Frühe Programmierung des Immunsystems

Wer als Kind schon anfällig war, wird auch später leichter krank

Remagen - 12.06.2019, 10:15 Uhr

Einer aktuellen Untersuchung zufolge werden aus gesunden Kindern auch gesunde Erwachsene. (c / Foto: Julie LEGRAND / stock.adobe.com)                                                                                              

Einer aktuellen Untersuchung zufolge werden aus gesunden Kindern auch gesunde Erwachsene. (c / Foto: Julie LEGRAND / stock.adobe.com)                                                                                              


Traumatisierte Kinder und Kinder mit mehreren Allergien leiden im Erwachsenenalter eher an chronischen Entzündungskrankheiten und psychischen Störungen. Dies geht aus einer Studie der Universitäten Zürich und Lausanne hervor. Wissenschaftler haben hierzu eine Kohorte von mehreren tausend Personen analysiert und im Ergebnis auch die Hygienehypothese erneut bestätigt.

Bekanntermaßen wird das Immunsystem bereits in der Kindheit geformt. Eine bessere Hygiene, Veränderungen in der Landwirtschaft und die Verstädterung haben dazu geführt, dass es heute mit manchen Mikroben weniger oft oder erst später im Leben konfrontiert wird, als das früher der Fall war. Dies besagt die sogenannte Hygienehypothese. Wissenschaftler vermuten, dass chronisch entzündliche Erkrankungen, Allergien und psychische Erkrankungen wie Depressionen aufgrund dieser Entwicklung zunehmen.

Fünf immunologische Gruppen charakterisiert

Ausgehend von der Hygienehypothese hat ein interdisziplinäres Forscherteam der Universitäten Zürich (UZH) und Lausanne bestimmte epidemiologische Daten einer Kohorte von knapp 5.000 Personen analysiert, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts geboren worden waren. Die Ergebnisse ihrer Studie hat die Wissenschaftlergruppe in „BMC Medicine“ publiziert.

Im Fokus ihrer Datenerhebung stand das Zusammenfallen von Allergien, viralen und bakteriellen Krankheiten sowie psychosozialen Belastungen in der Kindheit. Erfasst wurde das Vorkommen von Windpocken, Masern, Mumps, Röteln, Keuchhusten, Scharlach, Heuschnupfen, Asthma, Ekzemen, Nesselsucht sowie Arzneimittelallergien und Gewalt in der Familie beziehungsweise sonstiger Traumata in der Kindheit. Aus den frühen Krankheitsmustern filterten die Forscher fünf unterschiedliche Gruppen heraus: neutral, resilient, atopisch, gemischt und traumatisiert. Diese wurden mit Hilfe biologischer Marker (Leukozyten, Entzündungsmarker) näher charakterisiert.

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80 Prozent mit einem neutralen oder resilienten Immunsystem

Es zeigte sich, dass knapp 60 Prozent der untersuchten Personen ein unauffälliges, „neutrales“ Immunsystem hatten. Die Krankheitsbelastung der hierzu gehörenden Menschen wird als vergleichsweise niedrig beschrieben. Die zweitgrößte Gruppe mit über 20 Prozent der Personen wies ein besonders widerstandsfähiges, „resilientes“ Immunsystem auf. Selbst Symptome typischer Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps oder Röteln, die bei „Nachkriegskindern“ quasi unvermeidbarer waren, traten in dieser Gruppe deutlich weniger auf als in der neutralen Gruppe. Die entsprechenden Impfkampagnen waren erst in den 60er und 70er Jahren gestartet worden.

Hygienehypothese bestätigt

Die drei anderen Gruppen waren erheblich kleiner. Die „atopische“ Gruppe (7 Prozent) wies mehrere allergische Erkrankungen auf. Die etwa gleich große „gemischte“ Gruppe (rund 9 Prozent) hatte einzelne allergische Erkrankungen, zum Beispiel Medikamentenallergien, sowie bakterielle und mit Hautausschlägen einhergehende Kinderkrankheiten (zum Beispiel Scharlach, Keuchhusten oder Röteln). In die kleinste der fünf Gruppen (rund 5 Prozent) wurden Personen eingeordnet, die in der Kindheit traumatisiert worden waren. Sie waren nach der Beschreibung der Forscher zwar anfälliger gegen allergische Erkrankungen, reagierten jedoch bei typischen viralen Kinderkrankheiten vergleichsweise resilient. Soweit zur Situation der Personen im Kindesalter.

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Chronisch entzündet

Mehr Atopiker unter Jüngeren

Zunächst fanden die Wissenschaftler durch vergleichende Analysen die Hygienehypothese bestätigt, wie der Erstautor der Studie Vladeta Ajdacic-Gross in einer Medienmitteilung der UZH betont. Sie stellten nämlich fest, dass die neutrale und die resiliente Gruppe bei älteren Jahrgängen häufiger vertreten sind als bei jüngeren. Anderes herum ausgedrückt: Kinder, die später geboren wurden, haben nicht mehr so ein leistungsfähiges Immunsystem wie früher. Außerdem hat die atopische Gruppe bei den jüngeren Jahrgängen zugenommen.

Unterschiede hinsichtlich der späteren Gesundheit

Die Forscher gingen aber noch über die Verifizierung der Hygienehypothese hinaus und wollten wissen, ob die immunologische Charakterisierung der Personen mit chronischen Entzündungskrankheiten oder psychischen Störungen im Erwachsenenalter in Verbindung stand. Tatsächlich beobachteten sie zwischen den Gruppen Unterschiede hinsichtlich der späteren Gesundheit. So waren Personen aus der resilienten Gruppe im Erwachsenenalter nicht nur vor chronischen Entzündungskrankheiten besser geschützt, sondern auch vor psychischen Beschwerden. Wer hingegen der atopischen oder der gemischten Gruppe angehörte, war später anfälliger, und zwar sowohl körperlich als auch psychisch. Auch die Gruppe mit kindlichen Traumata wies im Erwachsenenalter eine höhere Anfälligkeit für psychische Erkrankungen auf. Ein höheres Risiko für chronische Entzündungskrankheiten zeigte sich in dieser Gruppe, allerdings nur bei den Frauen.

Welche Erkenntnis ist neu?

Dies sei die erste Studie, mit der immunvermittelte Klassen, die sich schon in der frühen Kindheit entwickeln, umfassend charakterisiert würden, betonen die Autoren. „Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Immunsystem wie eine Schaltstelle zwischen somatischen und psychischen Prozessen funktioniert“, erklärt Ajdacic-Gross. „Sie helfen uns zu verstehen, weshalb auch viele Menschen ohne psychosoziale Vorbelastungen von psychischen Beschwerden eingeholt werden und weshalb umgekehrt traumatisierte Personen zu chronischen Entzündungskrankheiten neigen.“



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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