Nahrungsergänzungsmittel aus Jettingen-Scheppach

St. Martins-Apotheke soll mit „sofortiger Vollziehung“ schließen

Stuttgart - 18.10.2019, 17:45 Uhr

Vor selbst hergestellten Präparaten in blauen Plastikdosen mit Etiketten wie dem abgebildeten warnte das Landratsamt Günzburg im September 2019. (b/Foto: Landratsamt Günzburg)

Vor selbst hergestellten Präparaten in blauen Plastikdosen mit Etiketten wie dem abgebildeten warnte das Landratsamt Günzburg im September 2019. (b/Foto: Landratsamt Günzburg)


Dass selbst hergestellte Procain- und „Roter-Reisschalen-Extrakt“-Kapseln aus der St. Martins-Apotheke in Jettingen-Scheppach nicht eingenommen werden sollen, ist schon seit Anfang September bekannt. Die Kapseln werden aufgrund ihrer Dosierung als gesundheitlich bedenklich eingestuft, die strafrechtlichen Ermittlungen laufen noch. Nun hat das Landratsamt aber die sofortige Schließung der Apotheke angeordnet, allerdings nicht aufgrund der bedenklichen Inhaltsstoffe. 

Am 3. September 2019 rief das Landratsamt Günzburg dazu auf, selbst hergestellte Procain- und „Roter-Reisschalen-Extrakt“- Kapseln aus der St. Martins-Apotheke in Jettingen-Scheppach nicht mehr einzunehmen. Auch auf der Internetseite der Apotheke wurde die Warnung prominent auf der Startseite veröffentlicht. Selbiges gilt für die Rathausapotheke in Jettingen-Scheppach. Auf der Internetseite der Stauden-Apotheke in Langenneufnach ist aber keine solche Warnung zu sehen, doch auch sie vertrieb offenbar die vermeintlichen Nahrungsergänzungsmittel (NEM), die nun im Zentrum strafrechtlicher Ermittlungen stehen. Das Landratsamt war laut einem Bericht der Augsburger Allgemeinen Zeitung nach Hinweisen aus der Bevölkerung aktiv geworden. Es solle sich um ein Ehepaar und den Schwager des Inhabers der Martins-Apotheke handeln.

Von der Warnung im September waren ausdrücklich keine Fertigarzneimittel betroffen. Kunden der St. Martins Apotheke und Rathaus Apotheke aus Jettingen-Scheppach sowie der Stauden-Apotheke aus Langenneufnach sollten lediglich noch vorhandene, in den Apotheken selbst hergestellte (Defekturarzneimittel) bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle abgeben. Dennoch berichtete die Augsburger Allgemeine am vergangenen Donnerstag, dass die St. Martins-Apotheke in Jettingen-Scheppach nach derzeitigem Stand komplett schließen muss – also nicht nur keine Rezeptur oder Defektur mehr betreiben darf.

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Dem Bericht zufolge hat das Landratsamt Günzburg bereits am 20. September die Betriebserlaubnis widerrufen. Ein Sprecher des Landratsamts Günzburg erklärte DAZ.online gegenüber, dass der Apothekeninhaber zwar Klage gegen den Bescheid erhoben habe, sodass das Verwaltungsgericht nun über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs und damit der Schließung der Apotheke zu entscheiden hat. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Apotheke nach einer sechswöchigen Abwicklungsfrist ab Erhalt des Bescheids zunächst schließen muss. Die Klage des Apothekers habe im konkreten Fall nämlich keine aufschiebende Wirkung, erklärt der Sprecher des Landratsamts. Weil ein besonderes öffentliches Interesse bestehe, sei eine sofortige Vollziehung des Bescheids angeordnet worden. 

Allerdings: Das Landratsamt rechnet mit einem Eilantrag des Apothekers gegen den Sofortvollzug. Würde das Gericht diesem stattgegeben, müsse die Apotheke doch nicht schließen beziehungsweise könnte wieder öffnen.

Herstellungsbedingungen mit erheblichen Mängeln

Das Landratsamt lässt aber durchklingen, dass es durchaus genügend Beweise habe, die zeigen, dass der betroffene Apothekeninhaber nicht mehr zuverlässig und die Apotheken-Schließung somit gerechtfertigt ist. Wie die Pressestelle beim Polizeipräsidium Schwaben Süd/West im September mitteilte, hatte es bereits im Juli 2019 Durchsuchungen in den drei betroffenen Apotheken und in Privatanwesen durch die Kriminalpolizeiinspektion Neu-Ulm sowie das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) gegeben. Dabei wurden größere Mengen an Ausgangssubstanzen, Verpackungsmaterialien, Endprodukte sowie entsprechende Daten als Beweismittel sichergestellt.

Die Kapseln wurden aufgrund ihrer Dosierung zwar als gesundheitlich bedenklich eingestuft, doch das ist noch Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Der nun veranlasste Entzug der Betriebserlaubnis fällt unter das Verwaltungsrecht und beziehe sich vielmehr auf die vorgefundenen Herstellungsbedingungen als die Arzneimittel selbst, die Inhaltsstoffe der Präparate standen dabei nicht im Vordergrund, sagte der Sprecher des Landratsamts DAZ.online. 

Es gehe um das „Zuverlässigkeitsprinzip“ und die Durchsuchungen zu Hause sowie in den Apotheken hätten ausreichende Mängel ergeben, beispielsweise in punkto Hygiene. Mit Ergebnissen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist wohl erst im November/Dezember zu rechnen.

Procain: ein Geriatrikum? – Das gibt es nicht!

Konkret ging es bei den Präparaten um Roter Reisschalenextrakt, (Inhalt lt. Deklaration: Roter Reisschalenextrakt 300 mg) und Procain (Inhalt lt. Deklaration: Procain HCl 200 mg, Natriumascorbat ad 400 mg). Gegenüber der Augsburger Allgemeinen gab der beschuldigte Apotheker an, Procain sei früher als Mittel zum Einsatz gekommen, das den Kreislauf anregen soll, also als eine Art „Geriatrikum“. Procain fällt – mit Ausnahmen – aber unter die Verschreibungspflicht und mancher Apotheker wundert sich wahrscheinlich, warum man Procain oral einnehmen sollte. Die orale Einnahme erscheint bei einem Lokalanästhetikum nicht sinnvoll. Procainamid wird hingegen als Antiarrhythmikum der Klasse IA eingesetzt, laut Lauer-Taxe ist es aber nur noch in Ampullen in Spanien im Handel. 

In dem Buch „Mutschler Arzneimittelwirkungen“ (10. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, Seite 727) wird beschrieben, dass man unter Geriatrika Pharmaka versteht, die altersbedingte Beschwerden beseitigen und revitalisieren sollen: „Solche Mittel gibt es nicht“, steht dort aber ganz klar. Dies gelte für Präparate mit Procain genauso wie für solche, die Glutaminsäure, Orotsäure, Vitamine, Mineralsalze oder Kombinationen der genannten Stoffe enthalten. 

Wie könnte Procain gefährlich werden?

Wer in letzter Zeit die Medien verfolgt hat, dem dürfte nicht der tragische Fall aus einer Kölner Apotheke entgangen sein, in dem – wahrscheinlich ohne Vorsatz – ein Glucosetoleranz-Test auf Schwangerschaftsdiabetes mit dem Lokalanästhetikum Lidocain verunreinigt wurde und zum tragischen Tod einer Schwangeren und ihres per Notkaiserschnitt geborenen Kindes führte. DAZ.online hat sich mit der Toxizität von Lidocain bei oraler Aufnahme auseinandergesetzt. Zwar geht es um zwei gänzlich unterschiedliche Fälle – doch auch im hier geschilderten Fall geht es (neben einem NEM aus Roter Reisschalenextrakt) um die potenzielle Gefahr eines Lokalanästhetikums bei oraler Einnahme: In den Präparaten aus der St. Martins-Apotheke sind laut Deklaration 200 mg Procainhydrochlorid enthalten. Könnte die tatsächlich enthaltene Dosis zu hoch sein, und wenn ja, welche Gefahren drohen bei Überdosierung?

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Wie gefährlich ist Lidocain?

Der Fachinformation von Procain 1% / 2% Jenapharm® ist zu entnehmen, dass eine Procain-Intoxikation (ähnlich Lidocain) in zwei Phasen verläuft:

1. Stimulation

  • ZNS: Periorale Missempfindungen, Gefühl der tauben Zunge, Unruhe, Delirium, Krämpfe (tonisch-klonisch)
  • Kardiovaskulär: Herzfrequenz erhöht, Blutdruck erhöht, Rötung der Haut

2. Depression

  • ZNS: Koma, Atemstillstand
  • Kardiovaskulär: Pulse nicht tastbar, Blässe, Herzstillstand.

Procain 1 % / 2 % Jenapharm® wird intrakutan oder subkutan injiziert. Eine intravenöse Injektion darf nur in besonderen Einzelfällen nach sorgfältiger Abschätzung von Nutzen und Risiko erfolgen. Die empfohlene Maximaldosis bei einzeitiger Anwendung in Geweben, aus denen eine schnelle Aufnahme von Wirkstoffen erfolgt, beträgt laut Fachinfo 500 mg Procainhydrochlorid. Bei Anwendung im Kopf-, Hals- und Genitalbereich beträgt die empfohlene einzeitige Maximaldosis 200 mg Procainhydrochlorid (innerhalb von 2 Stunden). Das Anwendungsgebiet („zur lokalen und regionalen Nervenblockade in der Schmerztherapie und im Rahmen neuraltherapeutischer Anwendungsprinzipien“) ist dabei natürlich ein anderes als bei oralem Procain, das in einem (vermeintlichen) Nahrungsergänzungsmittel enthalten ist.

Einem Artikel der Pharmazeutischen Zeitung aus dem Jahr 2000 ist aber zu entnehmen, dass Procain auch nach oraler Gabe gut resorbiert wird. DAZ.online konnte leider keine genaueren Daten zur oralen Bioverfügbarkeit von Procain finden. 200 mg Procain scheinen in diesem Zusammenhang dennoch, jedenfalls in einem Nahrungsergänzungsmitel, nichts zu suchen zu haben. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Apotheker

von Ingrid manhardt am 19.10.2019 um 21:04 Uhr

Ich verstehe das ganze nicht ist doch niemand zu Schaden gekommen.
Ich kann nur dazu sagen hatte im Jahr 2017 depressionen und dann brustkrebs.
Herr lyhs hat mir sehr geholfen und wenn es nur ein Gespräch war.
Ich glaube einfach dass da missgunst dahinter ist und man ihm das nicht Vergönnt dass er so beliebt ist.
Was machen jetzt die Kunden wie ich wo keine geeigneten Medikamente wieder bekommen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Apotheker

von Cornelius Zink am 21.10.2019 um 15:27 Uhr

Sehr geehrte Frau Manhardt,

bisher scheint niemand zu Schaden gekommen zu sein. Allerdings legt der Inhalt des Artikels nahe, dass in den Apothekenräumen scheinbar sehr bedenkliche Zustände vorgefunden wurden. Mit etwas Pech könnten diese dazu führen, dass noch jemand zu Schaden kommt.

Die zuständige Behörde sollte hier natürlich vorsorglich eingreifen und nicht auf einen Schadensfall warten.
Ob Missgunst eine Rolle spielt oder nicht wird am Ende das Gericht bewerten müssen.

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