner-Studien

Die Pharmakologin Sylvia Wagner sorgte bundesweit mit ihrer Studie und ihrer Dissertationsarbeit für viel Aufmerksamkeit. Vielfach wurde sie zitiert und die Thematik wurde medial aufgegriffen. Auch die Politik konnte sich nicht entziehen und nahm, wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen, diese Arbeit Wagners zum Anlass, eigene Studien in Auftrag zu geben.

Die Ergebnisse der Wagner-Studien sind – im negativen Sinne – beeindruckend. Die Pharmakologin konnte mittels ihrer Untersuchungen rund 80 an Heimkindern durchgeführte Arzneimittelstudien nachweisen. Diese Studien seien zumindest teilweise mit Wissen oder im Auftrag von Behörden erfolgt. Wagner habe für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgänge Publikationen in Fachzeitschriften ausgewertet und zudem teilweise Zugang zu Archiven beteiligter Pharmafirmen und auch der betroffenen Einrichtungen gehabt. Getestet wurden beispielsweise Impfstoffe, Psychopharmaka und Medikamente zur Senkung der Libido. Wagner habe zudem keine Einwilligung der Betroffenen bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter zu diesen Arzneimitteltestungen finden können.

Wagner beschreibt ihre Ergebnisse in ihrer Dissertationsschrift aus dem Jahre 2019 wie folgt: „Die Rechercheergebnisse zeichnen ein bedrückendes Bild, das sich aus einer medizinisch nicht indizierten Ruhigstellung von Kindern und Jugendlichen zum Teil über Jahre und mit deutlich erhöhten Psychopharmaka-Dosen, der Anwendung triebdämpfender Mittel und der Nutzung  von Heimkindern für Arzneimittelprüfungen zusammensetzt.“

Situation der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland

Die Situation in der damaligen Zeit ist nicht vergleichbar mit der heutigen. Die Auswirkungen des Heimsystems für die Betroffenen aber bis heute präsent. Wagner schreibt dazu: „Die ärztlichen Maßnahmen stellen neben den im deutschen Heimsystem bekannten körperlichen, psychischen und sexuellen Gewaltformen eine weitere Form von Gewalt, eine medikamentöse Gewalt, dar. Dabei wurden Menschen zu Objekten medizinischer Forschung unter Missachtung rechtlicher und ethischer Bestimmungen.“

Viele ehemalige Heimkinder leiden bis heute an den Spätfolgen der Missstände in den damaligen Einrichtungen. Im betreffenden Zeitraum lebten bis zu 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen (Quelle: Runder Tisch Heimerziehung der Bundesregierung). In den 1950er und 60er Jahren wurde unterschieden zwischen der Betreuung von Waisenkindern und von verlassenen beziehungsweise sozial verwaisten Kindern. Diese Betreuung fand im Rahmen der „Minderjährigen-Fürsorge“ statt.

Sogenannte „verwahrloste Kinder und Jugendliche“ wurden  in der „Fürsorgeerziehung“ „diszipliniert“. Aus heutiger Sicht ist besonders der Blickwinkel, unter dem eine „Verwahrlosung“ bescheinigt wurde, sehr befremdlich. Von „Verwahrlosung“ wurde gesprochen zum Beispiel bei „Unordnung, Ungehorsam, Schule schwänzen, Frechheit, Bockigkeit, Jähzorn, Unehrlichkeit, Kriminalität, Vagabondage, Genussleben, Prostitution, aber auch das Tragen eines zu kurzen Rockes oder das Hören lauter Musik“ (Quelle: Abschlussbericht Runder Tisch Heimerziehung).



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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