Lieferengpass bei Venlafaxin (Teil 3 von 3)

So „relevant“ ist Venlafaxin

Stuttgart - 06.01.2020, 06:59 Uhr

Depressionen sind keine seltene Bagatellerkrankung. Sie nehmen nach Schätzungen der WHO zu. (b/Foto: Jorm S / stock.adobe.com)

Depressionen sind keine seltene Bagatellerkrankung. Sie nehmen nach Schätzungen der WHO zu. (b/Foto: Jorm S / stock.adobe.com)


Eines der Ergebnisse des letzten Jour fixe beim BfArM war, dass Venlafaxin „kein versorgungsrelevanter Engpass“ ist. Klar ist Venlafaxin nicht das einzige Antidepressivum auf weiter Flur. Klar ist aber auch: Die Indikation von Venlafaxin, schwere Depressionen, ist durchaus relevant – auch hinsichtlich Komorbiditäten wie Diabetes und einer kürzeren Lebenserwartung. Von volkswirtschaftlichen Effekten, Therapiekosten und Arbeitsunfähigkeiten beispielsweise, ganz zu schweigen.

Mit dem Lieferengpass von Venlafaxin beschäftigten sich die Teilnehmer des Jour fixe beim BfArM im vergangenen November. Das Ergebnis der Tagung veröffentlichte die Behörde im Dezember auf ihrer Seite. Das Fazit: kein „versorgungsrelevanter“ Engpass. Wörtlich zu lesen ist dort: „Venlafaxin: Wirkstoff ist nicht Bestandteil der Liste versorgungsrelevanter Wirkstoffe. Einige Arzneimittel sind nicht oder nur eingeschränkt verfügbar. Ein Lieferabriss ist nach Kenntnis des BfArM nicht eingetreten.“

Zur Erinnerung: Versorgungsrelevanz im Sinne der Behörde erlangt ein Wirkstoff dann, wenn er verschreibungspflichtig ist und für die Gesamtbevölkerung relevant. Venlafaxin ist also laut BfArM „nicht versorgungsrelevant“, aber Depressionen sind durchaus relevant in der Versorgung.

Depressionen sind relevant

Nun sagen die Teilnehmer des Jour fixe beim BfArM nicht, Depressionen seien keine relevante Erkrankung. Sie sprechen von einem Wirkstoff, den sie für diese Erkrankung nicht als versorgungsrelevant einstufen. Klar ist auch, Venlafaxin ist nicht das einzige Arzneimittel, das zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden kann. Es gibt zahlreiche andere Wirkstoffe, den Wirkmechanismus als Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) teilt sich Venlafaxin mit Duloxetin und Milnacipran. Letzteres ist erst seit 2016 zugelassen, einziger Anbieter ist Neuraxpharm mit Milnaneurax®. Allerdings sind depressive Patienten teils eine enorme therapeutische Herausforderung. Zudem sind Depressionen weder sonderlich selten noch eine Bagatelle – was Zahlen der 2015 veröffentlichten Leitlinie zu Unipolaren Depressionen veranschaulichen.

Depressionen verkürzen die Lebenszeit

Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt bei 16 bis 20 Prozent. Depressionen sind kein leicht zu therapierendes Gebiet: Etwa ein Drittel aller Patienten sprechen nicht ausreichend auf das primär eingesetzte Antidepressivum an, mehr als die Hälfte der Patienten haben auch nach acht Wochen antidepressiver Behandlung keine Vollremission erreicht. Zudem erweist sich jeder fünfte Patient mit einer schweren Depression (Major Depression) als therapieresistent, was laut Fachkreisen dann der Fall ist, wenn zwei oder mehr Medikationsversuche mit Antidepressiva erfolglos geblieben sind.

Zudem sind psychische Erkrankungen – somit auch Depressionen – Studien zufolge mit einer doppelt so hohen Sterblichkeit assoziiert wie in der Allgemeinbevölkerung. Dabei sind zwei Drittel der Todesursachen natürlich, das heißt: Dem Tod liegt kein Selbstmord zugrunde. 

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Diese „natürliche“ Übersterblichkeit bei schweren psychischen Störungen führen Wissenschaftler laut einer großen Untersuchung anhand von deutschen GKV-Krankenkassendaten („Mortalität und somatische Komorbidität bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen“, veröffentlicht 2019 im Ärzteblatt) auf bestimmte körperliche Erkrankungen zurück, die gehäuft gemeinsam mit psychischen Erkrankungen auftreten (somatische Komorbidität): So seien bösartige Neubildungen bei schweren unipolaren Depressionen besonders stark erhöht, daneben gehörten Adipositas, Diabetes, Herz- und Gefäßerkrankungen, COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung), Lungenentzündung und Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis zu Begleiterkrankungen. Patienten mit unipolaren Depressionen (es fehlt eine wahnhafte Komponente) sterben – je nach Alter und Geschlecht – zwischen 2,6 und 4,8 Jahre früher als Vergleichsgruppen in der Allgemeinbevölkerung.

WHO: Depressionen gehören zu den wichtigsten Volkskrankheiten

Eine klare Meinung – nicht zu Venlafaxin im Speziellen, aber zur Erkrankung, bei der Venlafaxin eingesetzt wird – offenbart die Leitlinie zu Unipolaren Depressionen. Sie spiegelt hier die Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wider: „Depressive Störungen haben unter den psychischen Störungen eine besonders hohe Bedeutung für die Gesundheitsversorgung. Nach einer WHO-Studie zählen depressive Störungen zu den wichtigsten Volkskrankheiten und werden in den nächsten Jahren noch deutlich an Bedeutung zunehmen. Eine Maßeinheit ist hierbei besonders relevant: Der Indikator „Disability-adjusted Life Years“ (DALYs) erfasst die Summe der Lebensjahre, die durch Behinderung oder vorzeitigen Tod aufgrund einer Erkrankung verloren gehen. Die Zahlen werden dabei aufgrund regionaler epidemiologischer Befunde auf die Weltbevölkerung extrapoliert. Hierbei nahmen unipolare depressive Störungen 2004 den dritten Rang ein, was ihre Bedeutung unter allen weltweiten Erkrankungen auf Lebensbeeinträchtigung und vorzeitigen Tod angeht. Die WHO geht darüber hinaus davon aus, dass unipolare Depressionen bis 2030 unter den das Leben beeinträchtigenden oder verkürzenden Volkskrankheiten insgesamt die größte Bedeutung vor allen anderen Erkrankungen haben werden.

Antidepressiva wirken am besten bei schweren Depressionen

Laut Analyse der an der Leitlinie beteiligten Wissenschaftler zeigen Antidepressiva in Studien von maximal zwölf Wochen Dauer eine 50-Prozent-Response-Rate (Verbesserung der Depression um 50 Prozent) zwischen meist 50 und 60 Prozent. Unter Placebo erreichen eine 50-prozentige Verbesserung meist 25 bis 35 Prozent der Patienten. Antidepressiva sind den Experten zufolge eher überschätzt in der Bevölkerung, Das führen sie darauf zurück, dass Studien, in denen Antidepressiva Placebo überlegen waren, häufiger publiziert würden. 

Wirksamkeitsvorteile zeigen Antidepressiva vor allem bei mittelschweren bis schweren Depressionen, unter anderem eine Indikation von Venlafaxin. Hier sei „der Wirkunterschied zwischen Antidepressiva und Placebo ausgeprägter, da bei den schwersten Formen bis zu 30 Prozent der behandelten Patienten über die Placebo-Rate hinaus von Antidepressiva profitieren“, so die Leitlinie.

Direkte und indirekte Kosten durch Depressionen

„Hohe direkte und indirekten Kosten, die durch Depression verursacht werden, weisen auf die hohe gesellschaftsökonomische Relevanz der Erkrankung hin“, erklären die Leitlinien-Experten. So hätten depressive Arbeitnehmer mit 6,1 Tagen wesentlich mehr Arbeitsunfähigkeitstage im Monat als nicht depressive Arbeitnehmer (1,7 Tage). Zudem reduziere neben der allgemeinen Antriebsstörung auch eine verminderte Konzentration die berufliche Leistungsfähigkeit. Die direkten Kosten der Depressionen, das heißt die Inanspruchnahme von medizinischen Heilbehandlungen, Präventions-, Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen, lagen nach Zahlen in der Leitlinie im Jahr 2008 bei etwa 5,2 Milliarden Euro und machten somit fast ein Fünftel aller durch psychische Erkrankungen verursachten Kosten in Höhe von 28,7 Milliarden Euro aus. Davon entfielen mehr als die Hälfte (2,9 Milliarden Euro) auf stationäre Maßnahmen. 

Wer bekommt Venlafaxin?

Patienten, die Venlafaxin verordnet bekommen, dürften eher – zumindest wenn sie nach Leitlinie therapiert werden – unter mittelschweren bis schweren Depressionen leiden. Bei leichten Depressionen kommen Antidepressiva nur unter bestimmten Voraussetzungen zum Einsatz: Wenn die Symptomatik nach anderen Interventionen fortbesteht oder vorausgegangene depressive Episoden zumindest mittlerer Schwere oder der ausdrückliche Wunsch des Patienten den Einsatz von Antidepressiva auch in dieser Indikation nahelegen. 

Auch die Zulassung von Venlafaxin gibt gute Hinweise auf die Patienten in der Apotheke: Venlafaxin mit verzögerter Freisetzung (retardiert) wird eingesetzt zur Behandlung von Episoden einer Major Depression (schwere Depression), Rezidivprophylaxe von Episoden einer Major Depression, zur Behandlung der generalisierten Angststörung und der sozialen Angststörung sowie zur Behandlung der Panikstörung, mit oder ohne Agoraphobie (Platzangst). Die schnellfreisetzenden Tabletten sind lediglich indiziert zur Behandlung von Episoden einer Major Depression und werden zur Vorbeugung des Wiederauftretens neuer depressiver Episoden (Rezidivprophylaxe) eingesetzt.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Venlafaxin

von Carmen Müller-Pick am 04.02.2020 um 18:08 Uhr

Auch ich nehme seit 2006 durchgehend Antidepressiva, nach starken Nebenwirkungen bei
cimbalta ist auf venlafaxin 75 ret umgestiegen worden und ich fühle mich damit gut. Vergesse ich das Medikament mal 3 Tage, sei es dass der Arzt Urlaub hatte oder sonstiges, bin ich sehr schnell ganz unten und nur am weinen.
Letzten Monat gab es keine, Gott sei Dank hatte ich noch eine kleine Reserve. Aber jetzt habe ich die letzten 10 Stück und frage mich wie ich herausfinden kann wo noch welche zu haben sind

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Venlafaxin Lieferengpass

von Kai Fiedler am 28.01.2020 um 14:58 Uhr

Ich nehme Venlafaxin retard 75 mg, seit 2006 täglich ein. Ich bin seit dieser Zeit Depressions-, und Angstfrei. Ich hatte keine Rückfälle mehr, wie vorher mit anderen Medikamenten. Ich bin gut eingestellt und gehe Vollzeit arbeiten. Wenn da Medikament nicht mehr lieferbar ist, werde ich auf unbestimmte Zeit nicht mehr arbeiten können. Das wird meine Chefin nicht erfreuen, da ich im ambulanten Pflegedienst arbeite, wo jede Kraft gebraucht wird. Ich bin dafür, das Venlafaxin auf die Dringlichkeitsliste gehört, denn es hat sehr starke Absatzerscheinungen und kann nur langsam ausgeschlichen werden. Und es gibt keine relewande Alternative ! Kai Fiedler / Sachsen

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