Beratungsquickie

Blähungen, Säuglingskolik oder Schreibaby: Was helfen könnte

Stuttgart - 05.04.2019, 14:15 Uhr

Geballte Fäustchen, gerötetes Gesicht, schreiendes Baby: Hat es Schmerzen, also die berühmten Dreimonatskoliken? Zieht es die Beine so an, weil es Blähungen hat? Oder kann es sich einfach noch nicht selbst beruhigen? (Foto: Youlaangel / stock.adobe.com)

Geballte Fäustchen, gerötetes Gesicht, schreiendes Baby: Hat es Schmerzen, also die berühmten Dreimonatskoliken? Zieht es die Beine so an, weil es Blähungen hat? Oder kann es sich einfach noch nicht selbst beruhigen? (Foto: Youlaangel / stock.adobe.com)


Früher dachte man, dass Luft im Bauch von Säuglingen Blähungen und Bauchschmerzen verursacht – und so aus liebenswerten Babys sogenannte Schreibabys macht. Heute gehen Kinderärzte davon aus, dass die Luft im Bauch eine Folge des Luftschluckens während des Schreiens ist. Deshalb spricht man nicht mehr von den berühmten Dreimonatskoliken, sondern von einer „Regulationsstörung“. Können Simeticon und Co. aus der Apotheke also gar nicht helfen? Haben die Babys wirklich keine Darmprobleme?

Laut dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) sprechen Experten heutzutage nicht mehr von Dreimonatskoliken, wenn ein gesundes Baby exzessiv weint, aber nach drei Monaten wieder damit aufhört. Oft werden solche Säuglinge auch als „Schreibabys“ bezeichnet. Tatsächlich soll es sich um Kinder mit einer „Regulationsstörung“ handeln. Diese schreien an mindestens drei Tagen der Woche je mehr als drei Stunden aus unerklärlichen Gründen und lassen sich kaum beruhigen. Gerade wenn es das erste Kind ist, sind die Eltern schnell überfordert, haben Schuldgefühle und befürchten, dass die Schreibabys auch als Kleinkinder Verhaltensauffälligkeiten zeigen könnten. Eine Erklärung wie Blähungen für das Verhalten der Kinder sehnt man sich da fast herbei. Doch wie es scheint, weiß die Wissenschaft nicht, was es wirklich mit den vermeintlichen Dreimonatskoliken auf sich hat. Beruhigen kann sie die Eltern dennoch, etwa mit einer australischen Studie vom Juni 2018. In dieser Studie sei nämlich gezeigt worden, dass Schreibabys keine anhaltenden Verhaltensprobleme zeigen würden. Die „Koliken“ oder wie man heute sagt „Regulationsstörungen“, was auch immer sie sind, klingen also nach wenigen Monaten ab.

Welche Präparate die Apotheke bietet

Bevor man sich also möglichen Behandlungsversuchen aus der Apotheke zuwendet, scheint diese Botschaft die wichtigste in der Beratung der Eltern von Schreibabys zu sein: Es geht vorbei, also nicht verzweifeln – und gerne auch Hilfe suchen, wenn die Nerven blank liegen! Denn es soll Assoziationen zwischen Säuglingskoliken und dem Auftreten von Postpartalen Depressionen sowie Schütteltraumata geben. Im Internet lassen sich beispielsweise „Schreibabyambulanzen“ verschiedener Anbieter finden. 

Soweit die guten Nachrichten. Die schlechte Nachricht, auch für die Beratung in der Apotheke, laut BVKJ ist: Therapien wie Entblähen, Tees und so weiter helfen nicht. Liegt das daran, dass hinter den vermeintlichen Koliken keine Blähungen sondern Regulationsstörungen stecken?

Regulationsstörungen: Eine natürliche Entwicklung mit Licht am Ende des Tunnels?

In der Leitlinie „zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (S2k)“ werden auch „Regulationsstörungen“ behandelt. Ein Blick in die Leitlinie verrät aber, dass sich auch hinter diesem neuen Begriff weiterhin viel Forschungsbedarf versteckt. So steht dort etwa: „Eine Diagnose bei jungen Säuglingen (0-6 Monaten) muss zurückhaltend gestellt werden, da regulatorische Probleme sehr häufig sind, zeitlich beschränkt auftreten und als normales Entwicklungsphänomen aufzufassen sind.“

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schreibt auf kindergesundheit-info.de zwar noch von Dreimonatskoliken, erklärt aber auch, dass die Ursache bis heute nicht eindeutig geklärt ist. Was auch immer also dahinter steckt: Die Eltern brauchen Rat, wie sie die Kleinen beruhigen können – nicht medikamentöse Maßnahmen sind hier die erste Wahl.

Auf der Internetseite des National Health Service (NHS) in England findet man Tipps, was man tun kann, um sein Baby zu beruhigen, wenn es vermeintlich an Säuglingskoliken leidet:

  • Baby halten und mit ihm kuscheln
  • Baby während dem Stillen aufrecht halten, damit es möglichst wenig Luft schluckt
  • Baby nach dem Stillen wickeln
  • Baby über die Schulter legen und sanft schaukeln
  • Baby im Bettchen wiegen oder im Kinderwagen umherschieben
  • Baby warm baden
  • Angenehme Hintergrundgeräusche wie Radio oder Fernseher können ablenken und beruhigen
  • Babys wie gewohnt füttern

Dort werden auch medikamentöse Maßnahmen wie Anti-Kolik-Tropfen (wie Simeticon) sowie pflanzliche und probiotische Präparate erwähnt. Dass diese Abhilfe schaffen, dazu soll es jedoch nur sehr wenig Evidenz geben. Das gleiche gelte für den Verzicht auf gewisse Nahrungsmittel, wenn Frauen stillen. Der Ausschluss einer Kuhmilch- oder Sojaeiweiß-Allergie erscheint jedoch sinnvoll. Stillende Frauen sollten bezüglich ihrer Ernährung aber nicht verunsichert werden und weiterhin ausgewogen essen

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Da die betroffenen Säuglinge oft ihre Beine anziehen, als hätten sie Schmerzen, kann es sich als schwierig erweisen, die Eltern davon zu überzeugen, dass ihr Baby keine Blähungen hat. Jedoch soll es in der jüngeren Vergangenheit keine Evidenz dazu gegeben haben, dass Darmprobleme dem Verhalten zugrunde liegen. Neuere Studien scheinen aber doch Hinweise auf Entzündungsprozesse im Darm und Unterschiede im Mikrobiom bei Babys mit und ohne Koliken zu geben. 

Stecken doch Darmprobleme dahinter? Welche Präparate aus der Apotheke helfen

Eine australische Leitlinie des „Royal Children’s Hospital Melbourne“ erklärt, dass die aus der Apotheke bekannten Simeticon-Tropfen sich im Vergleich zu Placebo nicht auf das Weinen der Babys auswirken. Auch andere, vor allem im englischsprachigen Raum übliche Zubereitungen wie „gripe water“, die heutzutage aus Pflanzenextrakten wie Kamille, Fenchel, Melisse und Ingwer bestehen, sollen keine nachgewiesene Linderung bringen. Hier gilt außerdem Vorsicht, weil „gripe water“ ganz unterschiedlich zusammengesetzt sein kann. Früher soll sogar Alkohol enthalten gewesen sein. 

Simeticon und Protonenpumpenhemmer: unwirksam

Etwas ausführlicher auf die medikamentösen Maßnahmen ging ein Artikel im Journal der „American Academy of Family Physicians“ im Jahr 2015 ein. Dort steht ausdrücklich, dass Simeticon und Protonenpumpenhemmer bei der Behandlung von Säuglingskoliken unwirksam sind. Das Journal bezieht sich bei Simeticon auf ein systematisches Review über drei randomisierte kontrollierte Studien.

Probiotika: ja, aber nur bei gestillten Babys

Als Behandlungsmöglichkeiten für gestillte Säuglinge – allerdings nicht bei Formula-Nahrung – werden Probiotika mit Lactobacillus reuteri (Stamm 17938) und die Reduzierung der Aufnahme von mütterlichen Allergenen genannt. Kinder die nicht gestillt werden, könnten davon profitieren, auf eine hydrolysierte Formulanahrung zu wechseln (Verdacht auf Kuhmilchallergie).

Auch ein australisches Review vom August 2018 beschreibt Lactobacillus reuteri als einzige medikamentöse Maßnahme, die einen Versuch wert zu sein scheint. Weltweit hätten mehrere Studien die Wirksamkeit belegt. Es sollen auch keine Nebenwirkungen auftreten, wobei zu beachten ist, dass Langzeiteffekte von Probiotika noch nicht gut erforscht sind. Immerhin könnte die Art der Darmbesiedlung in den ersten Lebensmonaten Auswirkungen auf die spätere Gesundheit haben. 

Babys weinen rund eine Stunde weniger pro Tag

Das oben erwähnte amerikanische Journal bezog sich 2015 auf vier von fünf klinische Studien, die gezeigt hätten, dass der Stamm DSM 17938 von L. reuteri Symptome einer Kolik reduzieren konnte: Zwei Meta-Analysen und ein systematischer Review hätten gezeigt, dass sich die Zeit, in der die gestillten Babys weinten, im Schnitt um 61 Minuten pro Tag reduzieren ließ. Eine Studie fand jedoch sogar einen Anstieg der Beschwerden bei Flaschenkindern durch L. reuteri. Deshalb sollten Kinder, die mit Formula gefüttert werden kein L. reuteri erhalten. 

Ein systematisches Cochrane-Review vom März 2019  hat sich nicht nur L. reuteri sondern generell der Frage gewidmet, ob Probiotika bei Säuglingskoliken helfen können. Dabei sollen Probiotika insgesamt das Weinen der Babys reduziert haben, im speziellen aber L. reuteri.

Für Massagen und pflanzliche Präparate soll es laut dem amerikanischen Journal insgesamt keine Evidenz geben. Pflanzliche Präparate wie Pfefferminz, Fenchel, Kamille usw. sollen in manchen Studien zwar die Dauer des Weinens verkürzt haben. Ein systematischer Review sei jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es weiterer Forschung bedarf, bevor man in diesem Bereich eine Empfehlung aussprechen könne. 

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Im schwedischen Journal Acta Paediatrica wurde von einer Expertengruppe sogar eine Leitiline für den allgemeinen Einsatz von Probiotika bei Kindern erstellt. Die Leitlinie wurde von einem Expertengremium verfasst, das von der European Pediatric Association beauftragt wurde. (Auf die Interessenkonflikte der Autoren sei am Ende der Studie verwiesen: diverse Firmen wie Biogaia, Fresenius Kabi, Danone, Nestlé usw.). Dort liest man wieder: L. reuteri DSM 17938 soll der einzige Stamm sein, der sich bei gestillten Kindern in der Behandlung von Koliken, nicht aber in der Prävention, als wirksam erwiesen hat. Die Dosis sollte mindestens 108 KBE/Tag (keimbildende Einheiten/Tag) betragen und für 21 bis 30 Tage verabreicht werden. Es gebe keine Evidenz für andere Stämme oder Kombinationen.  

Besonders kritisch betrachtet die Leitlinie aber die Qualität der auf dem Markt befindlichen Probiotika, besonders bei Nahrungsergänzungsmitteln, aber auch bei Arzneimitteln. Weil Ärzte und Apotheker hierauf keinen Einfluss nehmen können, sehen die Experten die Aufsichtsbehörden in der Pflicht. 

Übrigens: Ein weiterer Forschungsansatz verfolgt die Theorie, dass Bauchschmerzen bei Kindern und Säuglingen mit Migräne in Zusammenhang stehen könnten.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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