Venöse Thromboembolien unter kombinierten hormonellen Kontrazeptiva

Macht Qlaira weniger Thrombosen als andere Pillen?

Stuttgart - 11.11.2019, 07:00 Uhr

Eine abschließende Bewertung der Thrombosegefahr unter Qlaira ist aufgrund mangelnder Datenlage nicht möglich, doch eine große Studie liefert Hinweise, dass Qlaira in der gleichen Größenordnung liegt, wie LNG-haltige KOK. (m / Foto: pix4U / stock.adobe.com)

Eine abschließende Bewertung der Thrombosegefahr unter Qlaira ist aufgrund mangelnder Datenlage nicht möglich, doch eine große Studie liefert Hinweise, dass Qlaira in der gleichen Größenordnung liegt, wie LNG-haltige KOK. (m / Foto: pix4U / stock.adobe.com)


Hormonelle Kontrazeptiva mit Ethinylestradiol und Dienogest bergen ein „leicht erhöhtes“ Risiko für venöse Thromboembolien im Vergleich zu kombinierten oralen Kontrazeptiva, die auf Ethinylestradiol und Levonorgestrel setzen. Doch wie sieht es eigentlich bei Pillen aus, die Estradiolvalerat und Dienogest kombinieren, wie Qlaira? Eine abschließende Bewertung ist derzeit zwar nicht möglich, doch lassen Daten der großen prospektiven INAS-SCORE-Studie zumindest eine grobe Einordnung zu.

Orale hormonelle Kontrazeptiva bergen im Vergleich zur Nichtanwendung ein erhöhtes Risiko für venöse und arterielle Thromboembolien. Das größte Risiko besteht in den ersten drei Monaten nach Einnahmebeginn – dieser erhöhten Thrombosegefahr sind Anwenderinnen auch dann ausgesetzt, wenn sie nach einer mehr als vierwöchigen Pillenpause erneut mit KOK (kombinierte orale Kontrazeptiva) starten.

Estrogen: Risikofaktor für Thromboembolien

Die Erhöhung des Thromboembolierisikos durch KOK resultiert in erster Linie aus dem enthaltenen Estrogen, wobei die Gefahr in Abhängigkeit von Dosis und Wirkstärke des Estrogens steigt. Dieses Thromboserisiko kann jedoch durch verschiedene Gestagenkomponenten unterschiedlich beeinflusst werden. Bereits 2013/14 bewertete die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) alle weltweit verfügbaren Daten, inwieweit das Thromboserisiko von neueren Präparaten im Vergleich zu Pillen mit dem als Referenz festgelegten älteren Gestagen Levonorgestrel (LNG) höher ist. Wichtig ist: Auch KOK mit Levonorgestrel sind nicht frei von Thromboserisiken, sie werden nur mit dem geringsten VTE-Risiko assoziiert – ebenso Pillen, die Ethinylestradiol (EE) mit Norgestimat oder Norethisteron kombinieren.

VTE-Risiko von KOK

Die geschätzte Inzidenzrate einer VTE (venöse Thromboembolie) liegt bei nichtschwangeren Frauen, die keine KOK einnehmen, bei 2 VTE pro 10.000 Frauen und Jahr. Bei Frauen, die mit Ethinylestradiol plus Levonorgestrel oder Norgestimat oder Norethisteron verhüten, liegt die Inzidenz bei 5-7 VTE pro 10.000 Frauen und Anwendungsjahr. Das bedeutet: Von 10.000 Frauen erleiden 2 ohne Pille und 5 bis 7 mit den oben genannten Hormonen innerhalb eines Jahres eine venöse Thromboembolie.

Bislang eingestuft hinsichtlich ihres Thromboembolierisikos sind die Kombinationen Ethinylestradiol plus Gestoden, Desogestrel, Drospirenon: 1,5-2-fach erhöhtes Risiko (mit 9-12 VTE pro 10.000 Frauen und Anwendungsjahr) für eine VTE im Vergleich zur Referenz EE/LNG. Etonorgestrel und Norelgestromin jeweils kombiniert mit Ethinylestradiol bergen mit 6-12 VTE pro 10.000 Frauen und Anwendungsjahr ein 1-2-fach erhöhtes Risiko einer VTE im Vergleich zur Referenz EE/LNG.
Dienogest liegt bei einem 1,6-fach größeren Risiko einer VTE (mit 8-11 VTE pro 10.000 Frauen und Anwendungsjahr).

Dienogest: „leicht erhöhtes Risiko“ verglichen mit Levonorgestrel

Relativ neu hinzugekommen bei der Einordnung der Thrombosegefahr ist Dienogest. „Eine Metaanalyse von vier Beobachtungsstudien kam zu dem Ergebnis, dass kombinierte hormonale Kontrazeptiva (KHK), die Dienogest und Ethinylestradiol (DNG/EE) enthalten, mit einem leicht erhöhten Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) assoziiert sind im Vergleich zu KHK, die Levonorgestrel und Ethinylestradiol (LNG/EE) enthalten“, informierten die Hersteller ethinylestradiol- und dienogesthaltiger oraler Kontrazeptiva im Dezember 2018 in Abstimmung mit dem BfArM in einem Rote-Hand-Brief zum Risiko venöser Thromboembolien von dienogest- und ethinylestradiolhaltigen Kontrazeptiva.

Dieses „leicht erhöht“ bezifferten sie mit einem 1,6-fach größeren Risiko einer VTE (8-11 VTE pro 10.000 Frauen und Anwendungsjahr) im Vergleich zur Referenz Ethinylestradiol plus Levonorgestrel. Allerdings: Diese Werte gelten nur für den Estrogenpartner Ethinylestradiol – jedoch ist Ethinylestradiol nicht die einzige Kombinationsmöglichkeit für Dienogest.

Qlaira: ähnliches oder niedrigeres VTE-Risiko?

Bayer kombiniert in Qlaira® Dienogest mit Estradiolvalerat, einem natürlichen Estrogen. Wie sieht es hier mit der Thromboemboliegefahr aus? 2012 erklärten die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin (DGGEF) e. V. und der Berufsverband der Frauenärzte (BVF) e.V. in ihrer Stellungnahme „Kontrazeption & Thrombophile“ zur Risikobewertung von KOK mit Estradiol oder Estradiolvalerat: „Im Vergleich zu ethinylestradiolhaltigen Präparaten führen Estradiol und Estradiolvalerat zu geringerer Leberenzyminduktion und geringerer Beeinflussung der Hämostase. Zurzeit ist noch unklar, ob dieser theoretische Vorteil tatsächlich auch zu einer niedrigeren VTE-Inzidenz führt.“

Die Rote-Hand vom letzten Jahr ging auf Estradiolvalerat nicht ein, die Information betraf ausschließlich Dienogest-Kombinationen mit Ethinylestradiol. Anders die schweizerische Arzneimittelbehörde Swissmedic. Sie veröffentlichte in ihren „Wichtigen Mitteilungen zur Arzneimittelsicherheit“ im Oktober dieses Jahres, dass es bei kombinierten oralen Kontrazeptiva mit Dienogest in Bezug auf Thromboembolien mittlerweile auch „begrenzte Daten zu KHK mit Dienogest/Estradiolvalerat (Qlaira®)“ gibt.

INAS-SCORE soll Thromboserisiko für Qlaira einschätzen

Qlaira® ist eine relativ neue Pille. Für die Kombination Estradiovalerat und Dienogest reichten in den ersten Jahren nach der Markteinführung von Qlaira® (Zulassung in Deutschland Januar 2009) die verfügbaren Daten zu einer finalen Aussage des Thromboembolierisikos nicht aus, weshalb von den Behörden auf europäischer Ebene eine Phase-IV-Studie Studie unter Praxisbedingungen gefordert wurde, um auch das Risiko für VTE (und ATE, arterieller Thromboembolien) unter der Anwendung von Qlaira® zu beurteilen. Die INternational Active Surveillance study – Safety of COntraceptives: Role of Estrogens (INAS-SCORE) untersuchte KOK-Anwenderinnen mit Estradiolvalerat und Dienogest und Anwenderinnen anderer KOK, darunter auch eine Subgruppe, die mit Ethinylestradiol und Levonorgestrel verhütete. Von den 50.2013 (etwa 20.000 USA, 30.000 Europa) Neuanwenderinnnen von KHK (Erstanwendung, Wechsel, Wiederaufnahme) nahmen 20,3 Prozent Qlaira®, 79,7 Prozent andere KOK; das Follow-up umfasste 105.761 Anwendungsjahre (73.174 Europa, 32.586 USA).


Ein KOK mit DNG und EV ist mit einem ähnlichen oder sogar niedrigeren kardiovaskulären Risiko verbunden als KOK mit Levonorgestrel oder anderen Gestagenen.“

Implication Statement der Wissenschaftler der Studie „Impact of estrogen type on cardiovascular safety of combined oral contraceptives“, publiziert 2016 in Contraception


Eine erste Zwischenauswertung von INAS-SCORE gab es bereits 2016, publiziert unter „Impact of estrogen type on cardiovascular safety of combined oral contraceptives“ in Contraception. INAS-SCORE wurde mittlerweile beendet und die finalen Ergebnisse 2018 den Behörden mitgeteilt. 

Schon 2016 erklärten die Wissenschaftler anhand der Intermediärdaten: „Ein KOK mit DNG und EV ist mit einem ähnlichen oder sogar niedrigeren kardiovaskulären Risiko verbunden als KOK mit Levonorgestrel oder anderen Gestagenen.“

Qlaira: 7,1-7,2 VTE auf 10.000 Frauen pro Jahr

Auf diese Daten von INAS-SCORE bezieht sich auch Swissmedic jetzt. So erklärt die schweizerische Arzneimittelbehörde zu Dienogest/Estradiolvalerat – Qlaira®: „Begrenzte Daten einer prospektiven Studie legen nahe, dass unter DNG/EV das VTE-Risiko in der gleichen Größenordnung sein könnte wie jenes anderer KHK, einschließlich LNG-haltiger KHK“. Es sei jedoch nicht bekannt, ob Qlaira® zu den KHK mit dem geringsten VTE-Risiko gehöre, so Swissmedic.

Die adjustierte Hazard Ratio (aHR), vor allem nach Alter der Anwenderinnen angepasst, gibt die schweizerische Behörde für das VTE-Risiko unter DNG/EV verglichen mit der Gesamtheit aller anderen KHK (einschließlich LNG/EE) mit 0,4 an (95-Prozent‑KI 0,2 bis 0,9) und für den Vergleich von EV/DNG mit der Subgruppe LNG/EE ebenfalls mit 0,4 (95-Prozent‑KI 0,2 bis 1,1).

Bedeutet ein aHR von 0,4 aber dann nicht, dass Qlaira® sogar weniger Thrombosen verursacht als die Referenz Ethinylestradiol und Levonorgestrel? Und wie hoch war eigentlich die absolute Zahl an aufgetretenen Thrombosen unter Qlaira® in dieser Untersuchung?

DAZ.online hat bei Swissmedic und beim Qlaira®-Hersteller Bayer nachgefragt und um eine Einordnung gebeten.

Daten aus nur einer Studie!

Lässt die Hazard Ratio mit 0,4 tatsächlich die Aussage zu, dass Qlaira® weniger Thromboembolien macht und sicherer ist? Ganz so einfach ist es nach Ansicht von Swissmedic wohl nicht. Denn die geschätzten Werte des absoluten und relativen Risikos venöser Thromboembolien unter den verschiedenen kombinierten hormonellen Kontrazeptiva, wie sie in den Schweizerischen und Europäischen Arzneimittelinformationen der KHK wiedergegeben sind, basierten auf Schätzungen aus mehreren Studien. „Das Risiko von 0,4 für Dienogest (DNG)/Estradiolvalerat (EV) entspricht hingegen nur dem Ergebnis einer einzelnen Studie“, erklärt Swissmedic. Und weiter: „Wie valide die Daten dieser Studie sind, ist nicht abschließend beurteilbar.“


Die Daten der vorliegenden INAS-SCORE Studie zu Qlaira zeigen, dass das VTE-Risiko unter KHK, die DNG/EV enthalten, in der gleichen Grössenordnung liegen könnte wie unter anderen KHK, einschliesslich KHK mit LNG/EE.“ 

Swissmedic


Sowohl in der 2016 erschienen Zwischenauswertung als auch einem Kongressbeitrag von 2018 zu den finalen Ergebnissen wurden unter Qlaira® 7,2 (Zwischenauswertung 2016) beziehungsweise 7,1 VTE (Finalauswertung 2018) auf 10.000 Frauenjahre berichtet. Unter anderen KHK – inklusive levonorgestrelhaltiger Pillen – traten 9,1 (Zwischenauswertung 2016) beziehungsweise 8,1 (Finalauswertung  2018) VTE pro 10.000 Frauenjahre auf. In der Subgruppe, in der die Anwenderinnen nur ethinylestradiol- und levonorgestrelhaltige Kontrazeptiva einnahmen, kam es zu 9,9 beziehungsweise 8,8 (Finalauswertung 2018) VTE auf 10.000 Frauenjahre.

VTE-Risiko bei Levonorgestrel – KOK bislang unterschätzt?

Bayer erklärt die Ergebnisse so: „Aus diesen Daten resultiert mit einer adjustierten Hazard-Ratio (als Ausdruck des relativen Risikos) von 0,4 ein statistisch signifikant niedrigeres Risiko für venöse thromboembolische Ereignisse unter Qlaira® im Vergleich zu allen anderen KHK (inklusive LNG-haltige KHK).“ Jedoch sei der Unterschied zwischen Qlaira® und nur LNG-haltigen KHK allein betrachtet nicht statistisch signifikant gewesen, sodass für Qlaira® von einem VTE-Risiko ausgegangen wird, das in der gleichen Größenordnung wie das LNG-haltiger Präparate liege.

So bewertet auch die schweizerische Behörde die Zahlen: „Die Daten der vorliegenden INAS-SCORE Studie zu Qlaira® zeigen, dass das VTE-Risiko unter KHK, die DNG/EV enthalten, in der gleichen Größenordnung liegen könnte wie unter anderen KHK, einschließlich KHK mit LNG/EE.“ Die Power der Studie für einen Vergleich der Untergruppen DNG/EV und LNG/EE sei aber nicht ausreichend gewesen.

INAS-SCORE: 8-9 VTE unter Levonorgestrel-KOK statt 5-7

Was jedoch noch nachdenklich macht: In der INAS-SCORE-Studie wurde das absolute VTE-Risiko für LNG/EE-haltige KHK höher, das heißt auf 8-9 Fälle pro 10.000 Frauenjahre, geschätzt, und nicht wie sonst Standard, auf das jährliche Risiko von 5-7 Fällen pro 10.000 Frauen. Was sagt Bayer hierzu?

Referenzwerte für VTE überdenken?

„In neueren Studien kommt es regelmäßig vor, dass die Zahlen für LNG-haltige KHK über den 2014 festgelegten Angaben liegen. Als mögliche Gründe werden verbesserte diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer VTE sowie eine höhere Sensibilisierung für VTE im Allgemeinen, aber auch eine Zunahme an Risikofaktoren (Adipositas) diskutiert“, erklärt Bayer. Ob und inwieweit dies zu einer Aktualisierung der 2014 festgelegten Zahlen führen werde, hänge von weiteren Studienergebnissen ab und sei letztendlich die Entscheidung der EMA. Die von der EMA gewählte Darstellung diene der Veranschaulichung des absoluten Risikos sowie der Relation zwischen den einzelnen Gruppen, stelle jedoch nicht die tatsächlichen Daten in einzelnen Studien dar. Somit bilden nach Ansicht Bayers „die Ergebnisse direkter Vergleichsstudien zum relativen Unterschied einzelner KHK (...) die Voraussetzung für eine solche vergleichende Einordnung, wobei die Rate von 5-7 VTE pro 10.000 Frauenjahre von LNG-KHK jeweils als Bezugspunkt dient.“

Swissmedic kommt zu dem Schluss, dass mit den Resultaten der INAS-SCORE Studie das absolute und relative VTE-Risiko von KHK mit DNG/EV auch weiterhin nicht abschließend geschätzt werden kann und somit auch keine konkreten Werte angegeben werden, da die Datenlage mit einer einzelnen Studie dafür nach wie vor nicht ausreiche – zudem ohne ausreichende Power für die Analyse möglicher Unterschiede gegenüber einzelnen KHK wie insbesondere LNG-haltigen Präparaten.

Auch wenn keine finale Einordnung möglich ist, liefern die Zahlen zu VTE unter Qlaira® nun zumindest einen groben Sicherheitsrahmen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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