Wegen „eines beispiellosen Aufschwungs“

WHO drängt Europa zu mehr Konsequenz bei Masernimpfung

Remagen - 16.05.2019, 10:15 Uhr

Zwei Masernimpfungen braucht es für einen sicheren Schutz. (m / Foto: DAZ.online)

Zwei Masernimpfungen braucht es für einen sicheren Schutz. (m / Foto: DAZ.online)


In der Europäischen Region der WHO sind innerhalb von 14 Monaten über 100.000 Menschen an Masern erkrankt. Die Weltgesundheitsorganisation will deshalb noch einen Zahn zulegen, um die nach wie vor unbefriedigende Immunisierungsrate zu steigern. Bundesgesundheitsminister Spahn rennt also mit seinem beabsichtigten Gesetz zur Masernimpfpflicht offene Türen ein. Viele Länder in Europa setzen allerdings bisher auf Freiwilligkeit.

Die WHO verstärkt ihre Reaktion auf die anhaltenden Masernausbrüche in der Europäischen Region. Sie ist davon überzeugt, dass die alarmierende Ausbreitung der Infektionskrankheit durch die fortbestehenden Nischen nicht- oder unterimmunisierter Personen in vielen Ländern angeheizt wird. 

Nach jüngsten Angaben des WHO-Regionalbüros für Europa haben seit dem 1. Januar 2018 47 der 53 Länder der Region über 100.000 Masernfälle und mehr als 90 masernbedingte Todesfälle gemeldet. „Wir haben einen beispiellosen Aufschwung bei Menschen beobachtet, die an dieser vermeidbaren Krankheit erkrankt sind, und zu viele sind dabei ums Leben gekommen“, sagt Dorit Nitzan, Regionale Notfalldirektorin beim WHO-Regionalbüro für Europa. Nitzan spricht von einer inakzeptablen Situation. Für den Direktor für übertragbare Krankheiten beim WHO-Regionalbüro Masoud Dara ist das alarmierende Wiederaufleben ein Warnzeichen dafür, dass die Abdeckung der Immunisierung in der Region noch nicht ausreicht.

34.300 Masernfälle in zwei Monaten

Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2019 wurden in 42 Ländern der Europäischen Region der WHO 34.300 Masernfälle gemeldet, darunter 13 Todesfälle in drei Ländern (Albanien, Rumänien und Ukraine). Mit mehr als 25.000 Fällen (>70 Prozent) stammt die weitaus größte Zahl der Fälle aus der Ukraine.  

Im Jahr 2018 sollen in der europäischen Region insgesamt 83.540 Masernfälle und 74 Todesfälle angefallen sein. Zum Vergleich: 2017 waren es 25.869 Fälle und 42 Todesfälle und 2016 5.273 Fälle und 13 Todesfälle. Damit hat sich die Zahl der Erkrankten im letzten Jahr gegenüber 2017 mehr als verdreifacht, und die Zahl der Todesfälle fast verdoppelt.

In acht Ländern wurden in 2018 jeweils über 2.000 Fälle gemeldet, allen voran in der Ukraine (n = 53.218), Serbien (n = 5.076), Israel (3.140), Frankreich (n = 2.913) und Italien (n = 2.668). Die meisten Fälle traten bei ungeimpften oder untergeimpften Personen auf.

Auch in Deutschland endemisch

Nach Daten aus dem Jahr 2017 sollen die Masern laut dem jüngsten Bericht der Europäischen Kommission für die regionale Überprüfung der Beseitigung von Masern und Röteln (RVC) in zehn Ländern, darunter Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Rumänien und die Russische Föderation, endemisch sein. Und das, obwohl die Europäische Region in 2017 mit 90 Prozent die höchste geschätzte Abdeckung für die zweite Impfdosis gegen Masern erreichte. Betrachtet man den kumulativen Zeitraum von Februar 2016 bis Januar 2019, so gehört Deutschland neben Rumänien, Italien, Frankreich, Griechenland und Großbritannien zu den sechs Ländern, auf die 90 Prozent der Masernerkrankungen entfielen.

WHO ermahnt die Länder der europäischen Region

Nach dem Europäischen Impfstoffaktionsplan 2015-2020 (EVAP) müssen mindestens 95 Prozent aller Menschen in jeder Bevölkerung durch zwei Impfdosen oder vorherige Exposition gegenüber dem Virus immun sein, um den Schutz der Gemeinschaft für alle zu gewährleisten. Die 53 Mitgliedstaaten der Europäischen Region der WHO haben den EVAP zwar einstimmig angenommen, aber an der praktischen Umsetzung hapert es noch. Die WHO appelliert deshalb nachdrücklich an die Gesundheitsbehörden der Länder: Sie sollen anfällige Personen und Bevölkerungsgruppen identifizieren und erwägen, Nachhol- oder zusätzliche Impfaktivitäten durchzuführen, um Immunitätslücken zu schließen. 

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Jede Gelegenheit sollte genutzt werden, um anfällige Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu impfen, so die Forderung. Dabei sollte auch an anfällige Personen gedacht werden, die in Länder reisen möchten, in denen Masern endemisch sind und Ausbrüche andauern. Erklärte Ziele sind eine konstant hohe routinemäßige Impfrate (≥ 95 Prozent) und das Schließen von Immunitätslücken in der Bevölkerung.

Zehn Länder mit Masern-Impfpflicht

Nach Angaben des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) besteht in folgenden Ländern eine Impfpflicht für Masern: Bulgarien, Frankreich, Italien, Kroatien, Lettland, Tschechische Republik, Polen, Slowakei, Slowenien und Ungarn, während mehr als zwanzig Länder, darunter neben Deutschland auch Benelux, Dänemark, Großbritannien, Österreich, Spanien und die skandinavischen Länder, nach wie vor auf Programme mit Freiwilligkeit setzen. Gesundheitsminister Spahn gehört also mit seinem Gesetzesvorstoß zur Masern-Impfpflicht zwar nicht unbedingt zu den Vorreitern einer härteren Gangart. Unter den Ländern mit einem eher höher entwickelten Gesundheitswesen im Norden und Westen/Südwesten Europas würde er aber zusammen mit Frankreich durchaus einen neuen Standard setzen. Die meisten Länder mit Masern-Impfpflicht verfügen übrigens darüber hinaus über ein breiteres Portfolio mit rund zehn verpflichtenden Impfungen. Masern sind aber nicht nur in Europa, sondern weltweit eine Gefahr.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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