Politische Erpressungsversuche

Estland: Großhandelseigene Ketten wollen Apothekenreform kippen

Remagen - 26.11.2019, 08:59 Uhr

Muss aufgrund eines Gesetzes, das in Estland am 1. April 2020 in Kraft tritt, etwa die Hälfte aller Apotheken schließen? ( r / Foto: dpa)

Muss aufgrund eines Gesetzes, das in Estland am 1. April 2020 in Kraft tritt, etwa die Hälfte aller Apotheken schließen? ( r / Foto: dpa)


Der estnische Apothekenmarkt steuert derzeit auf eine bedenkliche Zerreißprobe zu. Ab dem 1. April 2020 treten dort gesetzliche Änderungen in Kraft, die dazu führen könnten, dass mehr als die Hälfte der Apotheken des Landes schließen muss. Die Politik steht unter Druck.

Nach einer Änderung des Apothekengesetzes aus dem Jahr 2015 dürfen in Estland ab dem 1. April 2020 nur noch Apotheken betrieben werden, deren Eigentumsanteile mehrheitlich in den Händen eines Apothekers liegen, der diese auch selbst leitet. Außerdem soll die Trennung der Apothekendienstleistungen von Pharmaherstellern und -großhändlern durchgesetzt werden (Verbot der vertikalen Integration). Weiterhin dürfen öffentlich Apotheken in Städten mit mehr als 4000 Einwohnern keine Filialapotheken mehr haben.

Von der Unabhängigkeit in die Kette

Mit diesen umwälzenden Maßnahmen soll in Estland ein professionelles, unabhängiges Apothekennetz geschaffen werden. Nach Erlangung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion waren die estnischen Apotheken Anfang der 90er Jahre privatisiert worden, durften aber zunächst nur von Apothekern betrieben werden. Ab 1996 folgte eine vollständige Deregulierung des Marktes, die zu einer raschen Konzentration führte, wobei großhandelseigene Ketten das Regiment übernahmen.

Mehr als 300 Apotheken von der Schließung bedroht

Obwohl der fünfjährige Übergangszeitraum für die Anwendung der Neuregelungen nun so gut wie abgelaufen ist, gehören von den knapp 500 Apotheken (darunter 150 Filialapotheken) weiterhin lediglich maximal 200 mehrheitlich oder vollständig Pharmazeuten. Den Esten läuft die Zeit davon, vor allem, weil die großen, marktbeherrschenden Ketten die Umsetzung zu boykottieren scheinen. Ihre Interessen vertritt der estnische Apothekenverband (EAÜ), zu dem unter anderem Terve Pere Apteek, Euroapteek, Pharma Group mit den Marken Heart Pharmacy und Benu Apteek Eesti gehören. Sollte die Regierung nicht einlenken, so wären ab dem 1. April nächsten Jahres mehr als 300 Apotheken in ganz Estland von der Schließung bedroht, mit fatalen Konsequenzen für die Arzneimittelversorgung, lässt der Verband in der Presse verbreiten. 

Hintergründe zum Apothekenwesen in Estland in der DAZ

Keine Krisenpläne oder Folgenabschätzungen

Der Verband beschuldigt das zuständige Sozialministerium der Untätigkeit. Das Ministerium habe den Apothekern keine ernsthafte Unterstützung beim Erwerb von Apotheken gewährt, so der Vorwurf. Es gebe gar nicht genügend Apotheker, die finanziell dazu in der Lage seien, die Apotheken zu kaufen. Das Ministerium verfüge weder über Krisenpläne noch Folgenabschätzungen, die für ein so wichtiges Thema von grundlegender Bedeutung seien, kritisiert Timo Danilov, Mitglied der Geschäftsführung des EAÜ. Das Sozialministerium erhebt seinerseits Vorwürfe gegen den Verband. Dessen Verhalten sei inakzeptabel und verantwortungslos: „Der estnische Apothekenverband führt Menschen in die Irre und sät ungerechtfertigte Befürchtungen“, wird die Generalsekretärin des Sozialministeriums Marika Priske zitiert. Sein einziges sei es, das estnische Parlament (Riigikogu) zu beeinflussen.

Hat der Sozialminister die Lage unterschätzt?

Tatsächlich versucht der Interessenverband der Kettenapotheken seit geraumer Zeit der Politik mit Streiks und öffentlicher Stimmungsmache Daumenschrauben anzulegen und eine Umkehr der Gesetzeslage herbeizuführen. Mitte September hatte der EAÜ ein Memo an den Sozialausschuss des Parlaments geschickt, um auf eine mögliche bevorstehende Krise beim Zugang zu Arzneimitteln aufmerksam zu machen. 

In einer Fragestunde im Riigikogu räumte Sozialminister Tanel Kiik Anfang November ein dass die Abgabe der Apotheken „zu fairen Preisen“ sich offenbar als Hindernis für den Fortgang der Reform erwiesen habe. Kiik könnte sich vorstellen, dass die Umstellung nun schrittweise nach Regionen erfolgen könnte, um einen reibungsloseren Übergang zu ermöglichen. Die staatliche Arzneimittelbehörde (Ravimiamet) hat eine Kartierung erstellt, aus der hervorgeht, wie viele Apotheken in der Region von einer Schließung bedroht sein könnten. 

Kettenapotheker wollen Status quo beibehalten

Der Verband der Kettenapotheker hat indessen Änderungsvorschläge zur Apothekenreform eingereicht, die im kommenden Frühjahr in Kraft treten sollen. Die estnische Apothekerkammer, die gemeinsam mit den unabhängigen Apothekern voll hinter der Reform steht, gibt sich nach einer kürzlichen Krisensitzung gesprächsbereit. Demgegenüber lehnt die staatliche Arzneimittelbehörde Ravimiamet die Ideen kategorisch ab.

Die Umsetzung dieser „sogenannten Kompromissvorschläge“ würde die Position der Großhändler und Apothekenketten weiter erheblich stärken, glaubt die Behörde. Unter anderem will der Verband, dass die derzeit existierenden Apothekenketten in den Händen der Großhändler bleiben dürfen, in Zukunft jedoch nur Apotheker neue Apotheken eröffnen könnten, aus der Sicht der Ravimiamet im Wesentlichen eine Aufrechterhaltung des Status quos.

Die Regierung, die die Vorschläge der EAÜ am Mittwoch dieser Woche diskutieren will, wird sich langsam etwas einfallen lassen müssen, wenn sie verhindern will, dass die Reform am Ende doch am Widerstand der übermächtigen großhandelseigenen Ketten scheitert.

Ein Lehrstück: Der Weg zurück ist schwer und dornig

Die Entwicklung in Estland sollte auch für andere Regierungen, die sich mit dem Gedanken tragen, die Unabhängigkeit der öffentlichen Apotheken mit Blick auf „mehr Wettbewerb“ inklusive erhoffter Kosteneinsparungen in der Arzneimittelversorgung hintenanzustellen, ein Warnzeichen sein. Selbst fünf Jahre haben dort nicht ausgereicht, um das System zurückzudrehen, nachdem die Gesundheitspolitik ein Einsehen hatte und erfreulicherweise ihr klares Credo für ein von Fremdeinflüssen unabhängiges Apothekensystem in Estland abgegeben hat. Auch die Apotheker, die in den Kettenapotheken ihren Dienst tun, müssen umdenken und Verantwortung übernehmen. Das geht offensichtlich nicht von selbst, von den finanziellen Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, ganz zu schweigen. Der Staat wird nachlegen müssen, um die Abkehr von der totalen Deregulierung mit einer absehbaren Zeitperspektive im Markt durchzusetzen. Vorübergehende Zugeständnisse an die derzeitigen „Platzhirsche“ könnten im Interesse der Patienten unausweichlich sein.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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