MS bei Kindern

G-BA bestätigt Zusatznutzen für Fingolimod

Bonn / Stuttgart - 03.07.2019, 12:45 Uhr

Kinder mit hochaktiver oder schwer und rasch verlaufender remittierend schubförmiger MS können von Fingolimod im Vergleich zu Interferon profitieren. (m / Foto: ustas / stock.adobe.com)

Kinder mit hochaktiver oder schwer und rasch verlaufender remittierend schubförmiger MS können von Fingolimod im Vergleich zu Interferon profitieren. (m / Foto: ustas / stock.adobe.com)


Novartis erhielt im November 2018 eine Zulassungserweiterung für Fingolimod (Gilenya): Seither darf Fingolimod auch bei Kindern ab zehn Jahren mit hochaktiver schubförmig-remittierender multipler Sklerose (RRMS) eingesetzt werden. Der G-BA hat nun den Zusatznutzen für Fingolimod gegenüber Interferon beta-1a bestätigt – für Kinder mit hochaktiver RRMS unter krankheitsmodifizierender Behandlung, für die ein Wechsel innerhalb der Basistherapeutika angezeigt ist, und für therapienaive Kinder mit schwerer, rasch fortschreitender RRMS.

Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren, die an hochaktiver schubförmig-remittierender multipler Sklerose (RRMS, relapse-remitting multiple sclerosis) leiden, dürfen seit November 2018 mit Fingolimod behandelt werden. Die Europäische Kommission erweiterte letztes Jahr die Zulassung von Gilenya® für diese Patientengruppe. Bis dato war der der Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator nur für Erwachsene mit hochaktiver schubförmiger MS indiziert. In den USA ist Fingolimod schon seit Mai 2018 für pädiatrische MS-Patienten zugelassen. Kindern, die weniger als 40 Kilogramm wiegen, steht Gilenya® 0,25 mg zur Verfügung. Alle übrigen Kinder und Jugendlichen dürfen mit Gilenya® 0,5 mg therapiert werden.

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Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte sich nun mit der Nutzenbewertung des Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulators beschäftigt. Im Falle von Gilenya® ging es nicht um ein Arzneimittel mit neuem Wirkstoff, sondern um ein neues Anwendungsgebiet: Pädiatrische Patienten mit hochaktiver schubförmig-remittierender multipler Sklerose. Der G-BA veröffentlichte seine Entscheidung hierzu am 20. Juni 2019.

Wenig Optionen bei pädiatrischer MS

Grundsätzlich sind die Therapiemöglichkeiten bei der pädiatrischen MS überschaubarer als bei erwachsenen Patienten mit multipler Sklerose. Zugelassen sind neben Fingolimod auch Azathioprin, Glatirameracetat (Copaxone®, Clift®) Interferon beta-1a (Rebif®)und Interferon beta-1b (Betaferon®). Um als medikamentöse zweckmäßige Vergleichstherapie im Sinne des G-BA in Betracht zu kommen, muss das Arzneimittel grundsätzlich eine Zulassung für das Anwendungsgebiet haben. Der G-BA setzte als Basistherapeutika die Präparate Interferon beta-1a (intramuskulär), Interferon beta-1b (intramuskulär) und Glatirameracetat (oral) fest.

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Sprechen Kinder auf ein Basistherapeutikum nicht ausreichend an und zeigen trotz einer krankheitsmodifizierenden Therapie eine hochaktive Verlaufsform, ist ein Wechsel innerhalb der Basistherapeutika möglich.

Der G-BA definierte:

  • Kinder mit hochaktiver RRMS unter mindestens einer krankheitsmodifizierender Therapie, für die ein Wechsel innerhalb der MS-Basistherapeutika infrage kommt (Patientengruppe a2) und
  • Kinder mit hockaktiver RRMS, die noch keine krankheitsmodifizierende MS-Therapie (therapienaiv) erhalten haben (Patientengruppe b1).

Hochaktive RRMS: Fingolimod verzögert Zeit bis zum ersten Schub

Für diese beiden Subgruppen legte Hersteller Novartis geeignete Daten vor (PARADIGMS). Für Kinder mit hochaktiver RRMS unter mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie, für die ein Wechsel innerhalb der MS-Basistherapeutika infrage kommt (a2), konnte Novartis im Morbiditätsendpunkt „bestätigte Krankheitsschübe“ für Fingolimod im Vergleich zu Interferon beta-1a (intramuskulär) einen statistisch signifikanten Vorteil für die Zeit bis zum ersten bestätigten Schub zeigen.

Jährliche Schubrate gleich unter Fingolimod und Interferon

Im Endpunkt „jährliche Rate bestätigter Schübe“ zeigt sich hingegen kein statistisch signifikanter Unterschied. Somit kommt der G-BA zum Ergebnis: „Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“. Denn der Endpunkt „Zeit bis zum ersten bestätigten Schub“ erlaube keine Rückschlüsse auf die Anzahl der jährlichen Schübe, diese seien jedoch für die Patienten für die Beurteilung der Krankheitsschübe von hoher Bedeutung. Daher kann der G-BA den Vorteil der „Zeit bis zum ersten bestätigten Schub“ nicht quantifizieren.

Wie wirkt Fingolimod?

Fingolimod zählt zu den selektiven Immunsuppressiva. Als Prodrug wird Fingolimod durch die Sphingosin-Kinase zum aktiven Metaboliten Fingolimod-Phosphat metabolisiert. Es bindet an den Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor (S1P-Rezeptor) auf Lymphozyten und wirkt dort als funktioneller Antagonist und blockiert deren Migration. Dadurch verhindert Fingolimod, dass Lymphozyten aus den Lymphknoten wandern können. Die Wirkung von Fingolimod auf Lymphozyten lässt sich somit eher als Umverteilung von Lymphozyten beschreiben als durch eine Depletion. Aufgrund des Festhaltens der Lymphozyten in den Lymphknoten sollen auch weniger pathogene Lymphozyten (Th17-Zellen) das Zentralnervensystem infiltrieren, die dort neuronale Entzündungen und Nervendestruktion fördern. Letzteres konnte in tierexperimentellen Studien gezeigt werden. Nach Gabe von Fingolimod (oral) sinkt bereits nach wenigen Stunden die Lymphozytenzahl im Blut auf 75 Prozent des Ausgangswertes. Gilenya® wirkt vorwiegend auf Lymphozyten (B- und T-Lymphozyten), die regelmäßig durch die Lymphknoten zirkulieren, wohingegen T-Lymphozyten mit Effektor-Memory-Phänotyp in den peripheren Geweben nicht beeinflusst werden (15 bis 20 Prozent).

Darüber hinaus kann Fingolimod-Phosphat auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden und dort direkt an den S1P-Rezeptor auf Nervenzellen binden.

Wenige Kinder in Studie – reduzierte Aussagekraft

Warum nur „Anhaltspunkt“? Auch hier kann der G-BA begründen: Von der PARADIGMS-Studie mit 215 pädiatrischen MS-Patienten erfüllte nur eine kleine Subpopulation (20 Kinder mit RRMS, hochaktiver Verlauf und Wechsel innerhalb der Basistherapeutika) die Kriterien des G-BA. „Die für die Nutzenbewertung relevante Teilpopulation umfasst somit eine sehr geringe Patientenzahl, weshalb die Aussagekraft der vorliegenden Daten insgesamt mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine Einstufung der Aussagesicherheit auf einen „Anhaltspunkt.“

Schwere RRMS: Fingolimod reduziert jährliche Schubrate im Vergleich zu Interferon bei Therapienaiven

Bei der Patientengruppe b1 – rasch fortschreitende, schwere RRMS (definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr und mit einem oder mehr Gadolinium-anreichernden Läsionen im MRT des Gehirns oder mit einer signifikanten Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlich durchgeführten MRT), therapienaiv – anerkennt der G-BA ebenfalls einen „Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“. In diesem Punkt geht der G-BA sogar über die Einschätzung des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) hinaus.

Im Unterschied zur Subpopulation a2 (hochaktive RRMS) zeigen die Kinder der Subpopulation b1 (rasch fortschreitende schwere RRMS) eine Behinderungsprogression, auch hatten sie bislang keine therapiemodifizierenden Arzneimittel bekommen. Für den Studieneinschluss waren mindestens zwei Schübe in den letzten zwölf Monaten und mindestens eine Gd-Läsion Bedingung. Auch eine Verschlechterung des EDSS-Wertes (Expanded Disability Status Scale) um mindestens 1 wurde gefordert, jedoch konnten nicht genau Rückschlüsse gezogen werden, in welchem Zeitraum die Behinderungsprogression auftrat. 29 Patienten entsprachen in der PARADIGMS diesen Anforderungen.

Was ist der EDSS?

Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit multipler Sklerose. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systeme (FS) des Körpers:

  • Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
  • Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
  • Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
  • Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
  • Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
  • Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
  • Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz

Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS null (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS zehn (Tod durch MS).

Kein Unterschied in der Behinderungsprogression, aber Verbesserung der Behinderung

Laut G-BA gab es einen statistisch signifikanten Vorteil von Fingolimod im Vergleich zu Interferon beta-1a in der „jährlichen Rate bestätigter Schübe“. Es zeigte sich kein Unterschied in der Behinderungsprogression, jedoch in der „Verbesserung der Behinderung“. Das Fazit des G-BA: „Vor dem Hintergrund, dass nicht mit ausreichender Sicherheit belegt ist, dass die Behinderungsprogression bei den eingeschlossenen Kindern und Jugendlichen innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate aufgetreten ist und diese damit der Zielpopulation vollumfänglich entsprechen, bestehen Unsicherheiten in dem Ausmaß, dass die Vorteile in den Endpunkten „jährliche Schubrate“ und „Verbesserung der Behinderung“ nicht abschließend beurteilt werden können. Das Ausmaß des Zusatznutzens ist somit für die relevante Zielpopulation nicht quantifizierbar.“

Keine Studien für Alemtuzumab & Co bei Kindern

Für zwei weitere Subpopulationen konnte der G-BA keinen Zusatznutzen von Fingolimod verglichen mit der etablierten Vergleichstherapie feststellen – und zwar, wenn bei RRMS-Kindern mit hochaktiver oder rasch fortschreitender schwerer Form, die Basistherapeutika nicht ausreichen und eine Eskalation der Therapie angezeigt ist. Diese Patienten waren in der PARADIGMS-Studie nicht abgebildet.

Grundsätzlich besteht eine Diskrepanz zwischen in der Indikation zugelassenen und in der Versorgung verwendeten und in den Leitlinien empfohlenen Arzneimitteln. Tatsächlich dürfen Alemtuzumab (Lemtrada®), Natalizumab (Tysabri®), Ocrelizumab (Ocrevus®) ausschließlich bei erwachsenen Patienten eingesetzt werden. Ebenso Cladribin (Mavenclad®), Dimethylfumarat (Tecfidera®) und Teriflunomid in Aubagio®.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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