Interpharm 2019

„Pillenmüde“ – von den Nebenwirkungen der Kontrazeptiva

Stuttgart - 19.03.2019, 16:45 Uhr

Prof. Dr. Martina Düfer von der Universität Münster auf der Interpharm 2019 in Stuttgart: Sie empfiehlt vor der Abgabe oraler Kontrazeptiva auf das Vorliegen depressiver Störungen zu prüfen. (Foto: Matthias Balk)

Prof. Dr. Martina Düfer von der Universität Münster auf der Interpharm 2019 in Stuttgart: Sie empfiehlt vor der Abgabe oraler Kontrazeptiva auf das Vorliegen depressiver Störungen zu prüfen. (Foto: Matthias Balk)


Mit Einführung der „Pille“ in den Sechzigerjahren erhielten Frauen erstmals die Möglichkeit, selbstbestimmt zu verhüten. Heute – knapp 60 Jahre später – wächst bei den potenziellen Anwenderinnen jedoch die Unsicherheit über mögliche gesundheitliche Auswirkungen. Daher nutzte Prof. Dr. Martina Düfer die diesjährige Interpharm, um über Risiken der oralen Kontrazeption aufzuklären und damit jungen Frauen eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen.

Seit Einführung der „Pille“ in den Sechzigerjahren hat sich einiges getan. Waren Frauen früher für die Möglichkeit, ein Studium oder einen Beruf mit Hilfe der Pille ohne Baby-Pause fortführen zu können, einfach nur dankbar, häufen sich heute die kritischen Stimmen zu möglichen gesundheitlichen Folgen. Um Kundinnen in der Apotheke entsprechend zu beraten, gab Prof. Dr. Martina Düfer mit ihrem Vortrag auf der 30. Interpharm in Stuttgart Einblicke in die aktuelle Datenlage zum Nebenwirkungspotenzial oraler Kontrazeptiva.

Mit Hormonen den Eisprung verhindern

Die orale Kontrazeption mithilfe der „Antibabypille“ basiert auf der Zufuhr geringer Mengen an weiblichen Geschlechtshormonen. Durch die Zufuhr an Estrogen- und Gestagen-Derivaten soll die Ovulation und somit eine Befruchtung der Eizelle verhindert werden. Gleichzeitig soll jedoch der Einfluss auf den natürlichen Hormonzyklus möglichst gering ausfallen. Zu diesem Zweck wurden seit den Sechzigern mehrere „Pillen“ entwickelt, die geringere und variierende Hormonkonzentrationen enthalten. So gibt es heute zum Beispiel Mehrphasen-Präparate, die sich in ihrer Estrogen/Gestagen Zusammensetzung im Verlauf eines Einnahmezyklus verändern.

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Nicht ohne Risiken

Trotz der Anpassung an den weiblichen Zyklus beeinflusst die externe Hormonzufuhr zahlreiche Prozesse, die durch Sexualhormone reguliert oder moduliert werden. Somit liegt nahe, dass orale Kontrazeptiva nicht frei von Risiken sein können. Typische Nebenwirkungen sind unter anderem Veränderungen der Libido, Beeinflussung des Körpergewichts, Blutdruckanstieg, depressive Verstimmungen mit Risiko für suizidales Verhalten, erhöhtes Risiko für thromboembolische Krankheiten wie Lungenembolie, Schlaganfall und Herzinfarkt sowie ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs.

Krebsrisiko in der Gesamtbilanz „neutral“

Doch auch wenn diese Nebenwirkungen den Fachinformationen und Packungsbeilagen zu entnehmen sind, die Risiken sind für eine fundierte Entscheidung (für oder gegen die Einnahme) differenziert zu betrachten. Prof. Dr. Martina Düfer wies beispielsweise darauf hin, dass das Nebenwirkungsprofil – ebenso wie der Grad des Verhütungsschutzes – maßgeblich von der Zusammensetzung und der Dosierung der oralen Kontrazeptiva abhängt. So fördern beispielsweise Ethinylestradiol und Gestagene dosisabhängig die Blutgerinnung und erhöhen das Risiko für Thromboembolien. Durch eine Dosisreduktion und den Wechsel auf Estradiol/-valerat (Zoely®, Qlaira®) kann dieser Effekt verringert werden. Unter den Gestagenen zeigen Levonorgestrel, Norethisteron und Norgestimat das geringste thromboembolische Risiko. 

Risiken differenziert betrachten

Für die Beurteilung der Risiken sollte außerdem auf bestehende Risikofaktoren geachtet werden. So ist der Einsatz von oralen Kontrazeptiva bei Thromboembolien in der Vorgeschichte, Diabetes mellitus mit Gefäßschäden, schwerer Hypertonie, Migräne mit neurologischen Symptomen sowie bei Raucherinnen über 35 Jahren kontraindiziert. Patientinnen mit bestehender Hypertonie, Diabetes mellitus, Migräne, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und Raucherrinnen sollten daher bei der Auswahl der Präparate Levonorgestrel den Vorzug geben.

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Für die Beurteilung des Krebsrisikos unter Einnahme der Pille verwies Düfer auf aktuelle Studienergebnisse: Demnach steigt zwar das Risiko für Mamma- und Zervixkarzinome, das Risiko für Endometrium- und Ovarialkarzinome nimmt dagegen jedoch ab. Somit sei die Gesamtbilanz laut Düfer „neutral“. Als Konsequenz empfiehlt sie, besorgten Patientinnen hormonfreie Alternativen aufzuzeigen. Für alle anderen Patientinnen ohne erhöhtes Brustkrebsrisiko sei die Einnahme jedoch als unkritisch zu betrachten. 

Erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten abhängig vom Präparat?

Spätestens seit dem Rote-Hand-Brief im Januar 2019 stellt die Aufklärung über mögliche depressive Störungen und suizidales Verhalten einen wichtigen Aspekt in der Beratung von hormonellen Kontrazeptiva dar. Wie eine dänische Studie aus dem Vorjahr zeigte, verdoppelte sich durch die Anwendung (in der Altersgruppe von 15  bis 19 Jahren) die Zahl der versuchten Selbsttötungen. Das höchste Risiko zeigte sich in den ersten zwei Monaten nach Einnahmebeginn und flachte dann in der Langzeitanwendung wieder ab.  

Wie bereits beim thromboembolischen Risiko erwähnt, unterscheidet sich das Nebenwirkungsprofil der einzelnen Fertigarzneimittel – hier jedoch in umgekehrter Reihenfolge: Kombinationspräparate waren Gestagen-Monopräparaten hinsichtlich der Suizidalität überlegen. Und auch nicht orale Darreichungsformen stellten hinsichtlich dieser Nebenwirkung keine Alternative dar: Denn Vaginalringe und TTS (Transdermal therapeutische Systeme) wiesen sogar das höchste Risiko für Selbsttötungsabsichten auf.

Als Resultat dieser Ergebnisse empfiehlt Düfer, vor der Abgabe oraler Kontrazeptiva auf das Vorliegen depressiver Störungen zu prüfen (z. B. durch Medikationsanalyse) und Kundinnen auf die Selbstbeobachtung der Stimmungslage hinzuweisen.

Auch Interaktionspotenzial beachten

Nicht nur Nebenwirkungen sind in der Beratung zu beachten. Auch Wechselwirkungen spielen bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle. So können Enzyminduktoren wie Rifampicin, Johanniskraut, HIV-Therapeutika, Barbiturate und Antiepileptika die verhütende Wirkung der hormonellen Kontrazeptiva beeinträchtigen. In diesen Fällen sind eine Rücksprache mit dem Arzt sowie eine zusätzliche Barrieremethode (z. B. Kondom) für bis zu 28 Tage nach Absetzen des Enzyminduktors notwendig.

Antibiotika beeinflussen die Darmflora, weshalb die Resorption der weiblichen Hormone gestört und der enterohepatische Kreislauf unterbrochen werden kann. Daher ist auch bei gleichzeitiger Einnahme von Antibiotika mit oralen Kontrazeptiva eine zusätzliche Anwendung einer Barrieremethode anzuraten. 



Nadine Sprecher, Apothekerin, Redakteurin PTAheute.de
redaktion@daz.online


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