No-Deal-Szenarien beim Brexit

Regierung warnt vor Arzneimittel-Engpässen und Seuchen-Gefahr

Berlin - 12.09.2019, 11:30 Uhr

Der Industriehafen in Dover: Hier könnten laut Papieren der britischen Regierung ab Tag eins nach dem EU-Austritt chaotische Zustände drohen. (m / Foto: imago images / imagebroker)

Der Industriehafen in Dover: Hier könnten laut Papieren der britischen Regierung ab Tag eins nach dem EU-Austritt chaotische Zustände drohen. (m / Foto: imago images / imagebroker)


Auf Druck des Parlaments hat die britische Regierung ein internes Papier für den Fall eines No-Deal-Brexits veröffentlicht. Das publik gemachte Dokument enthält teils erschütternde Prognosen darüber, was bei einem ungeregelten EU-Austritt Großbritanniens passieren dürfte. Was die Gesundheitsversorgung betrifft, wird vor massiven Engpässen bei kühlpflichtigen Arzneimitteln gewarnt. Außerdem könnten durch Engpässe bei Tierarzneimitteln Seuchen entstehen. Und auch die Finanzierung der Versorgung von Briten in der EU und von EU-Bürgern in Großbritannien wäre komplett ungeregelt.

Am 31. Oktober soll Großbritannien aus der EU austreten. Wie dieser Austritt organisiert werden soll, ist aber weiterhin völlig unklar. Denn das britische Parlament und Premierminister Boris Johnson finden weiterhin keinen gemeinsamen Weg. Johnson würde Ende Oktober zur Not auch ohne Deal aus der EU austreten, das will das Parlament aber nicht und hat ein entsprechendes Gesetz beschlossen, dass einen No-Deal-Brexit verhindern soll. Zudem hat das Parlament den Premier per Beschluss dazu verpflichtet, ein Dokument zu veröffentlichen, in dem die Regierung mögliche Szenarien formuliert, die im Falle eines No-Deal-Brexits entstehen könnten.

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„Operation Yellowhammer“ ist der Code-Name für die No-Deal-Planung der britischen Regierung. Der Tag eins nach dem Austritt wird in dem Dokument als „D1ND“ („Day one after No Deal“) bezeichnet. In dem sechsseitigen Dokument wird unter anderem vor Protesten und Störungen der öffentlichen Ordnung gewarnt, die eine „erhebliche Menge“ der Polizeikräfte in Anspruch nehmen würden. Grundsätzlich wird erklärt, dass Großbritannien ab dem 1. November aus Sicht der EU-Staaten ein Drittstaat ist – mit allen Konsequenzen.

Eine dieser Konsequenzen dürfte laut dem Papier sein, dass Frankreich am Ärmelkanal verpflichtende Zollkontrollen für alle Güter aus dem Vereinigten Königreich einführt. Dafür müsse aber erst eine technische Infrastruktur eingerichtet werden. Die Briten rechnen damit, dass „50 bis 85 Prozent aller LKWs, die über den Ärmelkanal wollen, vom französischen Zoll nicht akzeptiert werden“. Hinzu komme, dass es auf französischer Seite in den Häfen nicht genug Platz gebe, um LKWs zwischenzuparken, die auf eine Zollerlaubnis warten. Die Häfen und der flüssige Verkehr könnten auf beiden Seiten „blockiert“ werden. Im schlimmsten Fall müssten LKWs demnach bis zu 2,5 Tage warten, bis sie entweder nach Frankreich oder nach Großbritannien übersetzen können.

40 Prozent weniger Lieferverkehr

Die britische Regierung rechnet demnach damit, dass die „Überquerungsrate“ im Ärmelkanal („Flow rate“) bis zu sechs Monate lang nur 40 Prozent der derzeitigen Liefer-Rate betragen könnte. „Wenn das nicht abgemildert wird, wird dies einen Einfluss auf die Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung haben“, heißt es weiter. In dem Dokument wird erklärt, dass insbesondere Arzneimittel-Lieferungen auf eine zügige Überquerung des Ärmelkanals angewiesen sind, sie seien „besonders empfindlich“ was Verspätungen betrifft. Schließlich seien die Versorgungsketten stark reguliert, weil man sich beim Transport an Richtlinien halten muss (Good Distribution Practice). Insbesondere bei Produkten, die unter einer bestimmten Temperatur geliefert werden müssen, seien die Transitzeiten limitiert. Manche Produkte könnten einfach nicht so lange gelagert werden, heißt es weiter.

Tierkrankheiten, Rezeptbelieferung, Behandlungskosten

Ein besonderes Augenmerk wirft die Regierung offenbar auf Tierarzneimittel. „Jegliche Störung, die die Versorgung mit Tierarzneimitteln im Königreich reduziert, verspätet oder gar ganz aussetzt, würde die Möglichkeiten reduzieren, Krankheitsausbrüche zu verhindern oder sie zu kontrollieren.“ Krankheitsausbrüche bei Tieren könnten sich auch auf Menschen auswirken, wird weiter erklärt.

Sehr deutlich weist die Regierung auch darauf hin, dass Briten von einem Tag auf den anderen ihre europäische Bürgerschaft verlieren. Damit „assoziierte Rechte und Ansprüche auf Dienstleistungen“ werden somit wegfallen. Und auch hier wäre die Gesundheitsversorgung betroffen. „Rentner, Arbeiter, Reisende und Studenten aus dem Königreich werden andere Wege finden müssen, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu finden“, heißt es. Ein Beispiel: Apotheken in allen EU-Staaten müssen Verordnungen, die von Ärzten aus anderen Mitgliedstaaten stammen, beliefern. Diese Verpflichtung fiele dann weg.

Rentnern, Studenten, Reisenden und Arbeitern in der EU drohen Nachteile

Menschen aus dem Königreich, die sich – etwa wegen eines Fernstudiums – länger in der EU aufhalten, werden wohl alternative Wege der Krankenversicherung benötigen, darunter auch private, kostspielige Versicherungen, heißt es weiter. Zur Notfallversorgung heißt es: „Die EU-Mitgliedstaaten sollten Menschen mit dringenden Bedürfnissen helfen, sie könnten sie aber danach direkt zur Zahlung verpflichten. Daher besteht das Risiko einer Versorgungsunterbrechung und einer Minderheit drohen erhebliche Kosten.“

Mit den Veröffentlichungen bleibt die Regierung weit hinter den Forderungen des Parlaments zurück. Die Abgeordneten hatten am Montag, kurz vor dem Beginn einer von Johnson auferlegten fünfwöchigen Zwangspause, die Herausgabe sämtlicher Dokumente zu den No-Deal-Planungen verlangt. Zudem forderten sie die komplette Korrespondenz dazu an, inklusive E-Mails und Kurznachrichten wichtiger Regierungsmitarbeiter und Berater. Staatsminister Michael Gove wies die Forderung als „unangemessen und unverhältnismäßig“ zurück. Die Regierung müsse die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter schützen.



Benjamin Rohrer, Chefredakteur DAZ.online
brohrer@daz.online


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