Arzneimittel-Lieferengpässe

Schweizer Klinikapotheker fürchten Exportverbot in Deutschland

Remagen - 01.11.2019, 14:14 Uhr

Enea Martinelli ist Chefapotheker der Schweizer Klinik FMI in Interlaken und Betreiber des Portals drugshortages.ch und beschäftigt sich viel mit Arzneimittel-Lieferengpässen. Er befürchtet, dass durch die Engpässe Mehrkosten entstehen könnten und warnt vor einem Exportverbot für seine deutschen Kollegen. (Foto: dpa)

Enea Martinelli ist Chefapotheker der Schweizer Klinik FMI in Interlaken und Betreiber des Portals drugshortages.ch und beschäftigt sich viel mit Arzneimittel-Lieferengpässen. Er befürchtet, dass durch die Engpässe Mehrkosten entstehen könnten und warnt vor einem Exportverbot für seine deutschen Kollegen. (Foto: dpa)


In der Schweiz scheint sich die Situation hinsichtlich Lieferengpässen weiter zuzuspitzen. Derzeit sollen rund 600 Medikamente fehlen. Das verursacht immense Mehrkosten, die aber keiner so richtig beziffern kann. Dem Klinikapotheker Enea Martinelli zufolge befürchtet man in der Schweiz außerdem, dass in Deutschland ein Exportverbot zum Tragen kommen könnte.

Nach Angaben von Enea Martinelli, Chef-Apotheker am Spital FMI in Interlaken, soll es in der Schweiz im Moment bei fast 600 Arzneimitteln Lieferengpässe geben. Das berichtet das Online-Portal des Schweizer Radio und Fernsehens (SRF). Martinelli weiß das ziemlich genau, denn er unterhält die Webseite „drugshortage.ch“. Besonders dramatisch ist, dass mittlerweile ganze Medikamentengruppen betroffen sein sollen, bei denen fast nichts mehr verfügbar sein soll. Dazu gehören laut Martinelli Epilepsie- und Parkinson-Medikamente. Auch Mittel gegen Bluthochdruck und Anti-Baby-Pillen würden knapp.

Ganze Therapien müssen umgestellt werden

„Die Situation ist extrem unangenehm und extrem aufwendig“, teilt Martinelli dem SRF mit. Er suche fast nur noch nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten. In seinem Spital würde jede Woche die Medikation von rund 400 Patienten verblistert. Fehle nun zum Beispiel ein Medikament, das etwa die Hälfte der Patienten erhält, was schon vorgekommen sei, so müssten in relativ kurzer Zeit rund 200 Verordnungen geändert werden. Nicht immer sei ein Austausch gegen ein Präparat mit gleichem Wirkstoff möglich. „Aktuell sind wir in der Situation, dass wir ganze Therapien umstellen müssen“, klagt der Krankenhausapotheker.

Exorbitante Mehrkosten

Obendrein sei die Ersatzmedikation meist wesentlich teurer als die eigentliche Behandlung. Wie exorbitant das ins Geld gehen kann, erklärt Martinelli am Beispiel von Vitamin K, das für Operationen an Patienten mit Blutverdünnern gebraucht wird. „Eine Ampulle Vitamin K kostet etwa 50 Rappen“, rechnet er dem SRF vor. Davon brauche man drei bis vier. Stehe kein Vitamin K zur Verfügung, so müsse auf Blutfaktoren ausgewichen werden, zum Preis von 1200 Franken für den gleichen Zweck.

Oxytocin für Kühe als Alternative

In einem Interview in der September-Ausgabe des „Amedis-Journals“ schildert Martinelli ein weiteres drastisches Beispiel aus der Praxis: Im letzten Jahr sei vor Weihnachten das Wehenmittel Syntocinon® mit dem Wirkstoff Oxytocin nicht mehr lieferbar gewesen. Mancherorts sei man in der Not auf das Veterinärpräparat umgestiegen. „Stel­len Sie sich einmal diese Situation vor“, sagt er in dem Interview. „Sie müssen zu einer Frau gehen, die am Gebären ist und ihr erklären, dass das Wehenmittel für Menschen nicht lieferbar ist, stattdessen bekommt sie nun das Mittel für Kühe.“

In der Not Präparate „gestreckt“

Seine Krankenhausapotheke habe sich das Humanarzneimittel zum Glück im Ausland besorgen können. Dafür habe aber ein Kollege mit dem Auto nach Frankreich fahren müssen, um dort ein paar Packungen abzuholen. Zwischenzeitlich habe man die vorhandenen Ampullen „gestreckt“ und aus einer jeweils zwei Fertigspritzen gemacht. So sei aus einer Ampulle, die normalerweise einen Franken kostet, ein Medikament von 10 Franken geworden. Unter dem Strich rechnet der Schweizer „Lieferengpass-Experte“ mit einigen zehn Millionen, wenn nicht über 100 Millionen Franken an Mehrkosten durch die Verknappungen. Die zuständigen Bundesämter könnten auf Anfrage nicht sagen, wie teuer die Medikamentenengpässe sind, schreibt das SRF.

Wer bekommt bei Engpässen etwas vom Kuchen und wer nicht?

Martinelli versucht in dem Interview auch zu erklären, wieso die Schweiz Probleme haben könnten, sich verknappte Wirkstoffe zu beschaffen. Er spricht von dem Verteilungskampf, der in solchen Situationen entstehe. Zuerst kämen diejenigen dran, bei denen sich der größte Erlös erwirtschaften lasse, das heißt große Länder mit viel Umsatz oder mit hohen Medikamentenpreisen. Bei der Ländergröße könne die Schweiz jedoch nicht mithalten, allenfalls bei den hohen Preisen. 

Exportverbot in Deutschland befürchtet

Die Schweizer treibt aber noch eine andere große Sorge um. Martinelli verweist darauf, dass immer mehr Länder versuchten, zur Bekämpfung von Versorgungsengpässen im eigenen Lande Exportverbote zu verhängen, wie zum Beispiel Belgien. In Belgien war ein solches Verbot eingeführt, dann aber gerichtlich verboten worden. Allerdings plant derzeit auch Österreich eine solche Einschränkung. Nun hat der Krankenhausapotheker mitbekommen, dass es auch in Deutschland Forderungen nach einem ein Exportverbot gebe.

Konkret bezieht er sich dabei auf eine Äußerung von Fritz Becker, Präsident des Landesapothekerverbands Baden-Württemberg. Becker hatte ein Exportverbot auf dem diesjährigen Deutschen Apothekertag (DAT) als „eine weitere, wirkungsvolle Maßnahme“, um Lieferengpässe nicht zu Versorgungsengpässen werden zu lassen, bezeichnet. Becker liegt damit auf einer Linie wie die Unionsfraktion: CDU/CSU im Bundestag hatten kürzlich ein Positionspapier zu Lieferengpässen beschlossen, in dem die Exportverbote unter gewissen Umständen gefordert werden.

„Wenn das passiert, haben wir ein Problem“, stellt der Schweizer Klinikapotheker Martinelli fest. „Trotz Therapieumstellungen und Anpassungen sind wir bereits heute von Importen aus Deutschland abhängig.“ 



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


Benjamin Rohrer, Chefredakteur DAZ.online
brohrer@daz.online


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